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4. Organisationsweisheit in der Regula Benedicti

4.2 Gesetzmäßigkeit und Menschlichkeit

4.2.4 Ein soziales System im flexiblen Gleichgewicht

Die Adaption auf aktuelle Gestaltungsanforderungen von Organisationen im Hinblick auf die soziale Dimension beruht auf der hier vorausgesetz-ten Annahme, dass das Problem, wie in einem regelgestützvorausgesetz-ten und ziel-orientierten sozialen System Spielräume für Individualität und Subjektivi-tät sinnvoll integriert werden können, uneingeschränkt aktuell ist. Welche Hinweise lassen sich aus der Rezeption und Interpretation der RB dafür ableiten?

Bei aller fachlichen Spezialisierung und Expertentum bedarf die Sozial-gestaltung einer besonderen Ausprägung von Führung. Insbesondere für die soziale Seite von Organisation ist es wichtig, dass eine Führungskraft sich auch als Facilitator für die Förderung des Subjekts sowie – daraus abgeleitet – für die sozialen Beziehungen innerhalb der Organisation ver-steht. Die individuelle Förderung im Sinne des Subjekts und im Sinne der Produktivität basiert auf der Berücksichtigung von personellen und situa-tiven Besonderheiten. Diese machen es erforderlich, allgemeine Spielre-geln fallbezogen anzupassen. Damit kann keinesfalls eine beliebige An-wendung dieser Regeln gemeint sein; vielmehr müssen die Prinzipien e-benso transparent, verlässlich und allgemein gültig sein. Eine formale, starre und standardisierte Anwendung der Grundsätze stellt jedoch kei-nen optimalen Regelungsgrad dar.

In der Regula fällt auf, dass bestimmte Ausnahmeregelungen, die die so-ziale Dimension berücksichtigen, explizit erwähnt werden; angesprochen sind dabei die Sachverhalte, die immer wieder als Problemstellung auf-treten. Wichtig ist es sicher in jedem Fall, Ausnahmen und Abweichungen im Sinne eines Auslotens der Handlungsspielräume einer Regel nachvoll-ziehbar und begründet zu vollziehen. Gerade wenn sie einem sozialen Tatbestand geschuldet sind, darf der Gesamteindruck einer grundsätzli-chen Konformität mit den Grundsätzen nicht gefährdet werden.

Gleichbleibend aktuell ist die Vorbildfunktion einer Führungskraft ganz allgemein, im Besonderen jedoch im Hinblick auf die soziale Kompetenz.

Ihr exemplarisches soziales Handeln wird in einem hohen Maße die Sozi-algestaltung der Organisation mitbestimmen und -prägen. Insbesondere die Kongruenz von Gebrauchs- und Handlungstheorie wird die

Glaubwürdigkeit in exponierter Stellung begründen. Von besonderer Bedeutung ist dabei, dass diese wiederum mit den offiziellen Normen und Werten zumindest in Einklang zu bringen sind, d. h. widerspruchsfrei zur organisationalen Ethik sein müssen.

Neben diesem Vorbildcharakter kommt der bereits genannten Situations-sicherheit im Sinne einer adäquaten Reaktion auf eine bestimmte (soziale) Situation eine zentrale Stellung im aktuellen Qualifikationsprofil einer Leitungsperson zu.

Die Berücksichtigung individueller Erfordernisse in Korrelation zur Auf-gabenerfüllung stellt jede Organisation vor die Herausforderung, wie die Zielvorgaben mit den subjektiven und sozialen Gegebenheiten in Einklang

zu bringen sind. Individuelle Besonderheiten können dabei nie voll zur Entfaltung gebracht werden. Damit ist das bereits ausgewiesene Span-nungsverhältnis zwischen Berücksichtigung einerseits und Überbetonung andererseits angesprochen. Weiterführend kann hier der Gedanke sein, wie sich die Aufgabenerfüllung und Sozialgestaltung positiv wechselseitig beeinflussen bzw. sogar fördern können.

Aus der Textinterpretation lassen sich zwei wichtige Hinweise ableiten.

Ein gutes Gleichgewicht zwischen Unter- und Überforderung muss auf Dauer gewahrt werden. Dafür bedarf es der Beobachtung, Reflexion und Rückmeldung. Zum anderen sind die den/die Einzelnen und sein/ihr je ei-genes Aufgabengebiet abstützenden Strukturen zu nennen. Arbeit muss also so organisiert sein, dass Potenziale, Kompetenzen und Qualifikatio-nen so gut wie möglich zum Einsatz kommen und die Rahmenbedingungen sollten so gestaltet sein, dass definierte Aufgabenbereiche strukturell abgesichert und damit erfüllbar sind.

