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4. Diskussion

4.2. Einschätzung der Ergebnisse

Dank der umfangreichen Leitfadeninterviews kann diese Studie mit weitreichenden Ergebnissen aufwarten – zu den beiden großen Forschungsfragen nach Themenwahl und Präsentationsformen in den TV-Gesundheitsratgebern und zu vielen weiteren, untergeordneten Aspekten (Perspektive auf die Themen, Auswahlkriterien, Erzählstruktur der Beiträge, Unterhaltungscharakter und Moderation der Sendungen). Die Ergebnisse wurden im dritten Abschnitt dieser Arbeit ausführlich dargestellt. Einige davon sind jedoch durchaus diskussionswürdig. Um eine Einschätzung dieser Ergebnisse soll es im Folgenden gehen: Wieso kommen bestimmte, durchaus häufige Krankheiten in den TV-Gesundheitsratgebern kaum vor? Weshalb werden so wenige jüngere Zuschauerinnen und Zuschauer mit dem Programm erreicht? Und warum werden die Geschichten in den Sendungen nicht weniger realitätsfern dargestellt?

Zunächst Anmerkungen zu den in den Formaten selten vorkommenden, aber in der Bevölkerung häufigen Krankheiten: Die Redaktionen der TV-Gesundheitsratgeber begründen ihre Themenwahl damit, besonders umfangreich über das berichten zu wollen, was möglichst viele Zuschauer betrifft, also über die sogenannten Volkskrankheiten. Tatsächlich kommen Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems und des Muskel-Skelett-Systems in den Magazinen auch sehr häufig vor:

Bluthochdruck, Schlaganfall, Gelenkerkrankungen und Rückenschmerzen (siehe Abschnitt 3.2.).

Damit erfüllen die Sendungen eine wichtige Funktion: Sie vermitteln ihren Zuschauern brauchbares Wissen über diejenigen Krankheiten, von denen sie vielleicht selbst betroffen sind oder von denen sie mit hoher Wahrscheinlichkeit irgendwann einmal betroffen sein werden.

Außerdem können sie mit erkrankten Bekannten besser umgehen. Wer Gesundheitsmagazine im

Fernsehen schaut, weiß mehr über Krankheiten als einer, der sich gar nicht informiert. Aber er weiß eben nur mehr über bestimmte Krankheiten. Und dazu gehören oft nicht einmal alle Volkskrankheiten, obwohl für die das entscheidende Argument der großen Betroffenheit in der Bevölkerung greifen würde. Zu den vernachlässigten Themen gehören insbesondere onkologische und psychische Erkrankungen (siehe Abschnitt 3.4.). Die TV-Gesundheitsratgeber behandeln diese Themen gar nicht oder deutlich seltener als sie in der Bevölkerung tatsächlich vorkommen.

Die Redaktionen begründen dies damit, dass das Themenfeld Krebs für ihre Zuschauerinnen und Zuschauer zu „abstoßend“ und emotional herausfordernder sei als die Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems und des Muskel-Skelett-Systems (vgl. Interview Henss 2015, S. 128 im Anhang). Außerdem könne man hier wesentlich schwieriger ein Happy End anbieten (vgl.

Interview Bohm, S. 155 im Anhang). Und „unsichtbare“ Krankheiten wie psychischen Leiden seien im Fernsehen darüber hinaus kaum adäquat darstellbar (vgl. Interview Ließmann, S. 159 im Anhang).

Dabei kann die Bedeutung von Krebserkrankungen und psychischen Leiden nicht überschätzt werden. Jeder dritte Deutsche bekommt im Laufe seines Lebens irgendeine Form von Krebs (vgl.

Gesenhues/Ziesché 2010: 1082). In den vergangenen Jahrzehnten hat die Anzahl der Krebsneuerkrankungen drastisch zugenommen, Tumoren sind nach den Herz-Kreislauf-Erkrankungen mittlerweile die zweithäufigste Todesursache überhaupt (vgl. Hiddemann/Feuring-Buske/Lindner/Krych/Huber/Bartram 2010: 4). Gleichzeitig gehört die Onkologie aber auch zu den medizinischen Fachbereichen, in denen sich in Bezug auf diagnostische und therapeutische Möglichkeiten besonders viel tut (vgl. Gesenhues/Ziesché 2010: 1082). Es gäbe also reichlich Stoff für aufklärende und Hoffnung weckende Geschichten zum Thema Krebs in den TV-Gesundheitsratgebern. „Darüber hinaus gilt es, das Bewusstsein der Gesellschaft für Krebs zu sensibilisieren und Vorurteile abzubauen.“ (Hiddemann/Feuring-Buske/Lindner/Krych/Huber/Bartram 2010: 5)

Ähnliches gilt für psychische Erkrankungen: Durchschnittlich leiden 30 bis 50 Prozent der Patienten einer allgemeinärztlichen Praxis in Deutschland an psychogenen Störungen (vgl.

