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Die Theorie Girards – Versuch einer Verortung

1. gesmaehet und gezieret – Parzival als ambivalente Figur

1.2 Mythostheorie als Instrument der mediävistischen Textanalyse

1.2.1 Die Theorie Girards – Versuch einer Verortung

Neben der Theorie Girards, die das mythische Denken auf ein anthropologisch zentriertes Fundament stellt, und als symbolische Form und gesellschaftsstrukturierendes System greift, mit welchem kollektive, menschliche und nicht extern-natürliche Erscheinungen be-wältigt werden, gibt es noch eine weitere Mythostheorie, die ausgehend von einer Kritik am Mythosbegriff der Psychoanalyse ebenfalls versucht, kollektive Ritualtheorie und subjekt-zentrierte psychoanalytische Mythostheorie zu verbinden. An dieser Stelle soll daher kurz auf diese Theorie eingegangen werden, da sie sich mit ähnlichen Fragestellungen wie Girard be-schäftigt und gleichzeitig ein Bindeglied zu einem eher symboltheoretischen Mythenbegriff darstellt, wie er die Arbeiten Ernst Cassirers bestimmt, der hier ebenfalls zur Beschreibung des mythischen Denkens herangezogen werden soll. Die Rede ist von den Theorien Gilles Deleuze` und Felix Guattaris. Zwischen den Untersuchungen Girards und Deleuze/Guattaris bestehen erstaunliche Parallelen in der Darstellung von kollektiven Mechanismen der My-thenerzeugung.

René Girard baut seine Mythostheorie auf der Hypothese des mimetischen Begehrens auf und setzt sich damit von den Grundannahmen der Psychoanalyse und auch der Anwendung des Ödipusmythos als Analyseinstrument zur Beschreibung des Unbewussten und der Subjektbil-dung ab. Das mimetische Begehren ist dabei als Gegenentwurf zu den Begriffen der Psycho-analyse zu verstehen, welche im Wunsch die Reaktion auf eine Verdrängung oder einen Man-gel sieht. Girard behauptet dagegen die imitative Anziehungskraft des Begehrens selbst, wel-ches Wünsche gar erst entstehen lässt. Das Begehren geht dem Wunsch also voraus, nicht umgekehrt. Girard glaubt nicht an die Verankerung ödipaler, verdrängter Mangel-Strukturen im Menschen. Für ihn sind Wünsche bereits repräsentierende Imitationen von Vorbildern:

"Der Wunsch nach Vatermord und Inzest kann nicht der Gedankenwelt des Kindes entsprin-gen, sondern ist ganz offensichtlich die Idee des Erwachsenen, des Modells."77

Der französische Philosoph Gilles Deleuze und der Lacanschüler Felix Guattari setzen eben-falls bei einer Revision der psychoanalytischen Mythentheorie und dort wie Girard mit einer Kritik der Verwendung und Deutung des Ödipus-Mythos an. In Tausend Plateaus78 und dem Anti-Ödipus verwerfen sie die Anwendung des ödipalen Schemas und entwickeln anhand der Untersuchungen von Schizophrenen eine Theorie zur Subjekt- und Gesellschaftsbildung, die

77 Girard, 1987, 256

78 Gilles Deleuze und Félix Guattari: Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus. Aus dem Französi-schen von Gabriele Ricke und Ronald Voullié. Berlin: Merve Verlag, 1992

