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3. Versorgung in der Sowjetunion

3.1 Sowjetischer Lebensstandard im Wandel

3.1.3 Chruschtschow

Erst nach dem Tod Stalins und der Machtübernahme von Nikita Chruschtschow 1953 erfolgte eine Zäsur in der konsumpolitischen Ausrichtung. Die Verbesserung des Lebensstandards der breiten Bevölkerung rückte in den Fokus politischer Aufmerksamkeit.

Politische Stabilität sollte von nun an auf dem Fundament der Konsumorientierung und der Verbesserung des allgemeinen Lebensstandards aufgebaut werden. Das bis Anfang der 1950er Jahre geltende Prinzip „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ aus den Zeiten des Kriegskommunismus wurde durch die Parole „Jedem nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ ersetzt. (Althanns 2009: 39, Marx 1972: 21) Chruschtschow ordnete an, Berechnungen über den Normverbrauch im Konsumbereich auszuarbeiten, allerdings nicht ohne ideologischen Hintergedanken. Die Ergebnisse wiesen erzieherische Ausprägungen auf, um die Menschen zu einem, aus kommunistischer Sicht‚ vernünftigen und rationalen Verbraucherverhalten hinzuführen, bei dem die eigenen Bedürfnisse hinter die Interessen des Kollektivs gereiht werden sollten.

Rational consumption was an aspect of communist morality, which in general entailed self-discipline and voluntary submission of the individual to the collective will. If individual desires came into conflict with the best interests of the collective, they were, by definition, irrational.

(zitiert in Reid 2002: 219)

An diesem Prinzip sollten die Bürger ihre Bedürfnisse orientieren und dem Verlangen nach einem, über das notwendige Ausmaß hinausgehenden, Mehrbesitz von Kleidung, Schuhen, Einrichtungsgegenständen, etc. widerstehen. Vor diesem Hintergrund verbreiteten sich in den sowjetischen Haushalten langlebige Konsumgüter (z.B.: Radios, Waschmaschinen, Kühlschränke), wobei ursprünglich eine kollektive Nutzung von Haushaltsgeräten durch mehrere Familien vorgesehen war.

Die Berechnungen des Konsumverbrauchs galten auch als Wegweiser für das „Einholen und Überholen“ der konkurrierenden Staatsmacht USA in diesem Bereich. Chruschtschow prognostizierte das hochgesteckte Ziel, dieses bis zum Jahr 1980 zu erreichen. (Merl 1997:

210f) Die Bedürfnisse der eigenen Bevölkerung adäquat abdecken zu können sowie der politisch eingeläutete Konkurrenzdruck mit den USA hingen von einem entscheidenden Faktor ab – der Steigerung der Produktivität von Arbeitskraft bzw. die Erhöhung der Effizienz in der Verarbeitung der vorhandenen Ressourcen. In diesem Punkt versagten jedoch die politischen Stimuli. Die Entscheidung Chruschtschows, die Bedürfnisbefriedigung vom Leistungsprinzip zu entkoppeln und durch eine staatlich gesicherte Grundversorgung als Bestandteil sozialer Gerechtigkeit zu ersetzen, verminderte den Anreiz des Einzelnen, seiner Beschäftigung produktiv nachzugehen. Das garantierte Recht auf einen Arbeitsplatz war eine weitere Maßnahme, die den Effizienzgedanken behinderte. Es gab Versuche, die Beschäftigten durch finanzielle Belohnungen zu einer erhöhten Produktivität zu bewegen, allerdings drangen diese Maßnahmen in den unübersichtlichen, kommunistischen Strukturen nicht einmal bis zu den Arbeitern durch.

(vgl. Merl 1997)

Das finanzielle Dilemma auf politischer Ebene begann sich bald abzuzeichnen. Die künstlich niedrig gehaltenen Preise für Güter und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs, konnten aufgrund des politisch propagierten Rechts auf eine gesicherte Grundversorgung nicht mehr angetastet werden und verschlangen hohe Subventionsbeträge. Um zumindest einen Teil der Kaufkraft für den Staatshaushalt abschöpfen zu können, wurden Waren des

gehobenen Bedarfs zu stark erhöhten Preisen angeboten. Diese Preispolitik konterkarierte allerdings erneut jeden Versuch das Engagement der Beschäftigten im Beruf zu steigern (Althanns 2009: 39), da trotz eines höheren Arbeitseinsatzes die Lohnerhöhung nicht stark genug ausfiel, die den Kauf dieser Luxuswaren ermöglicht hätte.

Neben den Reformen im Konsumsektor, spielte während Chruschtschows Regierungszeit der Ausbau von Wohnraum eine wesentliche Rolle. Wie viele andere Bereiche, erreichte auch die Unterkunftssituation zu Stalins Zeiten für die breite Masse der Bevölkerung ein kaum vorstellbares Ausmaß an Unerträglichkeit. Vor allem in urbanen Gebieten mussten die Menschen auf engstem Raum zusammenleben, häufig ohne jegliche Möglichkeiten, eine familiäre geschweige denn persönliche Privatsphäre in irgendeiner Form zu wahren.12 Die ersten baulichen Maßnahmen zur Beseitigung dieser Missstände setzten ab Mitte der 1950er Jahre ein (Merl 1997: 220), doch große Veränderungen wurden erst durch den standardisierten Wohnungsbau von Chruschtschow erzielt und von der Bevölkerung entsprechend antizipiert.