Nicht nur im Hinblick auf die Aufgabenerfüllung kommt dieser Grundsatz der Berücksichtigung individueller Besonderheiten zum Einsatz. Über-haupt kann die Verteilung von Ressourcen12 nach Maßgabe einer Vertei-lungsgerechtigkeit erfolgen, die am jeweiligen Bedarf orientiert ist – auch wiederum ohne willkürlich zu verfahren. Dieser Grundsatz ist zeitgemäß sicher nur kommunikativ umzusetzen: In der sprachlich-argumentativen Vermittlung solcher Entscheidungen ist einerseits Akzeptanz zu schaffen, andererseits Transparenz zu gewährleisten.

Die Gestaltung sozialer Beziehungen in einer Organisation, die ja primär über ihre Ziele und Funktionen definiert ist, korrespondiert eng damit, wie Sachziel und individuelle psychosoziale Belange zur Passung ge-bracht werden können. Das soziale System wurde vorab als Anwen-dungs- und Erprobungsfeld für individuelle Kompetenzen beschrieben und hierfür Schlüsselmerkmale definiert, die für jede Organisation konstitutiv sind (Selbstständigkeit, Mündigkeit,

Verantwor-tungsbereitschaft).

Damit nun die sozialen Beziehungen zum Anwendungsfeld individueller Kompetenzen einerseits, zu förderlichen Rahmenbedingungen ihrer Wei-terentwicklung andererseits werden können, muss die Sozialgestaltung

12 Dass „Aufgabe“ im Sinne von Erwerbsarbeit eine der bedeutendsten Ressourcen unserer Zeit ist, soll hier nicht unerwähnt bleiben, kann aber nicht weiter diskutiert werden.

bestimmte Merkmale erfüllen. Die Konzeptualisierung der sozialen Di-mension als produktives Klima des gegenseitigen Wettbewerbs kann wechselseitige Anreize für die Leistungs- und Einsatzbereitschaft schaf-fen. Konstruktiv bleibt dieses Klima sicher nur, solange dieser Wettbe-werb nicht eine derartige Verschärfung erfährt, dass die Zugehörigkeit zur Organisation davon abhängt und aus dem gesunden Wettbewerb eine destruktive Konkurrenz und der Kampf ums Überleben in der Organisati-on wird. An dieser Stelle kann der Hinweis auf den sportlichen Aspekt von Wettbewerb weiterführend sein – das sportive Messen der Kräfte gibt Rückmeldung über die eigene Leistungsfähigkeit und dient ihrer Weiterentwicklung.

Hinzu kommen weitere fördernde Faktoren, die sich aus der Analyse ab-leiten und übertragen lassen. Der Wettbewerb bleibt nur so lange fair, als zum kompetitiven Element das unterstützende hinzutritt: die gegenseitige Unterstützung auf einem je individuellen und doch zugleich

gemeinschaftlichen Weg. Diese Unterstützung kann als konkret-praktische Hilfeleistung fest im System institutionalisiert, d. h. über organisationale Regelungen abgesichert sein. Damit stellt die

Organisation sicher, dass Überforderung einzelner Mitglieder u. a. durch ein wechselseitiges System der Förderung vermieden wird. Diese

Unterstützung findet idealerweise auch im übertragenen Sinn als

wohlwollendes Miteinander, gegenseitige Aufmerksamkeit und positive Wertschätzung ihren Ausdruck.

Arrondiert wird dieses Klima der Wechselseitigkeit (invicem) dadurch, dass man sich gegenseitig Beispiel ist. Ein Regulativ für das Handeln der Individuen in Organisationen wäre demnach die Frage, ob man allgemein wünschen kann, dass andere in vergleichbaren Situationen so handelten, wie man es selbst tut.13 Diese Haltung setzt einen hohen ethischen Stan-dard sowohl der Einzelnen als auch des gesamten Systems und ein hohes Maß an Reflexivität voraus, wovon später noch ausführlicher zu sprechen sein wird. An dieser Stelle mag der Hinweis genügen, dass dafür ein

