Als Vorbereitung f¨ur das Studium von Bilinearformen wollen wir zun¨achst eine besonders wich-tige Klasse linearer Abbildungen betrachten.
Definition 6.1.1
Sei K ein beliebiger K¨orper und V ein K–Vektorraum. Dann heißt derK-Vektorraum V∗ := HomK(V, K) ={ϕ:V →K|ϕlinear}
der Dualraum von V. Die Elemente vonV∗ heißen Linearformen auf V. Beispiele 6.1.2.
Sei K =Rund V der Vektorraum der stetigen reellwertigen Funktionen auf dem abgeschlosse-nen Intervall [a, b]. Dann sind die Abbildungen
ϕ, ψ: V →R mit
ψ(f) =f(a) und ϕ(f) = Z b
a
f(x)dx oder allgemeiner f¨urx∈[a, b] bzw.g ∈V die Abbildungen
ψx(f) =f(x) und ϕg(f) = Z b
a
f·gdx Linearformen auf V.
Betrachtung 6.1.3.
Sei dimKV <∞. Aus Korollar 3.2.17 folgt
dimKV∗ = dimKHomK(V, K) = dimKV ·dimKK = dimKV .
Sei nun Beine Basis von V,B={b1, . . . , bn}. Definiere Linearformenb∗j ∈V∗ durch ihre Werte auf den Basisvektoren bi, vgl. Satz 3.2.1
b∗j(bk) =δj,k , woraus sofort folgt
b∗j
n
X
k=1
αkbk
!
=αj .
Wir behaupten, dass B∗ = {b∗1, . . . , b∗n} eine Basis von V∗ ist. Wegen dimV∗ = dimV = n reicht es zu zeigen, dass B∗ linear unabh¨angig ist: gelte also
n
X
k=1
αkb∗k = 0 mit αk∈K ; dann gilt aber f¨ur jedes j = 1, . . . , n:
0 =
n
X
k=1
αkb∗k(bj) =αj .
Definition 6.1.4
Die BasisB∗ vonV∗heißt die zuBduale Basis. IstBeine geordnete Basis, so ist auch die duale Basis B∗ in nat¨urlicher Weise eine geordnete Basis.
Lemma 6.1.5.
Sei V ein beliebiger K–Vektorraum und sei v ∈V \ {0}. Dann gibt es eine Linearform ϕ∈V∗ mit ϕ(v)6= 0.
Beweis.
Erg¨anze (v) zu einer Basis (v, w1, . . . , wn−1) vonV. Definiere die Linearformϕ∈V∗ durch ihre Werte auf dieser Basis, vgl. Satz 3.2.1:
ϕ(v) = 1 ϕ(wi) = 0 i= 1, . . . , n−1.
Bemerkung 6.1.6.
Wegen dimKV = dimKV∗ f¨ur dimKV < ∞ sind ein endlich-dimensionaler Vektorraum und sein Dualraum isomorph. Jede geordnete Basis B von V liefert einen Isomorphismus
ΨB : V →V∗
mit ΨB(bi) :=b∗i. Dieser Isomorphismus ist jedochnicht kanonisch, d.h. er h¨angt von der Wahl der Basis B ab. Sei etwa α∈ K\ {0}, und betrachte die reskalierte Basis B0 = (αb1, . . . , αbn).
Wegen
b∗j(bk) =δjk = (b0j)∗(b0k) = (b0j)∗(αbk) =α(b0j)∗(bk)
folgt (b0j)∗ =α−1b∗j. Somit ist die duale Basis (B0)∗ = (α−1b∗1, . . . , α−1b∗n). Es ist ΨB0(b0i) = (b0i)∗
und somit f¨ur alle 1≤i≤n
ΨB0(bi) = ΨB0(α−1b0i) =α−1ΨB0(b0i) =α−1(b0i)∗ =α−2b∗i =α−2ΨB(bi), weshalb die Isomorphismen ΨB0 und ΨB f¨ur α6=±1 verschieden sind, ΨB0 =α−2ΨB.