Gesenhues/Ziesché 2010: 1218). Das Wissen über Erkrankungen wie Depression oder Angststörung ist in der Bevölkerung aber nur unzureichend vorhanden, zu lange wurden solche Probleme tabuisiert und stigmatisiert (vgl. Möller/Laux/Deister 2005: 5). Dies birgt die Gefahr, dass betroffene Menschen erst viel später ärztliche Hilfe aufsuchen als dies möglich wäre, wenn Informationen vorhanden und Vorurteile überwunden wären. „Im Sinne einer besseren Versorgung von Patienten mit psychiatrischen Erkrankungen ist es auch wichtig, das unzureichende Wissen in der Allgemeinbevölkerung über psychische Erkrankungen durch

entsprechende ‚Awareness‘-Programme und die Stigmatisierung psychiatrischer Erkrankungen durch ‚Antistigma‘-Kampagnen zu verändern.“ (Ebd.)

Auch wenn onkologische und psychische Krankheiten die Zuschauerinnen und Zuschauer herausfordern. Auch wenn vielleicht manche wegschalten. Auch wenn Fernsehbilder für diese Themen schwerer zu bekommen sind. Angesichts ihrer enormen Relevanz für die Bevölkerung sollte es für Deutschlands TV-Gesundheitsratgeber eine annehmbare Herausforderung sein, mehr dieser Themen in die Sendungen zu nehmen: neue Früherkennungsprogramme gegen Krebs, bessere Therapieverfahren bei Tumoren, mehr Aufklärung über psychische Leiden, hilfreiche Tipps zur Vorbeugung seelischer Probleme,...

Zu den vernachlässigten Themen in den TV-Gesundheitsratgebern gehören auch solche, die eher jüngere Menschen betreffen (siehe Abschnitt 3.4.): Gefahren des Piercings, Folgen von Rauschgiftkonsum, Aufklärung über sexuell übertragbare Krankheiten. Das alles sind wichtige, gesundheitsrelevante Themen – für jüngere und ältere Menschen. Eine Berichterstattung darüber könnte einen wertvollen Beitrag zur Aufklärung leisten. Dass diese Themen in den Magazinen kaum vorkommen, erklären die Macher in den Leitfadengesprächen mit dem höheren Alter ihrer Zuschauer. Die meisten sind über 60 Jahre alt (siehe Abschnitt 3.1.). Arzt und Moderator Carsten Lekutat sagt aus seiner Erfahrung: „Das Thema Gesundheit beschäftigt die Leute erst ab 40 oder 50.“ (Interview Lekutat, S. 181 im Anhang) Verständlicherweise wollen die Redaktionen Krankheiten behandeln, die ihre Zuschauerinnen und Zuschauer persönlich betreffen. Und die sind nun einmal eher älter, wie generell das Publikum vieler Angebote des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Es bringt ihnen natürlich nichts, Themen für ein jüngeres Publikum mit ins Programm zu nehmen, wenn damit kaum neue Zuschauer gewonnen werden, dafür aber viele ältere Menschen nicht mehr einschalten, weil sie sich mit ihrem Interessengebiet in den TV-Gesundheitsratgebern nicht mehr ausreichend wiederfinden können.

Gleichwohl betonen die Macher der Sendungen, wie wichtig ihnen der präventive Ansatz ist: Sie möchten, dass die Leute gesund bleiben (siehe Abschnitt 3.3.). Und dafür sollte möglichst früh angesetzt werden. Beispielsweise sollte auf Ernährung und Bewegung geachtet werden, lange bevor man die ersten Anzeichen einer Hypertonie bei sich bemerkt. Außerdem stehen die TV-Gesundheitsratgeber wie so viele öffentlich-rechtliche Sendungen vor der unausweichlichen Herausforderung, neue, jüngere Zuschauer für ihr Angebot zu gewinnen – allein schon deswegen, weil die älteren Menschen kontinuierlich weniger werden.

