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Einflussfaktoren auf das Unfallgeschehen von Radfahrern

2. Kenntnisstand

2.3 Das fahrradbezogene Unfallgeschehen von Kindern und Jugendlichen

2.3.2 Einflussfaktoren auf das Unfallgeschehen von Radfahrern

Es gibt eine Vielzahl von Risikofaktoren, die in einem statistischen Zusammenhang mit dem Unfallgeschehen von Radfahrern stehen (ELVIK, 2006, S.742). Zusammenfassend lassen sich diese den Kategorien Mensch, Umwelt, Fahrzeug zuordnen (siehe SCHEPERS ET AL., 2013;

BMVBS, 2011; KISS ET AL., 2010; ELVIK, 2006).

Bei der Frage nach regionalen Unterschieden im Unfallgeschehen dürfte der Einfluss des Fahrzeugs – gemeint ist hier v.a. die Funktionstüchtigkeit des Fahrrads – von untergeordneter Bedeutung sein. Für sich betrachtet hat die Funktionstüchtigkeit eines Fahrrads zwar bedeut-same Auswirkungen auf das Unfallrisiko; so weisen Radfahrer ohne funktionierende Beleuch-tung ein überdurchschnittliches Unfallrisiko auf (KISS ET AL., 2010, S.1568). Die Vermutung liegt jedoch nahe, dass sich die Funktionstüchtigkeit der Räder regional nicht signifikant un-terscheidet und es andere Aspekte geben muss, die für die regionalen Unterschiede verant-wortlich sind.

Zu den individuellen Faktoren, die einen besonders starken Einfluss auf das Unfallgeschehen von Radfahrern ausüben, zählen das Alter und das Geschlecht (GDV, 2015, S.17; BAST, 2012a, S.9f; SCHLAG ET AL., 2006, S.30ff). Die Gründe für die höhere Unfallbeteiligung und die größere Unfallschwere der Jungen, die sich auch in anderen Lebensbereichen, z. B. bei Schul- und Sportunfällen zeigen, sind nicht abschließend geklärt (ebd.). Zum einen ist deren

Exposition insbesondere bei der Radnutzung höher (DESTATIS, 2014a und b; SANTAMARINA -RUBIO ET AL., 2013; BAST, 2012a, S.31); zum anderen spielt wohl auch die geschlechtsspezi-fische Sozialisation eine Rolle, welche zu einer größeren Risikobereitschaft von Jungen führt (BAST, 2010, S.18;SCHLAG ET AL., 2006, S.30).

Offen ist auch, welchen Einfluss die Exposition auf das altersspezifische Unfallrisiko ausübt.

„Jüngere Untersuchungen über das verkehrsleistungsbezogene Unfallrisiko verschiedener Altersgruppen waren nicht ersichtlich“ (GDV, 2015, S.17). Zu einer erhöhten Unfallgefähr-dung von Kindern als Radfahrer tragen auch defizitäre motorische und kognitive Fähigkeiten bei (BAST, 2010, S.18f; UK NRW, 2008, S.56f; SCHLAG ET AL., 2006, S.33f; LIMBOURG, 1997, S.29). Kinder müssen die notwendigen motorischen Fähigkeiten, wie Bremsen, Lenken, Spurhalten, Kurvenfahren usw., zur Beherrschung des Radfahrens erst lernen. Dies geschieht je nach Übung bis zu einem Alter von zehn Jahren. Dasselbe gilt für die Ausbildung der kog-nitiven Fähigkeiten, die bis zu einem Alter von 14 Jahren dauert. Dazu zählen das Verständnis für den Straßenverkehr, die Orientierung, die Gefahrenerkennung sowie die Regelbeherr-schung. Auch das periphere Sehen und die Reaktionsfähigkeit sind erst ab diesem Alter mit den Fähigkeiten von Erwachsenen vergleichbar (ebd.).

