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4. Organisationsweisheit in der Regula Benedicti

4.5 Kompetenzerschließung

4.5.2 Das organisationale Trainingsprogramm

Der Zusammenhang und Übergang von individuellem zu organisationalem Lernen lässt sich auf der Ebene des Erschließungslernens zweifach fas-sen. Es gibt einerseits einen formal-strukturellen Übergang, andererseits inhaltliche Bezugs- und Anknüpfungspunkte. Form und Inhalt sind eng miteinander verbunden.

Formal fällt an den Bestimmungen auf, dass die Ausführungen, die die individuellen Kompetenzen beschreiben, ihre organisationale Entspre-chung haben. Alle Schlüsselqualifikationen werden sowohl horizontal als auch vertikal durchdekliniert. Das bedeutet, dass die beschriebenen Tu-genden zum einen für die sozialen Beziehungen und die Interaktionen un-tereinander (vertikale Beziehungen) Gültigkeit haben. Zum anderen wer-den sie ebenso auch auf die Hierarchie-Ebenen, längs durch die Linien-Organisation (horizontale Beziehungen) angewandt. Auf diese Weise bil-det die Organisation selbst Schlüsselqualifikationen aus, die sie in ihren internen Prozessen zur Entfaltung bringt und nach außen repräsentiert.

So werden auf der formalen Ebene Voraussetzungen geschaffen, die es nicht nur begünstigen, die geforderten personalen Kompetenzen in und für die Organisation einzusetzen, sondern dies für die interne Struktur und Abläufe nachgerade zur Bedingung machen. Die gesamte Organisati-on bildet damit ein Kompetenzprofil ab und aus, das die Entwicklung die-ser Qualifikationen beim Subjekt nachhaltig und konsequent fordert und fördert. Auf diese Weise wird eine wechselseitige Verschränkung von individuellem und organisationalem Lernen, von Bildung und Entwicklung institutionalisiert.

Dieser Sachverhalt ist eng verbunden mit dem Themenkomplex „Organi-sationskultur“, der schon mehrfach zur Sprache kam. Die Institutionali-sierung von organisationalen Kernkompetenzen hat nicht nur formale As-pekte, sondern wirkt sich auch auf die Kultur der Organisation aus. Hier-zu zählen nicht nur die gelebten „arbeits- und kooperationsbezogenen Werte und Grundüberzeugungen“29, sondern auch deren Verortung und Verankerung im Rahmen einer übergeordneten Ethik. Von besonderer Bedeutung sind dabei die Leitungsfunktionen, weil sich im Verhalten der Führungskräfte „die faktisch gelebten Werte derjenigen zeigen, die in der Organisation Macht haben“ und somit hohen Einfluss auf das Verhalten der anderen Organisationsmitglieder ausüben.30

29 Geißler, 2001, S. 248

30 Siehe Geißler, 2001, S. 248f

Geißler geht bei seinen Ausführungen zur Organisationskultur davon aus, „dass sie sich weitgehend unbewusst entwickelt“ (S. 249). Dafür fanden sich in den bisherigen Ausführungen viele Beispiele und Hinweise, die jedoch an dieser Stelle um Aspekte aus der Dimension des expliziten Lernens ergänzt werden können. Denn die Herausbildung von organisationalen Schlüsselkompetenzen im Rahmen des Erschließungslernens erfolgt ja als bewusster, intendierter und steuerbarer Lernprozess. Genau das also, was Geißler weitergehend als „aufgeklärte Gestaltung“ (S. 249) fordert.

In inhaltlicher Hinsicht werden die grundlegenden extrafunktionalen Qua-lifikationen in eigens dafür vorgesehenen Bestimmungen auf die gesamte Organisation übertragen. Aus den für die individuelle Ebene beschriebe-nen Merkmalen werden qualitative Anforderungen für die vertikalen und horizontalen Beziehungen abgeleitet. Die hermeneutische Analyse dieser Passagen in der Zusammenschau mit dem Anforderungsprofil an den/die Einzelnen hat Anschlussmöglichkeiten für eine Adaption aufgezeigt.

Vorab wurde auf der subjektiven Ebene die rezeptive Grundhaltung (Ge-horsam) beschrieben. In einer organisationalen Fortführung folgt daraus – wie die hermeneutische Analyse erwiesen hat – die Offenheit zum Dialog;

eine generelle Gesprächsbereitschaft und -fähigkeit beruht auf dieser Grundeinstellung des Hörens. Dazu gehört auch der Mut zur Auseinan-dersetzung und die Bereitschaft, gemeinsam um Lösungen zu ringen. Erst auf der Basis einer auf- und annehmenden Haltung kann ein aufrichtiger und ergebnisoffener Aushandlungsprozess erfolgen. Diese Dialogfähigkeit integriert sowohl die Sachaspekte als auch die sozialen Tatsachen.

Die beiden anderen Tugenden führen auf der Ebene der Organisation zu einem für soziale Situationen konstitutiven Grundwert: Wertschätzung.

Die reflexive Selbstprüfung und -kenntnis schärft das Bewusstsein für persönliche Entwicklungspotenziale, aber auch für die Grenzen der eige-nen Person. Ein – hier sehr wohl intendierter – Nebeneffekt ist, dass auch der/die andere mit den jeweiligen Entwicklungsherausforderungen wahr- und ernst genommen wird. Die Wertschätzung, die sich am We-sentlichen orientiert, bildet eine solide Grundlage für ein faires und lern-förderliches Miteinander. In solchem Klima kann sich das individuelle Lernen auch und gerade als ein Lernen von- und aneinander gestalten, hier werden abstrakte Werte konkretisiert und verwirklicht.

Es geht an dieser Stelle aber nicht darum, eine Art „Wärmestubenatmo-sphäre“ zu propagieren. Aus anderer Perspektive gesellen sich zu diesen sozialen Implikationen – gleichsam komplementär – Aufgaben und Her-ausforderungen, deren Anforderungscharakter nicht verharmlost werden darf. Gegenseitige Wertschätzung und ein stark ausgeprägtes Bewusst-sein für Bildungs- und Entwicklungsprozesse bei sich selbst, den ande-ren und dem gesamten sozialen System resultieande-ren in einem hohen Leis-tungsanspruch. Im Rahmen des organisationalen Bedingungsgefüges be-weist sich erst die individuelle Kompetenz, die konstitutiv ist für die Or-ganisation und ihre weitere Entwicklung. Überleben und Fortschritt der

Organisation hängen nach dieser Lesart von allen ab, von jedem/r Einzel-nen.

In der Analyse tauchten zwei Begriffe auf, die diese Doppelseitigkeit sprachlich charakterisieren: Wettbewerb und Geduld. Im Wettbewerb be-gegnet dem Subjekt die Leistungsanforderung und -herausforderung des Systems, in der Geduld humanitäre Weisheit, Verständnis und Rücksicht.

Es gilt beide Elemente auf einem Kontinuum zwischen den Extrempolen in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen, so dass kein Stillstand ent-steht. Erst im Zusammenspiel beider Elemente entsteht eine Dynamik, die sozusagen das Geschäft belebt; professioneller Anspruch und menschli-ches Verständnis geraten in eine fruchtbare dialektische Wechselwir-kung.