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Die kommunistische Führung der ehemaligen Sowjetunion hatte ein Monopol bezüglich des Angebots von Versorgungsleistungen1 inne, indem durch das System der zentralen Planwirtschaft die Produktion von Gütern und Dienstleistungen für die Bedürfnisbefriedigung der Bevölkerung gewährleistet werden sollte. Da es der Staatsführung aufgrund systemimmanenter Mängel nicht immer möglich war, die Bedarfsdeckung ausreichend sicherzustellen, war das sowjetische Volk einer chronischen Unterversorgung ausgesetzt. Aus dieser Notsituation heraus entwickelten sich Strukturen, mit Hilfe derer versucht wurde das prekäre, staatlich zugeteilte Angebot, auf informellem Weg auszugleichen. Eine Variante davon ist bekannt unter dem Terminus Blat (блат).

Unter Blat versteht man die informelle Umleitung offizieller Warenströme zur Befriedigung persönlicher Bedürfnisse. Dabei wurden mit Hilfe von Kontakten Zugänge zu knappen Gütern und Dienstleistungen eröffnet. Zwischen Gebern und Nehmern von Gefälligkeiten bestand eine reziproke Beziehung, die auf gegenseitigem Vertrauen aufbaute. Eine der bekanntesten Forscherinnen auf diesem Gebiet ist Alena Ledeneva und sie definiert Blat als „the use of personal networks and informal contacts to obtain goods and services in short supply and to find a way around formal procedures“. (Ledeneva 1998:

1) Das heißt neben dem Zugang zu knappen Gütern und Dienstleistungen durch Blat-Beziehungen, ermöglichten diese beispielsweise auch den Erhalt qualitativ höherwertigerer Produkte oder eine Beeinflussung von (behördlichen) Entscheidungen (z.B.: Antrag auf eine größere Wohnung, Telefonleitung, etc.).

Blat funktionierte primär auf Basis von Beziehungsarbeit und die Beteiligten stellten keine Erwartungen an monetäre Gegenleistungen. Die Reziprozität der Beziehungen bezog sich auf die Ermöglichung von Zugängen zu knappen Gütern – ohne Verfallsdatum auf diesen Anspruch. Diese Option der Gegenleistung bildete das Fundament für den hohen Stellenwert von Kontakten, denn grundsätzlich ging man davon aus, dass jeder einmal von

1 Unter Versorgungsleistungen werden in dieser Arbeit zwei Kategorien von Bedürfnissen verstanden.

Einerseits umfassen sie Güter und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs wie zum Beispiel Nahrungsmittel, Bekleidung, Wohnraum, etc. und im weiteren Sinn auch Serviceleistungen aus dem Gesundheitswesen.

Andererseits werden darunter auch jene Leistungen zusammengefasst, die den Bedürfnissen einer gewissen Lebensphase zuzuschreiben sind. Dazu zählt der Besuch von Kindergärten, Schulen, Universitäten, etc.

‚Nutzen’ sein konnte, selbst wenn dieser zum Zeitpunkt der ersten Begegnung noch nicht ersichtlich war.

Dieser alternative Versorgungsweg war während der Zeit der zentralen Planwirtschaft des kommunistischen Regimes in der Sowjetunion stark ausgeprägt. Blat stellte für die Bevölkerung eine Möglichkeit dar, die spezifischen Mängel und Unregelmäßigkeiten, denen sie durch ihre Wirtschaftsordnung ausgesetzt waren, auf persönlicher Ebene auszugleichen, indem sie sich ein Sicherheitsnetz anhand von Kontakten aufbauten, auf das sie im Bedarfsfall zurückgreifen konnten. Somit liegt das Potential von Blat nicht ausschließlich auf tatsächlich geleisteten Gefälligkeiten, sondern auch auf der Möglichkeit diese gegebenenfalls zu beanspruchen.

1.1 Quellenlage

Die Quellenlage zu diesem Thema kann am besten als ‚überschaubar’ charakterisiert werden, vor allem wenn man den Beobachtungszeitraum allein auf die Sowjetära beschränkt. Ein Grund für die geringe schriftliche Präsenz dieses Themas in der sowjetischen Literatur ist neben dessen Informalität die negative Konnotation des Begriffs.

Letzteres rührte daher, dass die damit einhergehenden Praktiken offiziell als unsowjetisch angesehen wurden, weil man dabei staatliches Eigentum für den persönlichen Bedarf auf Kosten der Allgemeinheit abzweigte. Deswegen distanzierten sich die Akteure meist entweder verbal von dieser Praxis, indem jegliche Aktivitäten in dieser Hinsicht abgestritten wurden, oder sie bedienten sich der Rhetorik des freundschaftlichen Aushelfens. Im Westen wurde Blat als erstes von Berliner (1957) in seinem Buch über Führungsstile in sowjetischen Fabriken antizipiert. Weiters finden sich Beschreibungen zu diesem Thema bei Zimmermann (1987), Fitzpatrick (1999) und Goehrke (2005). Zu den führenden Autoren auf diesem Gebiet zählt mit großem Abstand Alena Ledeneva. Sie veröffentlichte 1998 ihre Studie über Blat in der UdSSR, auf Basis von Interviews mit 56 Personen aus Russland. Ihr Ziel war, die Konturen von Blat als soziales Phänomen zu erfassen. (Ledeneva 1998: 2) Abgesehen davon gibt es die Möglichkeit, auf transkribierte Interviews von Emigranten aus der Sowjetunion zuzugreifen. In den Jahren von 1950-53 wurden in den USA im Zuge des ‚Harvard Project on the Soviet Social System’-Programms insgesamt 330 Personen umfassend befragt; in den Dokumenten sind unter

anderem Aussagen zum Thema Blat zu finden. (vgl. HPSSS – Harvard Project on the Soviet Social System)2

Beiträge zu Blat im postsozialistischen Russland kommen aus verschiedenen Richtungen wie beispielsweise dem wirtschaftlichen Bereich (vgl. Rehn, Taalas 2005; Ledeneva 2006;

Lenard 2012) und in Form von Vergleichsstudien informeller Beziehungen zwischen Ländern (vgl. Lennhag 2009) bzw. dem sowjetischen Blat und dem chinesischen Guanxi.