Darüber hinaus wird ein Zusammenhang zwischen der Unfallgefährdung und persönlichkeits-psychologischen Variablen von Heranwachsenden, v.a. der Risikoeinstellung, vermutet (BAST, 2010, S.22; SCHLAG ET AL., 2006, S.32; RAITHEL, 1999; S.200ff). Risikobereitere Kinder und Jugendliche sind häufig auch extrovertiert, hyperaktiv und leicht ablenkbar und dadurch besonders unfallgefährdet (ebd.). Die Statistiken der DGUV (2015, S.16) belegen außerdem, dass Hauptschüler eine deutlich höhere FSWUR aufweisen als Schüler anderer Schulformen. Grund dafür sind einem Bericht der UK NRW (2011, S.35) zu Folge die kogni-tiven Kompetenzdefizite von Hauptschülern. Eine Studie von HÜBNER (2015, S.67) kommt zu dem Ergebnis, dass die überdurchschnittlichen Unfallraten an Hauptschulen auf schulform-spezifische Risikomilieus zurückzuführen sind.

Die Ursachen für das erhöhte Unfallrisiko von Kindern als Radfahrer sind aber nicht nur bei den Kindern selbst zu suchen. Auch situative Faktoren und die soziale Umwelt, insbesondere die familiären Rahmenbedingungen, wie die Zusammensetzung der Familie, die Wohn- und Einkommensverhältnisse etc., beeinflussen das Unfallgeschehen (BAST, 2010, S.24; UK NRW,2008,S.122; SCHLAGET AL., 2006, S.32). KISS ET AL. (2010) zeigten in einer in Ungarn durchgeführten Studie, dass Rad fahrende Kinder im ländlichen Raum schwerer verunfallen als in Städten, gemessen am Injury Severity Score Index. Als Erklärung werden das niedrigere

Bildungsniveau, das niedrigeren Einkommen und die daraus resultierende geringere Helmtra-gequote im ländlichen Ungarn angeführt. Ob Rad fahrende Kinder aus den unteren sozialen Schichten allerdings ein höheres Unfallrisiko aufweisen als Kinder aus höheren sozialen Schichten, wird kontrovers diskutiert (etwa PETCH &HENSON, 2010;UKNRW,2008;SCHLAG ET AL., 2006; REIMERS &LAFLAMME, 2005; LIMBOURG ET AL., 2000). SCHLAG ET AL.(2006, S.29) vermuten, dass Kinder aus den unteren sozialen Schichten gefährdeter sind, weil sie häufiger als Kinder aus höheren sozialen Schichten ohne Begleitung in weniger geschützten Stadtteilen und auf stärker verkehrsbelasteten Straßen Rad fahren, also gegenüber den Ver-kehrsgefahren exponierter sind. Die ausgeprägtere Gefährdungsexposition wiederum ist auf die ungünstigere Gestaltung des Aktionsraums zurückzuführen bzw. Folge unfallbegünstigen-der situativer Einflussfaktoren (ebd.).

Verkehrs- und straßenraumbezogene Merkmale – Verkehrsmenge, Geschwindigkeit des Auto-verkehrs, Straßenkategorie und -design, Vorhandensein von Radverkehrsanlagen etc. – üben ebenfalls einen Einfluss auf das Unfallrisiko von Radfahrern aus. Neben den in Kapitel 2.3 genannten Punkten weisen Rad fahrende Schüler mit anderen Radfahrern weitgehend ver-gleichbare straßenraumbezogene Unfallrisiken und Unfallschweren auf (siehe ENKE, 2012).

Zum Einfluss der Infrastruktur bzw. infrastruktureller Einzelmerkmale auf das Unfallrisiko gibt es unterschiedliche Meinungen (z. B. SCHEPERS ET AL., 2013; VANDENBULCKE ET AL., 2013; PETCH &HENSON, 2010; ELVIK, 2009; REYNOLDS ET AL.,2009;BAST, 2009). Dies liegt an der geringen Zahl von Studien, die den Einfluss der Infrastruktur auf Radunfälle untersuch-ten sowie an methodischen Differenzen zwischen den existierenden Studien. Zudem ist es schwierig infrastrukturelle Gegebenheiten auf das Unfallrisiko zu quantifizieren, da Unfälle seltene Ereignisse sind, die Radnutzung aufwendig zu messen und das Verkehrsgeschehen dynamisch und komplex ist (REYNOLDS ET AL.,2009,S.16). Selbst eine höhere Durchschnitts-geschwindigkeit des Autoverkehrs wirkt sich nicht auf das Unfallrisiko von Rad fahrenden Kindern aus, sondern lediglich auf die Unfallschwere (u.a. VANDENBULCKE ET AL., 2013, S.342; REYNOLDS ET AL., 2009, S.9ff). In einer differenzierten Betrachtung von V ANDEN-BULCKE ET AL.(2013)zeigt sich, dass es in Stoßzeiten zu einem Anstieg von Fahrradunfällen kommt. Dabei handelt es sich jedoch häufig um leichte Unfälle in Folge des langsam fließen-den Verkehrs. Außerhalb der Stoßzeiten reduziert sich die Zahl der Radunfälle signifikant; die Unfallschwere steigt jedoch auf Grund der höheren Durchschnittsgeschwindigkeiten der Au-to- und Radfahrer.