Deutschlands TV-Gesundheitsratgebern stände es gut, ihr Themenspektrum in Richtung der jüngeren Zuschauerschaft zu erweitern. Nicht die bisherige Berichterstattung aufzugeben, sondern feindosiert um passende Beiträge zu erweitern. Beispiele, wovon in den Sendungen noch mehr zu

sehen sein könnte, gibt es viele: Therapieansätze bei Multipler Sklerose, Zeichen einer Appendizitis und vielleicht sogar der Impfschutz gegen Kinderkrankheiten.

Weil beim Fernsehen neben der Wahl der Themen die Art ihrer Darstellung so bedeutend ist, sagt die folgende Einschätzung auch etwas ganz Grundsätzliches über die TV-Gesundheitsratgeber aus: Die Präsentation der Inhalte ist oft nicht nah genug an der Wirklichkeit der Zuschauerinnen und Zuschauer.

In den Leitfadengesprächen erzählen die Macher der Sendungen, dass die Beiträge idealtypisch einer bestimmten Dramaturgie folgen (siehe Abschnitt 3.7.): Um Krankheiten in Filmgeschichten darzustellen, werden häufig Patienten ausgesucht, anhand derer ein Happy End vorgeführt werden kann. Ein diagnostisches Verfahren hat geholfen, endlich die richtige Krankheit eines Patienten zu finden. Oder eine neue Therapie war erfolgreich und der Patient ist wieder gesund. Diese Patienten werden gefilmt, ihre Geschichte wird in den TV-Gesundheitsratgebern erzählt. Die Odyssee der vielen anderen Patienten, bei denen das diagnostische oder therapeutische Verfahren unter Umständen nicht geholfen hat, taucht allzu oft nicht auf. Zumindest nicht als Patientengeschichte. Es wird vielleicht mit dazugesagt, dass es auch Misserfolge gibt. Im Sprechertext oder durch den Experten im Studio. Aber die Bilder vermitteln den Zuschauern einen anderen Eindruck: tolles neues Verfahren. Tapferer Patient. Bestes Ergebnis. Die Reaktionen des Publikums zeigen aber, dass „ihre Realität anders aussieht“ (Interview Denninger, S. 99 im Anhang). Weil die Zuschauerinnen und Zuschauer nicht so schnell einen Termin beim Arzt bekommen wie die Protagonisten im Film. Weil sie nicht so häufig vom Chefarzt persönlich behandelt werden wie diejenigen Patienten, die mit der Kamera begleitet werden. Und weil bei den Zuschauern – zugespitzt – nicht innerhalb von fünf Filmminuten wieder alles gut wird.

Die Redaktionen begründen ihre Art der Darstellung damit, vor allem Mut machende, erfolgreiche Geschichten vermitteln zu wollen (siehe Abschnitt 3.7.). Weil die Zuschauer von einem erfolgreichen Verfahren mehr haben als von einem, das nichts bringt (außer, die Zuschauer sollen ausdrücklich vor Scharlatanerie gewarnt werden, dann könnte das Thema es in die Sendung schaffen). Darüber hinaus würde dazugesagt, wenn etwa ein therapeutisches Verfahren erst bei wenigen Patienten geholfen habe. Aber das reicht nicht. Im Fernsehen müssen Inhalte über Bilder transportiert werden. Und krank sein hat viel mit kämpfen zu tun. Kämpfen gegen das Voranschreiten einer Krankheit zum Beispiel. Gerade dem komplexen Thema Gesundheit täte es gut, wenn es in den Ratgebermagazinen in seiner Gänze behandelt würde: der Kampf und das Scheitern genauso wie die Erfolge und der Sieg über die Krankheit. Das käme der Wirklichkeit des Alltags der Patienten deutlich näher. Und dieses ganzheitliche Bild würde wiederum für mehr Aufklärung und Verständnis bei denjenigen Zuschauerinnen und Zuschauern sorgen, die selbst

nicht von der Krankheit betroffen sind, es aber vielleicht einmal sein werden oder jemanden kennen, der an dem Problem leidet.