sich nicht auf die kompakten Formen des Ich oder des Staates stützt, sondern auch das Ein-brechen von sogenannten `Mannigfaltigkeiten´79 in diese Ordnungen annimmt. Deleu-ze/Guattari widmen sich Massenphänomenen, welche in der Mythentheorie der Psychoanaly-se nicht vorkommen und prägten mit dem Begriff der `Wunschmaschinen´80 eine andere Auf-fassung vom Unbewussten als die Psychoanalyse: Als eine treibende Kraft, die etwas – näm-lich Wünsche – produziert und nicht Ort eines Mangels und der Repräsentation eines Sche-mas, des ödipalen Dreiecks, ist. Deleuze/Guattari und Girard sprechen sich gleichermaßen gegen die Verwendung des ödipalen Schemas zur Beschreibung der Subjektkonstitution aus und werfen der Analyse vor, dass sie mit diesem Modell ausschließlich Singularitäten be-schreibt, nicht aber Massenphänomene: "Was sagt uns die Psychoanalyse zu alle dem? Ödi-pus, immer wieder ÖdiÖdi-pus, denn sie hört nichts und niemandem zu. Sie löscht alles aus, Mas-sen und Meuten, molare und molekulare Maschinen, Mannigfaltigkeiten jeder Art."81 Dabei gehen Deleuze/Guattari davon aus, "dass das Unbewusste selber vor allem eine Masse ist."82 Deleuze/Guattari interessieren sich, wie Girard, für die Prozesse, welche der Mythenbildung als repräsentativer Ordnung vorausgehen.

Für Girard ist es die Krise der Gewalt, ausgelöst durch das mimetische Prinzip des Begehrens, welches die Ordnung des Staates und der Familie auflöst, und in welcher die Individuen durch ihre rivalisierenden, aber auch imitierenden Begehren plötzlich zu zwar gegnerischen, aber durch ihre Gewalttätigkeit austauschbar-ähnlichen Elementen verkommen. Erst das Umschla-gen der reziproken Gewalt aller geUmschla-gen alle in alle geUmschla-gen einen, eine kathartische Ableitung der

79 Deleuze/Guattari, 1992, 45ff

80 Gilles Deleuze und Félix Guattari : Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Aus dem Französischen von Bernd Schwibs. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1977

81 Deleuze/Guattari, 1992, 54

82 Deleuze/Guattari, 1992, 48. Auch C.G. Jung unterscheidet zwar in seiner Auseinandersetzung mit dem Mythos zwischen einem persönlichen Unbewussten und einem kollektiven Unbewussten. Das kollektive Unbewusste sei in sogenannten "Archetypen" organisiert: "Eine gewissermaßen oberflächliche Schicht des Unbewussten ist zweifellos persönlich. Wir nennen sie das persönliche Unbewusste. Dieses ruht aber auf einer tieferen Schicht, welche nicht mehr persönlicher Erfahrung und Erwerbung entstammt, sondern angeboren ist. Diese tiefere Schicht ist das sogenannte kollektive Unbewusste. Ich habe den Ausdruck `kollektiv´ gewählt, weil dieses Unbewusste nicht individueller, sondern ganz allgemeiner Natur ist, das heißt es hat im Gegensatz zur persönlichen Psyche Inhalte und Verhaltensweisen, welche überall und in allen Individuen cum grano salis die gleichen sind." (S. 7) Vgl.: C.G. Jung: Archetypen. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1990. Da-gegen wenden sich Lévi-Strauss und in Anschluss daran auch Deleuze/Guattari, die keine dauerhaft festen Bilder und daran gebundene Bedeutungen des kollektiven Bewusstseins und damit des Mythos als dessen Ausdrucksform annehmen.

Gewalt, stellt die Ordnung wieder her, welche dann durch Rituale und Mythen konserviert und ständig erneuert wird, in welchen das Opfer und die Gewalt verklärt werden. Der ur-sprünglichen Gewalt kommt dabei noch kein mythischer Status zu, wohl aber ihrer ritualisier-ten Wiederholung.

Der Mythos ist für Girard also auf der Seite des Staates, der Genealogie, der Familie, des ge-ordneten, harmonischen gesellschaftlichen Systems zu verzeichnen. Ihm voraus geht eine Zeit, in welcher die Mythen und Opfer als Kondensierung und Fokussierung von Gewalt plötzlich versagt haben. In welcher Unordnung, Chaos, Regellosigkeit und ungebündelte Ge-walt herrschen. In welcher das unbewusste Prinzip des mimetischen Begehrens herrscht und nicht das mythische Prinzip der Kontrolle.