13 Ein Hinweis auf Kants kategorischen Imperativ darf an dieser Stelle – wenn auch in aller Kürze – nicht fehlen. Wichtig ist gleichzeitig die Abgrenzung von der so genannten „Goldenen Regel“, die utilitaris-tisch verfährt („Was Du nicht willst, dass man Dir tut, das füg´ auch keinem anderen zu!“). Kants ka-tegorischer Imperativ hingegen ist deontologisch in dem Sinne, dass es um die ethische Bewertung einer Handlung als solcher geht. An dieser Stelle wäre das Korrektiv ein absolutes: Kann ich dieses Handeln zum allgemeinen Prinzip machen, nach dem alle verfahren? Bezogen auf unseren Sachver-halt: Wäre dies der Organisation als solcher dienlich? Siehe: Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft. In: Ders.: Werke in sechs Bänden. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel. Band IV:

Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie. Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 1964a, S. 125–302. S. 140

ma der Wertschätzung, des Vertrauens und der Integrität Voraussetzung ist.

Zuletzt zählt zum System der Wechselseitigkeit das, was die Regel den gegenseitigen Antrieb nennt. Auch hier kommen die „weichen“ Faktoren des Umgangs miteinander zum Tragen wie Anerkennung und Wertschät-zung. Konkret bedeutet das, sich gegenseitig etwas zutrauen, sich ge-genseitig bestärken – auch und gerade angesichts individueller Unter-schiede. Die Orientierung an einem verbindend-verbindlichen Ziel der Organisation gibt dafür die Entwicklungsrichtung an.

Von Bedeutung ist dabei, dass Prinzipien und ihre organisationalen Rege-lungen für die gesamte Struktur kongruent sind; was in horizontaler Richtung gilt, muss sich auch in den vertikalen Positionen abbilden. Auf diese Weise wird das Wertesystem glaubwürdig durchdekliniert und Ver-lässlichkeit gestiftet. Nochmals zu betonen ist an dieser Stelle die Bei-spielfunktion der Führungspositionen; wenn sie als Personen glaubhaft zum Ausdruck bringen, was die Organisation insgesamt als ihre Hand-lungstheorie benennt, erfüllen sie ihre Vorbild- und Multiplikatorenfunk-tion. Widersprüche und Ungereimtheiten bei der Umsetzung und Anwen-dung von Regelungen und Prinzipien auf unterschiedlichen Hierarchie-Ebenen stiften sicher nicht zur Einhaltung von Vorgaben an, die an ande-rer Stelle bewusst gebrochen werden.

Die Binnenordnung einer Organisation resultiert aus ihrem internen Wer-te- und Bezugssystem. Auch wenn das Thema „informelle Struktur“ im Organisationsdiskurs etwas aus der Mode gekommen ist,14 spielt es für die Sozialgestaltung eine nach wie vor bedeutende Rolle. Natürlich wer-den in Organisationen immer auch die externe Wertung und der Status der Personen einfließen. Innovativ ist gleichwohl der Gedanke, eine in-nere Ordnung der Organisation zu stärken, die auf der internen System-logik beruht. Wenn hinter diesen internen Maßstäben – Ziele der Organi-sation, ihre Funktionen, deren quantitative und qualitative Beschreibung – andere Statusmerkmale zurücktreten, bedeutet dies eine Art innere

Chancengleichheit. Prominent ist, wer sich im System nachweislich be-währt!

14 Viel Aufmerksamkeit wurde dem Thema zuteil, nachdem man – quasi als Nebenprodukt im Rahmen eines anderen Experiments (Howthorne) – diese informellen Beziehungen entdeckt hatte, die gleich-sam quer zu den formalen Strukturen liegen. Diese Erkenntnis läutete eine neue Epoche der Organisationstheorie ein – die Human-Relations-Bewegung (siehe dazu Kapitel 2.1.3.2 und 2.1.4).

Als erneuerndes und damit systemerhaltendes Moment wurde in der hermeneutischen Analyse die Vergebung fokussiert. Eine Übersetzung dieses christlichen Grundbegriffs auf allgemeinere Zusammenhänge könnte eine institutionalisierte, regelmäßige Form der Konfliktlösung sein. So unausweichlich es für menschliche Beziehungen ist, im sozialen Miteinander auch Fehler zu begehen, so konstitutiv ist es im Sinne einer Erhaltung und Erneuerung des Systems, dem Misslingen das Vertrauen auf einen Neuanfang entgegenzusetzen. In geeigneter Form sollte dieser Neuanfang regelmäßig praktiziert und damit institutionalisiert werden, um negative Langzeitfolgen schwelender Missverständnisse, Verletzungen und Konflikte zu vermeiden.