Da es also f¨ur eine Identifizierung eines Vektorraums mit seinem Dualraum keinen ausge-zeichneten Isomorphismus gibt, sollten die beiden Vektorr¨aume nicht miteinander identifiziert werden.
Definition 6.1.7
Sei V ein K–Vektorraum und M ⊂V eine Teilmenge. Dann heißt
M0 :={ϕ∈V∗|ϕ(m) = 0 f¨ur allem ∈M} ⊂ V∗ der Annulator der Teilmenge M.
Lemma 6.1.8.
Es gilt:
1. M0 ist ein Untervektorraum von V∗.
2. spanKM ={v ∈V|ϕ(v) = 0 f¨ur alle ϕ∈M0}
Ist insbesondere M =U ein Untervektorraum von V, so gilt U ={v ∈V|ϕ(v) = 0 f¨ur alle ϕ∈U0}. 3. Ist dimKV <∞ und U ⊂V Untervektorraum, so gilt
dimKU◦ = dimKV −dimKU .
Beweis.
1. ist offensichtlich.
2. “⊂” Sei v =∈spanKM beliebig. Finde αi ∈K und mi ∈M, so dass gilt v =Pj
i=1αimi. F¨ur jede Linearformϕ∈M0 im Annulator gilt wegen ϕ(i) = 0, dass
ϕ(v) =X
i
αiϕ(mi) = 0.
“⊃” Angenommen, es g¨abev ∈V mit ϕ(v) = 0 f¨ur alleϕ∈M0 und v 6∈spanKM. W¨ahle eine geordnete Basis (u1, . . . , um) von spanKM; dann ist die Familie (u1, . . . , um, v) linear unabh¨angig und kann zu einer geordneten Basis (u1, . . . , um, v, w1, . . . , wl) vonV erg¨anzt werden. Definiere ϕ∈V∗ durch
ϕ(ui) = 0 ϕ(v) =ϕ(wj) = 1.
Dann ist ϕ ∈ M0, aber ϕ(v) = 1. Widerspruch zur Annahme, dass ϕ(v) = 0 f¨ur alle ϕ∈M0 , also muss v ∈spanKM gelten.
3. Erg¨anze eine geordnete Basis von U zu einer geordneten Basis (u1, . . . , uk, vk+1, . . . , vn) von V. Sei B∗ = (u∗1, . . . , u∗k, v∗k+1, . . . , v∗n) die duale Basis von V∗. Dann liegt
ϕ=
k
X
i=1
αiu∗i +
n
X
j=k+1
αiv∗i
genau dann in U0, wenn f¨ur allej = 1, . . . , k gilt 0 =ϕ(uj) = αj
Dies ist aber genau der Fall f¨ur ϕ ∈ spanK(v∗k+1, . . . , vn∗). Somit ist (vk+1∗ , . . . , vn∗) eine Basis von U0 ⊂V∗, und es gilt
dimKU0 =n−k = dimKV −dimKU .
Beispiel 6.1.9.
1. Sei dimKV <∞ und U ⊂V eine Hyperebene, d.h. ein Untervektorraum der Dimension dimKU = dimKV −1.
Nach Lemma 6.1.8.3 ist
dimKU0 =n−(n−1) = 1.
Also U0 = spanK(ϕ) f¨ur jedes ϕ ∈ U0 \ {0}. Nach Lemma 6.1.8.2 gilt f¨ur jede solche Linearform ϕ
U ={v ∈V|ϕ(v) = 0}.
2. Betrachten wir nun allgemeiner die affine Hyperebene v0+U, so gilt v ∈v0+U ⇔v−v0 ∈U
⇔ϕ(v−v0) = 0
⇔ϕ(v) = ϕ(v0) =:c Wir finden also f¨ur jede affine Hyperebene eine Darstellung
U+v0 ={v ∈V|ϕ(v) =c}
Dies ist eine Hessesche Normalform der affinen Hyperebene v0 +U. Sie ist eine koordi-natenfreie Version der Gleichungsform einer Hyperebene, f¨ur die man kein Skalarprodukt auf V einf¨uhren muss und stattdessen mit dem Dualraum arbeitet.