Wie Girard beobachten Deleuze/Guattari kollektive Prozesse unterhalb und außerhalb der mythisch geordneten Einheiten des Ich, der Familie und des Staates, mimetische Verfahren, bei welchen es nicht durch genealogische Versippung, sondern durch `Ansteckung´83 zur Bil-dung einer `Meute´ kommt, zum `Tier-Werden´ des Menschen. Dieser Vorgang ist gekenn-zeichnet durch ein Freiwerden von Affekten, welche das Individuum zugunsten einer homo-genen Masse auflösen: "Denn der Affekt ist kein persönliches Gefühl und auch keine Eigen-schaft mehr, sondern eine Auswirkung der Kraft der Meute, die das Ich in Aufregung versetzt und taumeln lässt. Wer hat nicht die Gewalt dieser Tier-Sequenzen erlebt, die einen, wenn auch nur für einen Augenblick, aus der Menschheit herausreißen [...]"84. Das Tier-Werden hat mit dem Mythos oder Totemismus zu nichts zu tun, welche Deleuze/Guattari als Ausdrucks-formen von Staaten oder Familien verstehen, sondern vollzieht sich in Zusammenrottungen, die diese Institutionen bedrohen. Die Bande oder Meute untergräbt staatliche oder familiäre Komplexe. Sie unterminiert die mythisch strukturierte Welt85.

Deleuze/Guattari beobachten - ähnlich wie Girard - in der Meute ein anomales Außenseiter-tier86, einen Dämon, dessen Position zur Meute sich über ein ambiguöses Verhältnis von Nähe

83 Deleuze/Guattari, 1992, 329: "Vermehrung durch Epidemie, durch Ansteckung, hat nichts mit Abstammung oder Vererbung zu tun, auch wenn beide Themen sich vermischen und voneinander abhängig sind."

84 Deleuze/Guattari, 1992, 328

85 Diese Sichtweise lässt sich in zahlreichen Punkten mit der Theorie Girards vereinbaren, da auch für ihn die entdifferenzierte aufgebrachte Menschenmenge selbst noch nicht mythisch ist, sich ein bestimmter Mythos oder ein totemistisches System erst nach Beendigung der Krise und der Neuordnung des Gemeinschaftswe-sens herausbildet.

86 Deleuze/Guattari, 1992, 332: "Überall wo es eine Mannigfaltigkeit gibt, findet man auch ein außergewöhnli-ches Individuum [...] es gibt den Einzelgängter oder auch den Dämon."

und Distanz, in erster Linie aber Randständigkeit87 definiert. Anders als Girard erkennen sie in diesem Außenseiter aber kein Opfer.

Die Theorie Deleuze/Guattaris bildet zugleich auch das Verbindungsglied zwischen den bei-den Mythostheorien Ernst Cassirers und René Girards und damit zwischen einem symbolthe-oretischen und psychologisch-anthropologischen Blickwinkel. Das mythische Denken als entdifferenzierende Form der Weltanschauung und Begriffsbildung (Cassirer) und das Begeh-ren als Antrieb einer solchen EntdiffeBegeh-renzierung (Girard) werden hier in eins gefasst. Anders als Girard fassen Deleuze/Guattari diesen Prozess aber als produktive Energie. Sie beschrei-ben unter den Stichworten des `Tier-Werdens´88, `Frau-Werdens´89, `Unwahrnehmbar-Werdens´90 Entgrenzungsphänomene zwischen den Individuen, dem Mensch und der Natur, den Geschlechtern wie sie Cassirer als Prozesse beschreibt, welche der mythischen Begriffs-bildung vorausgehen. Angetrieben werden diese Entdifferenzierungserfahrungen durch eine Funktion des Unbewussten: Im individuellen `Schizophrenwerden´ und dem gesellschaftli-chen `Meute-Werden´ zerbregesellschaftli-chen die repräsentativen Einheiten des Subjekts und des Staates und eröffnen einen Raum für die Decodierung festgeschriebener, sogenannter molarer, ein-heitlicher, kompakter Formen (wie z.B. das Ich, der Mann, der Staat)91. Stattdessen entsteht durch einen "Prozess des Begehrens"92 eine nicht mehr in Dichotomien formierte, sondern als Geflecht gebildete Meute, welche Geschlechtergrenzen und Identitätswahrnehmungen neu definieren lässt. Neben den organisierten, makrologischen Massen wie dem Staat oder der Familie gibt es für Deleuze/Guattari auch mikrologische, molekulare Mannigfaltigkeiten, wel-che anders gebildet sind: rhizomatisch93. Unter dem Rhizom verstehen Deleuze/Guattari eine