(vgl. Michailova, Worm 2003; Ting Ting 2005; Ledeneva 2008)

1.2 Forschungsfrage

Der Fokus dieser Arbeit liegt auf den sozialen Regelmäßigkeiten und Mustern, die sich im Zuge der Anwendung von Blat zwischen den Beteiligten entwickelten. Als Leitfaden dient somit folgende Fragestellung:

- Welche sozialen Aspekte prägten die Verhaltensstrukturen der beteiligten Personen bei Blat-Gefälligkeiten in der Sowjetunion?

Da Blat im informellen Bereich stattgefunden hat, sind jene Strukturen von Interesse, die für den Aufbau und die Balance dieser Form der zwischenmenschlichen Beziehung als Maßstab dienten. Daraus ergeben sich weitere Detailfragen:

- Wurde Blat bei der Beschaffung von Gütern und Dienstleistungen als Ressource angesehen?

- Welche Faktoren begünstigten Blat-Aktivitäten?

- In welcher Form konnte eine Blat-Gefälligkeit ausgeglichen werden?

- Auf welcher Ebene begegneten einander die Blat-Beteiligten?

1.3 Gliederung der Arbeit und Methode

Die Arbeit eröffnet mit einem Kapitel über die Frage nach der Herkunft und Bedeutung des Begriffs Blat. Es wurde als Lehnwort in die russische Sprache übernommen, unterlag im Zeitverlauf einem innerrussischen Bedeutungswandel (s. Abschnitt 2.1), weshalb daran anschließend Definition und Anwendungsbereiche von Blat während der Sowjetära thematisiert werden (s. Abschnitt 2.2).

2 http://hcl.harvard.edu/collections/hpsss/ [Zugriff: 27.05.2012]

Im dritten Kapitel wird der historische Verlauf der Versorgungslage in der UdSSR dargestellt. Dies soll einen Einblick in die damaligen, herausfordernden Lebensbedingungen und deren Wandel gewährleisten, um ein Verständnis für den Bedarf alternativer Versorgungsmöglichkeiten zu entwickeln. Ausgehend von den äußerst harschen Umständen zu Beginn der Sowjetunion 1922 (aber auch schon davor), wird die Entwicklung der Versorgungssituation bis zum Ende der Sowjetunion 1991 skizziert. (s.

Abschnitt 3.1) Im Anschluss daran werden im Abschnitt 3.2 das Leistungsangebot im Zeitverlauf sowie die Zugangsmöglichkeiten zu Waren und Dienstleistungen (s. Abschnitt 3.3) aufgezeigt.

Für die Beantwortung der Forschungsfragen dienen vier Konzepte aus der Soziologie als Analysebasis, deren Ansätze großteils auch in der bereits erwähnten Studie von Alena Ledeneva zu finden sind. Zuerst wird anhand Colemans Ausarbeitungen (1988) zum sozialen Kapital erörtert, ob Blat-Beziehungen als Ressource angesehen werden konnten (s. Abschnitt 4.1). Des Weiteren wurde mit Hilfe von Variablen zur Beschreibung von sozialen Netzwerken versucht, die Position einer Person innerhalb eines Blat-Netzwerks zu erfassen (s. Abschnitt 4.2). Als drittes werden im Abschnitt 4.3 Reziprozitätsformen behandelt, da die Wechselseitigkeit von Gefälligkeiten ein wesentliches Charakteristikum von Blat-Beziehungen war. Zuletzt soll anhand des Klientelismuskonzepts (vgl. Weber Pazmiño 1991) die Ebene betrachtet werden, auf der die Beteiligten einander gegenübertraten (s. Abschnitt 4.4).

Über die Literaturrecherche hinaus, wurde zur Datengewinnung die Methode des problemzentrierten, leitfadengestützten Interviews gewählt und mit acht Personen aus der ehemaligen Sowjetunion (heute Russland und Ukraine) durchgeführt (s. Abschnitt 5.1 und 5.2). Auf diese Weise konnten Informationen aus erster Hand über die sozialen Funktionsmechanismen von Blat generiert werden. Die Auswertung der transkribierten Gespräche erfolgte nach der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (vgl. Mayring 1996, 2003), welche unter Verwendung von themenspezifisch erörterten Kategorien eine systematisierte Analyse des zugrundeliegenden Materials ermöglichte. Im Unterkapitel 5.3 werden die Methode sowie die erarbeiteten Kategorien behandelt, anhand welcher die einzelnen Interviews im Abschnitt 5.4 analysiert wurden.

Im sechsten Kapitel werden die Ergebnisse der Analyse noch einmal aufgegriffen und anhand der definierten Kategorien mit den vorab vorgestellten sozialen Konzepten verglichen (s. Abschnitt 6.1 bis 6.7).