Definition 6.1.10
Seien V, W zwei K–Vektorr¨aume und sei Φ : V → W eine lineare Abbildung. Dann heißt die Abbildung
Φ∗ :W∗→V∗ ϕ 7→ϕ◦Φ die zu Φ duale Abbildung.
Lemma 6.1.11.
1. Φ∗ ist eine lineare Abbildung.
2. SeienV, W, Z jeweilsK-Vektorr¨aume und Φ : V →W und Ψ :W →Z lineare Abbildun-gen. Dann gilt (Ψ◦Φ)∗ = Φ∗◦Ψ∗ .
Beweis.
1. Seien ϕ1, ϕ2 ∈W∗ und α1, α2 ∈K. Wir rechnen f¨ur v ∈V Φ∗(α1ϕ1+α2ϕ2) (v) = (α1ϕ1+α2ϕ2) (Φv)
=α1ϕ1(Φv) +α2ϕ2(Φv)
=α1Φ∗ϕ1(v) +α2Φ∗ϕ2(v)
= (α1Φ∗ϕ1+α2Φ∗ϕ2) (v).
2. Es gilt f¨ur alle ϕ∈Z∗ wegen der Assoziativit¨at der Verkettung von Abbildungen (Ψ◦Φ)∗(ϕ) = ϕ◦(Ψ◦Φ) = (ϕ◦Ψ)◦Φ = (Ψ∗ϕ)◦Φ = Φ∗(Ψ∗(ϕ)) = (Φ∗◦Ψ∗) (ϕ).
Satz 6.1.12.
SeienV, W endlich–dimensionaleK–Vektorr¨aume mit geordneten BasenAundB. Sei Φ : V → W eine lineare Abbildung. Dann ist die darstellende Matrix der dualen Abbildung bez¨uglich der dualen Basen:
MAB∗∗(Φ∗) =MBA(Φ)t . Beweis.
• Es gilt mit MBA(Φ) = (ckj) und MBA∗∗(Φ∗) = (dµν) nach der Definition der darstellenden Matrix
Φ(aj) =
m
X
k=1
ckjbk mit m:= dimW, f¨ur allej = 1,2, . . . ,dimV Φ∗ b∗µ
=
n
X
ν=1
dνµa∗ν f¨ur alleµ= 1,2, . . . ,dimW mit n := dimV
• Wir vergleichen
b∗µ(Φ(aj)) =b∗µ
m
X
k=1
ckjbk
!
=
m
X
k=1
ckjb∗µ(bk) =cµj b∗µ(Φ(aj)) = Φ∗ b∗µ
(aj) =
n
X
ν=1
dνµa∗ν(aj) =djµ.
Satz 6.1.13.
Seien V, W endlich-dimensionale K–Vektorr¨aume und sei Φ : V → W linear. Dann gilt f¨ur Φ∗ :W∗ →V∗
Im Φ∗ = (ker Φ)◦ ⊂ V∗ ker Φ∗ = (Im Φ)◦ ⊂ W∗ Beweis.
• Wir zeigen zuerst die Inklusion Im Φ∗ ⊂(ker Φ)◦. Sei ϕ∈Im Φ∗, d.h. ϕ= Φ∗(ψ) f¨ur ein ψ ∈W∗. F¨ur jedes v ∈ker Φ gilt dann
ϕ(v) = Φ∗(ψ)(v) =ψ(Φ(v)) =ψ(0) = 0, also ϕ∈(ker Φ)◦.
• Sei umgekehrt ϕ ∈ (ker Φ)◦. Wir m¨ussen ein Urbild von ϕ konstruieren. Finde dazu mit Hilfe von Bemerkung 3.7.8.4 geordnete Basen A = (v1, . . . , vn) von V und B = (w1, . . . , wm) vonW, so dass die darstellende Matrix von Φ die Gestalt
MBA(Φ) =
Er 0
0 0
hat. Definiere ψ ∈W∗ auf der Basis B von W durch ψ(wj) =
(ϕ(vj)∈K j = 1, . . . , r 0 f¨ur j ≥r+ 1 . Dann gilt f¨ur j = 1, . . . , r
Φ∗(ψ)(vj) = ψ(Φvj) = ψ(wj) =ϕ(vj) und f¨urj ≥r+ 1
Φ∗(ψ)(vj) = ψ(Φvj) = ψ(0) = 0 .