87 Deleuze/Guattari, 1992, 334

88 Deleuze/Guattari, 1992, 324ff. Deleuze/Guattari entwickeln hier einen Gegenentwurf zu den Tieren, welche im Totemismus vorkommen und auch der Vorstellung von den Tieren, wie die Psychoanalyse sie geprägt hat, und setzen dagegen als dritte Erscheinungsform der Animalischen das Dämonische, wie es sich in einer Meu-te ausbreiMeu-tet.

89 Deleuze/Guattari, 1992, 339

90 Deleuze/Guattari, 1992, 339

91 Deleuze/Guattari,1992, 53ff

92 Deleuze/Guattari, 1992, 371

93 Deleuze/Guattari, 1992, 14: "Die binäre Logik […] hat die Mannigfaltigkeit nie begriffen". Die Formation der Meute dagegen ist rhizomatisch (16): "Das Rhizom kann die unterschiedlichsten Formen annehmen, von der verästelten Ausbreitung in alle Richtungen an der Oberfläche bis zur Verdichtung in Zwiebeln und Knollen.

[...] Jeder Punkt des Rhizoms kann mit [...] jedem anderen verbunden werden. Das ist ganz anders als beim

bestimmte Formation von Strukturen, welche nicht dichotom-binär gebildet werden. Damit entwerfen Deleuze/Guattari ein dem naturwissenschaftlichen Denken entgegengesetztes epis-temologisches Modell. Auch hier sei der Verweis auf die Mythostheorie Ernst Cassirers er-laubt, der für das mythische und sprachliche Denken eine andere Form der Begriffsbildung als im sogenannten logischen Denken veranschlagt: "Der Begriff, so pflegt die Logik zu lehren, entsteht dadurch, dass mehrere Objekte, die in bestimmten Merkmalen und somit einem Teil ihres Inhalts übereinstimmen, im Denken zusammengefasst werden, dass von den ungleichar-tigen Merkmalen abstrahiert, die gleicharungleichar-tigen aber festgehalten werden und auf sie reflektiert wird, woraus im Bewusstsein die allgemeine Vorstellung von dieser Klasse von Objekten entstehe. [...] Von einer derartigen Prägung ist das mythische Denken [...] weit entfernt. [...]

Denn hier steht der Gedanke dem Inhalt der Anschauung nicht frei gegenüber, um ihn in be-wusster Reflexion auf andere zu beziehen und mit anderen zu vergleichen, sondern hier ist er von diesem Inhalt, so wie er unmittelbar vor ihm steht, gleichsam gebannt und gefangen ge-nommen. [...] Die Zuordnungen im Sein vollziehen sich nach Maßgabe des Tuns, also nicht nach der `objektiven´ Ähnlichkeit der Dinge, sondern nach der Art, wie die Inhalte durch das Medium des Tuns erfasst und miteinander in einen bestimmten Zweckzusammenhang einge-ordnet werden."94 Feste, aufeinander bezogene dualistische, kausal voneinander abhängende Begriffe gelten für das mythische Denken, das affektiv und kontaguös Erscheinungen aufein-ander bezieht, gerade nicht. Ähnlich wie Cassirer behaupten Deleuze/Guattari für die vorre-präsentative Ordnung des Unbewussten eine andere Art des Denkens: "In Abweichung von klassischen taxinomischen Einteilungen nach dem Stammbaummodell95 und der Deduktion