Bei Stalin bauten sie eigentlich nur Paläste. Aber Wohnraum fingen sie erst bei Chruschtschow an zu bauen.

(zitiert in Goehrke 2005: 333)

Großflächig wurden mehrstöckige Zweckbauten im ausladenden Stil in Stadtrandlage errichtet und prägten dadurch nachhaltig das Stadtbild. Die Wohnungen waren kleinräumig strukturiert, enthielten aber in der Regel einen Wasser- und Heizungsanschluss (sofern diese nicht durch Desinteresse der Bauarbeiter bzw. unter dem Druck der planmäßigen Fertigstellung ‚vergessen’ wurden) und waren ausschließlich für eine Familie allein

12 Die Wohnungsnot erreichte unter Stalin verheerende Ausmaße. Vor allem in den Städten, die den massenhaften Zuzug von Industriearbeitern aus dem ländliche Bereich aufnehmen mussten, hausten die Einwohner unter unmenschlichen Lebensbedingungen. Berühmt berüchtigt waren die Kommunalkas. Dieser Wohnungstyp ähnelt einer Wohngemeinschaft, bei der sich mehrere Parteien eine Wohnung teilen. Jeder Partei steht ein Zimmer als Wohnraum zu und Küche sowie Sanitäranalagen werden gemeinsam genutzt. In der Sowjetunion lebten in einem Zimmer allerdings nicht nur ein bis zwei Personen, sondern ganze Familien bzw. mussten sich teilweise sogar fremde Familien ein Zimmer teilen, das notdürftig mit einem Vorhang unterteilt wurde. Und weil selbst das den Mangel an Lebensraum nicht ausgleichen konnte, mussten sich Alleinstehende häufig mit Gängen, Nischen und Kellern abfinden. Zusätzliches Konfliktpotential lag in der Nutzung der Gemeinschaftsbereiche, denn es war häufig der Fall, dass für etwa 50 Personen nur eine Küche bzw. Toilette und Badezimmer zur Verfügung standen. In den Wohnbaracken von Industriebetrieben war die Situation nicht besser. Dort gab es große Schlafsäle, in denen die Schlafpritschen mit einer Strohsackauflage analog zum Schichtbetrieb mit anderen geteilt wurden. Zudem waren diese Hütten meist schlecht isoliert, schimmelig und den meisten fehlte es an Möglichkeiten im Winter zu heizen. (vgl. Fitzpatrick 1999, Goehrke 2005, Evans 2011)

gedacht. Für damalige Verhältnisse entsprach dies einem sehr fortschrittlichen Lebensstandard. Mit dem Ziel vor Augen, möglichst viel Wohnraum zu schaffen, wurde allerdings der Ausbau der restlichen Infrastruktur vernachlässigt. Es gab kaum Möglichkeiten für eine sinnvolle Freizeitgestaltung bzw. zum Einkaufen und der tägliche Weg in die Arbeit entpuppte sich als sehr zeitintensiv. Den Widrigkeiten in den Städten, konnten die Menschen am Wochenende mit einer Fahrt zur Datscha vor den Stadtgrenzen entkommen, über die ein Großteil der Stadtbevölkerung verfügte13. Neben dem Erholungsfaktor spielte die Datschenkultur auch für die Versorgung mit Lebensmitteln, durch den Eigenanbau von Obst und Gemüse, eine wesentliche Rolle.

Die Preise für Wohnraum, die von den Mietern zu zahlen waren, wurden durch Zuschüsse aus dem Konsumtionsfonds niedrig gehalten. Im Schnitt belastete dieser Posten das Haushaltsbudget einer Familie mit nur 3-5 Prozent. (Merl 1997: 219) Die negativen Folgen daraus waren, dass den Hausverwaltungen das nötige Geld fehlte, um die laufenden Instandhaltungsarbeiten zu finanzieren, weshalb die Wohnsiedlungen innerhalb kurzer Zeit verlotterten. Zusätzlich trugen der konstante Zuzug der ländlichen Bevölkerung in die Städte, die Vernachlässigung der Sanierung der Altbauwohnungen in den Stadtzentren und die Veränderungen der familiären Verhältnisse (Auflösung des 3-Generationen-Haushalts, Erhöhung der Scheidungsraten) dazu bei, dass das Problem des Wohnraummangels in den Städten zwar verbessert, aber nicht beseitigt werden konnte. (Goehrke 2005: 337; Merl 1997: 220) Somit blieb, trotz Chruschtows ambitionierten Bautätigkeiten, die Situation im Wohnbereich unbefriedigend.