Andererseits folgt aus ker Φ = spanK(vr+1, . . . , vn) und ϕ∈(ker Φ)◦ ebenfalls ϕ(vj) = 0.
Also ist Φ∗(ψ) =ϕ, also ϕ∈Im Φ∗.
• Die andere Aussage folgt mit ¨ahnlichen Argumenten.
Korollar 6.1.14.
Es ist rg Φ∗ = rg (Φ).
Beweis.
rg Φ∗ = dimKIm Φ∗ = dimK(ker Φ)◦ (nach Satz 6.1.13)
= dimK(V)−dimKker Φ (nach Satz 6.1.8.3)
= dimKIm Φ (wegen der Dimensionsformel 3.1.7)
= rg Φ.
Wegen
rg Φ = rgMBA(Φ) und
rg (Φ∗) = rg MAB∗∗(Φ∗)
= rgMBA(Φ)t =rgfMBA(Φ)
folgt aus Korollar 6.1.14 erneut die Aussage, dass Zeilen- und Spaltenrang einer Matrix ¨ uber-einstimmen, vergleiche Satz 3.7.13.
Definition 6.1.15
Sei V ein K–Vektorraum. Dann heißt derK-Vektorraum V∗∗:= (V∗)∗ = HomK(V∗, K) der Bidualraum von V.
Betrachtung 6.1.16.
Betrachte zu einem Vektor v ∈ V die Abbildung, die eine Linearform auf diesem Vektor aus-wertet:
ιV(v) : V∗ →K ϕ7→ϕ(v)
Die Abbildung ιV(v) ist linear, denn
ιV(v)(α1ϕ1+α2ϕ2) = (α1ϕ1+α2ϕ2)(v) = α1ϕ1(v) +α2ϕ2(v) =α1ιV(v)ϕ1+α2ιV(v)ϕ2 , also ist ιV(v)∈V∗∗. Wir haben also f¨ur jedenK–VektorraumV eine Abbildung
ιV : V →V∗∗
Satz 6.1.17.
1. ιV ist eine injektive lineare Abbildung.
2. Ist dimKV <∞, so istιV ein Isomorphismus. Er heißt dann kanonischer Isomorphismus.
3. Diese Abbildungen sind funktoriell: seien V, W jeweilsK–Vektorr¨aume und sei Φ : V → W linear. Dann kommutiert das folgende Diagramm:
V Φ //
ιV
W
ιW
V∗∗
Φ∗∗ // W∗∗
Beweis.
1. Es gilt f¨ur α1, α2 ∈K, v1, v2 ∈V und alle ϕ∈V∗
ιV(α1v1+α2v2)(ϕ) =ϕ(α1v1+α2v2) =α1ϕ(v1) +α2ϕ(v2)
= (α1ιV(v1) +α2ιV(v2)) (ϕ).
Also ist ιV eine lineare Abbildung. Sei v ∈ V mit ιV(v) = 0. Dann gilt f¨ur alle ϕ ∈ V∗: 0 = ιV(v)ϕ=ϕ(v). Nach Lemma 6.1.5 muss dann aber v = 0 gelten.
2. Ist dimKV <∞, so gilt
dimKV∗∗ = dimKV∗ = dimKV . Nach 1. ist ιV injektiv, also auch bijektiv.
3. Seiv ∈V und ϕ∈W∗. Es gilt
(Φ∗∗◦ιV(v)) (ϕ) = Φ∗∗(ιV(v)) (ϕ) = ιV(v) (Φ∗(ϕ)) = Φ∗(ϕ)(v) =ϕ(Φ(v)) . Andererseits ist
(ιW ◦Φ(v))ϕ=ιW(Φ(v)(ϕ) = ϕ(Φ(v)) . Somit ist
Φ∗∗◦ιV(v) =ιW ◦Φ(v) f¨ur allev ∈V .