"baumartige Mannigfaltigkeiten und rhizomatische Mannigfaltigkeiten [...] Einerseits extensive, teilbare und molare Mannigfaltigkeiten, die vereinheitlicht, summiert und organisiert werden können, die bewusst oder vorbewusst sind – und andererseits libidinöse, unbewusste, molekulare, intensive und aus Teilchen bestehen-de Mannigfaltigkeiten, die sich nicht teilen lassen, ohne ihre Gestalt und ihren Abstand zu änbestehen-dern, die unauf-hörlich entstehen und sich auflösen, indem sie diesseits, jenseits oder durch eine Schwelle ineinander überge-hen und miteinander kommunizieren." (52)

94 Ernst Cassirer: Sprache und Mythos. Ein Beitrag zum Problem der Götternamen. Studien der Bibliothek War-burg. Hgb: Fritz Saxl. Leipzig, Berlin: B.G. Teubner Verlag, 1925. S. 20ff

95 Damit positionieren sich Deleuze/Guattari auch gegenüber anderen Mythostheorien, welche das Baummodell der Naturwissenschaften ins mythische Denken integrieren. Mircea Eliade bedient sich bei seiner Beschrei-bung des Mythos der Vorstellung vom Weltenbaum, dessen Äste auf strukturierte Weise die Kategorien der Gesellschaft, die Ordnung der Welt verkörpern. Mit Eliade liegt erneut eine Mythostheorie vor, welche die Bedingungen der Entstehung von geordneten Systemen nicht mit einbezieht. Vgl. Eliade, 1984, 131ff und Kurt Rudolph: Eliade und die "Religionsgeschichte". In: Die Mitte der Welt. Aufsätze zu Mircea Eliade. Hg.:

Hans Peter Duerr. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1984. S. 60

von Gattung und Art nach äußeren Merkmalen suchen sie Unterscheidungskriterien nach Af-fekten, Rhythmen und unpersönlichen Affinitäten zu entwickeln, die zwangsläufig heterogene Elemente zueinander in Relation setzen."96

Der Mythos ist für Deleuze/Guattari eine repräsentative Ordnung, welcher zur negativ bewer-teten individuellen Subjektbildung und Verkrustung von staatlichen und familiären Ordnun-gen führt. Das Unbewusste sei aber nicht bereits in solchen Bilder organisiert, sondern pro-duktiv und kollektiv. Gelegentlich ereigne sich eine Befreiung von der repräsentativen Ord-nung und einer Decodierung der bestehenden Strukturen.

Für Deleuze/Guattari sind die Meuten Bewegungen, welche die "überkommenen Unterschei-dungen durchkreuzen, affektgesteuerte Interaktionsfelder und flüchtige Ereignisse hervor-bringen und neue Bereiche des Sichtbaren und Erzählbaren eröffnen."97 Dementsprechend bevorzugen sie den zerstückelten Gott Dionysos vor dem christlichen Gott: "An die Stelle der Abwertung des irdischen Lebens [durch die christliche Moral Anm.d.Verf.] tritt die Bejahung seiner präsubjektiven Fülle, welche zuletzt die Selbstüberwindung des Menschen verlangt."98 Selbstüberwindung heißt in diesem Kontext Zerstückelung des Ich. Die Neigung zur Auflö-sung des Individuums wird von Deleuze/Guattari – ganz im Gegensatz zu Girard, der darin die Gefahr der unkontrollierbaren Dynamik der Gewalt sieht – als positive und produktive Kraft verstanden. Im Zustand, den Deleuze/Guattari das `Werden´ nennen, der vor den sprachlich-festgelegten Begriffen als Repräsentationen liegt, befindet sich die Ebene, auf wel-cher die Bedingungen der Möglichkeit von Sinnkonstitution erfassbar und decodierbar wer-den: "Interpretation, so verstanden, zielt nicht auf hermeneutische Eröffnung einer Bedeutung hinter den Zeichen, sondern auf Offenlegung der Kräfte, welche die Denkvorgänge antreiben und ihnen Mehrdeutigkeit verleihen."99