Selbst positive Effekte von Radverkehrsanlagen auf die Sicherheit von Radfahrern sind nicht belegt (BAST,2009,S.118; GDV, 2015, S.27). Laut dem Bericht des Gesamtverbandes der

Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV, 2015) weisen Fahrbahnführungen des Radverkehrs vergleichbar hohe Unfallraten auf wie Radwegführungen. Große Unterschiede in der Qualität und in der Führung von Radverkehrsanlagen erschweren allerdings eine Vergleichbarkeit.

Eine Studie im Auftrag der BAST (2009, S.118) verweist darauf, dass Unterschiede in der Unfalldichte (Unfälle pro Streckenabschnitt) v.a. auf sicherheitsrelevante Mängel bei der Pla-nung und beim Bau von Radverkehrsanlagen, also auf baulich-betriebliche Einzelmerkmale zurückzuführen sind. Tendenziell sicherer ist es, auf Radfahrstreifen zu fahren als auf separat geführten Anlagen (ebd.). Ähnlich unklar ist die Lage bei vielen weiteren infrastrukturellen Parametern, wie z. B. bei Kreisverkehren, der Straßengeometrie, der Zahl parkender Autos etc. (siehe VANDENBULCKE ET AL., 2013; PETCH &HENSON, 2010; REYNOLDS ET AL.,2009).

Auf Grund der beschriebenen Schwierigkeiten fordert ELVIK (2006) daher eine Abkehr von der klassischen Untersuchung einzelner Risikofaktoren. Vielmehr müssen die dahinter liegen-den Mechanismen verstanliegen-den werliegen-den, wann und warum ein Faktor zu einem Risikofaktor wird (ebd.). Laut ELVIK (2006, S.742) folgt das allgemeine Unfallgeschehen von Verkehrs-teilnehmern vier Gesetzmäßigkeiten:

1. Das Unfallrisiko sinkt, je erfahrener ein Verkehrsteilnehmer ist (law of learning).

2. Je seltener ein Ereignis auftritt resp. erfahren wird (z. B. Eis und Schnee), desto höher ist die Wahrscheinlichkeit zu verunfallen (law of rare events).

3. Je komplexer eine Verkehrssituation ist bzw. je mehr Aufmerksamkeit auf diese ge-lenkt werden muss, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit zu verunfallen (law of com-plexity).

4. Das Unfallrisiko steigt, je mehr Informationen verarbeitet werden müssen bzw. je stärker die kognitiven Kapazitäten ausgelastet sind (law of cognitive capacity).

Dies würde auch erklären, warum Kinder und Jugendliche als Radfahrer auf Grund ihrer rela-tiven Unerfahrenheit zu den besonders gefährdeten Verkehrsteilnehmern gehören. Heran-wachsende sind mit seltenen Ereignissen und komplexen Verkehrssituationen weniger vertraut und leichter überfordert als erfahrenere erwachsene Radfahrer. Hinzu kommen die ohnehin noch nicht voll entwickelten psychomotorischen Fähigkeiten bis zu einem Alter von 14 Jah-ren. Auf der anderen Seite nutzen Kinder und Jugendliche das Fahrrad deutlich häufiger als Erwachsene (siehe Kapitel 2.2) und sind allein deshalb unfallgefährdeter.

Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass die genannten Risikofaktoren ohne die Be-rücksichtigung der Exposition die Unfallgefährdung nur unzureichend erklären. Das Verhält-nis von Risikofaktoren und Exposition wird daher nachfolgend abschließend dargestellt.