Auch wenn die Ansichten Deleuze/Guattaris und Girards in diesem Punkt kaum weiter von-einander entfernt sein könnten, Deleuze/Guattari die Meute als Ort produktiver, kollektiver und dekonstruktiver Entgrenzung begreifen, in welchem überkommene und verkrustete Struk-turen verworfen und umgeschrieben werden, während Girard in ihr den Hort ungezügelter, animalischer, vernichtender Gewalt sieht, ist ihnen doch das Interesse für Bedingungen der Möglichkeit von Mythen- und Gesellschaftsbildung gemein.

96 Michaela Ott: Gilles Deleuze. Zur Einführung. Hamburg: Junius Verlag, 2005. S. 108

97 Ott, 2005, 111

98 Ott, 2005, 58

99 Ott, 2005, 57

Wie Girard legen Deleuze/Guattari den Finger auf eine Leerstelle, welche die meisten My-thostheorien beinhalten: Die Zustände, welchen den durch Mythen und Rituale in totemisti-schen Systemen strukturierten Gesellschaften vorausgehen. Sie werden in den Momenten der Meutenbildung, des Krieges, des Animalischen wahrnehmbar. Anders als Girard bewerten Deleuze/Guattari diese Zustände der kollektiven Entdifferenzierung jedoch positiv. Sie sehen darin eine Auflösung und Umschreibung binärer Strukturen wie zum Beispiel der Geschlech-ter. Gleichzeitig versucht die Mythostheorie Deleuze/Guattaris, Mythen nicht als Ausdruck von längst in den Tiefen der Zeit untergegangenen Formen des Denkens und Erzählens zu beschreiben, sondern durch das Untersuchungsobjekt des Kapitalismus und der Schizophrenie auch in modernen Gesellschaften die Bedingungen der Möglichkeit des mythischen Symbol-denkens als Ordnungssystem des Staates und des Subjekts zu erfassen. Anders als zahlreiche andere Mythentheorien verstehen Deleuze/Guattari Mythos und Logos nicht als die zwei Pole einer teleologischen Entwicklung. Aufgrund dieser Beschaffenheit des Unbewussten neigt der Mensch auch in der modernen Gesellschaft zur Bildung von Meuten100. Anders als zum Bei-spiel Cassirer, der eine teleologische Entwicklung vom Mythos zum Logos sieht und das mythische Denken zwar als Wurzel der Sprache, Kunst und Wissenschaft voraussetzt, aber auch dessen unwiederbringliche Zersetzung annimmt, glauben Deleuze/Guattari an die Prä-senz dieses Denkens auch in den modernen Gesellschaften.

Dieser kurze Einblick in zwei voneinander unabhängig entstandene und ideologisch fast ge-gensätzlich zu nennende Mythostheorien zeigt jedoch, dass der Mythos als gesellschaftliche Ordnung wiederum aus einem Zustand hervorgegangen ist, der sich nicht mit dichotomen Begriffen erfassen und beschreiben lässt. Diese Einsicht soll als Leitlinie für die folgenden Untersuchungen und den Versuch der Beschreibung mythischer Strukturen im Parzivâl die-nen.

100 Das stimmt mit der Einschätzung der Gewalt und des Begehrens als nicht zu überwindende Antriebskraft des menschlichen Wesens durch Girard überein.

1.3 Einordnung dieser Arbeit in die mythentheoretische