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Diskriminierungserfahrungen in Deutschland

1.2 Wie wird Diskriminierung definiert und verstanden?

1.2.1 Diskriminierung nach dem AGG

Das im Jahre 2006 in Kraft getretene AGG schärft den Begriff der Diskriminierung deutlich, indem es die geschützten Diskriminierungsmerkmale nennt und die verschiedenen Formen umfassend definiert. Dabei verwendet das deutsche Recht den Begriff der Benachteiligung8, während die europäischen Rechtsquellen von Diskriminierung sprechen. Der folgende Dreischritt beschreibt die drei wesentlichen Begriffsbaustei-ne und ein rechtliches Prüfschema gleichermaßen:

7 Diese Rechtsnormen sind z. B. Art. 3 Abs. 2 und 3 GG, § 33c SGB I, § 7 Abs. 1 BGG, Menschenrechtliche Übereinkommen.

8 Die Evaluation des AGG schlägt vor, dass der Begriff der Benachteiligung durch den der Diskriminierung ersetzt werden müsse, um einerseits den Zielvorgaben der europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien gerecht zu werden sowie andererseits durch präzise Begriffsbestimmungen Rechtssicherheit zu stärken und eine gesellschaftliche Bewusstseinsbildung zu befördern (ADS 2016d, S. 25).

Eine Diskriminierung liegt vor, wenn Menschen (1) in einer vergleichbaren Situation schlechter behandelt werden, diese Schlechterbehandlung (2) an ein schützenswertes Merkmal anknüpft und (3) kein sach-licher Rechtfertigungsgrund dafür vorliegt.

Diskriminierung =

Benachteiligung + geschütztes Diskriminierungsmerkmal + kein sachlicher Grund

Diskriminierungsformen

Jede Form einer weniger günstigen Behandlung ist eine Benachteiligung. Dabei kommt es nicht darauf an, dass die Benachteiligung vorsätzlich durch eine abwertende Haltung oder böswillige Absicht motiviert ist.

Entscheidend für die Diskriminierung ist der nachteilige Effekt, der bei den Betroffenen durch die Un-gleichbehandlung entsteht. Dem tragen die Diskriminierungsformen Rechnung, die in § 3 AGG beschrie-ben werden.

Eine unmittelbare Benachteiligung liegt vor, wenn die Ungleichbehandlung direkt an einem der Diskri-minierungsmerkmale ansetzt, z. B. bei Stellenausschreibungen mit diskriminierenden Altersgrenzen (Al-ter), bei Kündigung wegen Schwangerschaft (Geschlecht) oder einer Verweigerung der Mitgliedschaft im Fitnessstudio wegen der ethnischen Herkunft (rassistische Diskriminierung).

Demgegenüber resultieren mittelbare Diskriminierungen aus scheinbar neutralen Kriterien, Praktiken oder Regelungen, die zunächst für alle gleichermaßen gelten. In ihrem Effekt aber wirken sie sich auf be-stimmte Gruppen stärker benachteiligend aus als auf andere. So ist beispielsweise eine Stellenanzeige mit-telbar diskriminierend, wenn diese von den Bewerber_innen Deutsch als Muttersprache für die Tätigkeit in einer Gärtnerei verlangt. Diese Tätigkeit stellt geringe Anforderungen an die Sprachkompetenz, schließt aber mit einer solchen Forderung diejenigen aus, die Deutsch nicht als Muttersprache sprechen, z. B. zuge-wanderte Menschen. Ein solches Stellengesuch wäre ein Indiz für eine mittelbare Diskriminierung wegen der ethnischen Herkunft.

Das AGG beschreibt die Belästigung als weitere Form der Diskriminierung. Belästigungen sind uner-wünschte Verhaltensweisen, die eine Person wegen eines nach dem AGG geschützten Merkmals ein-schüchtern, beleidigen oder erniedrigen und ein feindliches Umfeld schaffen oder zu schaffen bezwe-cken. Belästigungen können Teil von Mobbingkontexten sein. Mobbing definiert sich dadurch, dass die würdeverletzenden Handlungen über einen längeren Zeitraum andauern, zielgerichtet und systematisch stattfinden und auf eine Persönlichkeitsverletzung der gemobbten Person abzielen. Mobbing kann an ein AGG-Merkmal anknüpfen, in diesen Fällen können Belästigungen und sexuelle Belästigungen Elemente von Mobbing sein. Mobbing muss allerdings nicht mit AGG-Merkmalen im Zusammenhang stehen, son-dern kann beispielsweise auf Spannung in der Arbeitseinheit, Machtkämpfen oder persönlichen Abnei-gungen beruhen (ADS 2014e, S. 55 ff.). Im Gegensatz zu Belästigung ist für den Tatbestand des Mobbings ein Vorsatz erforderlich.

Eine spezifische Form der Belästigung ist die sexuelle Belästigung, die durch ein unerwünschtes sexuell bestimmtes Verhalten verursacht wird. Diese Verhaltensweisen können z. B. unangemessene sexuelle An-spielungen, unerwünschte E-Mails mit sexuellem Inhalt, das Verbreiten pornografischen Materials oder unangemessene körperliche Berührungen sein. Die sexuelle Belästigung verletzt die Würde der betroffe-nen Person. Dabei geht es nicht darum, ob die Würdeverletzung beabsichtigt ist. Überwiegend sind Frauen

von sexueller Belästigung betroffen. Das Diskriminierungsverbot durch sexuelle Belästigung gilt aber in gleicher Weise auch beispielsweise für Männer, Trans*Personen9 und intergeschlechtliche Menschen.

Schließlich gilt auch die Anweisung zur Benachteiligung als Diskriminierung, wenn beispielsweise ein_e Geschäftsführer_in einer Drogeriekette die Personalverantwortlichen anweist, Bewerbungen von kopf-tuchtragenden Frauen von vornherein abzulehnen.

Diskriminierungsmerkmale

Im Alltagsverständnis werden viele Abwertungs- und Ungerechtigkeitserfahrungen von Betroffenen als Diskriminierung benannt. Aber nicht jede Ungleichbehandlung ist auch eine Diskriminierung im recht-lichen Sinne. Der juristische Diskriminierungsbegriff grenzt Diskriminierung auf diejenigen Benachteili-gungen ein, die an wesentliche und meist unveränderbare Identitätsmerkmale von Menschen anknüp-fen. Diese Merkmale10 sind im Diskriminierungsschutz nicht willkürlich festgelegt, sondern mit historisch gewachsenen Machtstrukturen verknüpft. So ist z. B. das Merkmal der ethnischen Herkunft bzw. „Rasse“

eine Kategorie, die nicht ohne Rassismus und Kolonialismus gedacht werden kann.

Statt von Merkmalen spricht das AGG in § 1 von den folgenden sechs „Diskriminierungsgründen“: „Ras-se“ (rassistische Diskriminierung) und die ethnische Herkunft, das Geschlecht, die Religion und/oder Welt-anschauung, eine Behinderung, das Alter sowie die sexuelle Identität.

Das Merkmal der ethnischen Herkunft11 bezieht sich auf Kategorien wie Hautfarbe, äußere Erscheinung, Sprache oder Migrationshintergrund12. Die Staatsangehörigkeit ist nicht durch das AGG direkt geschützt, kann aber mittelbar als rassistischer Diskriminierungsgrund gewertet werden, wenn beispielsweise ein_e Wohnungsbesitzer_in pauschal nicht an Syrer_innen vermieten will. Der Schutzumfang gegen rassistische Diskriminierungen ist im Vergleich zu den anderen Diskriminierungsgründen aus § 1 AGG der umfas-sendste. Er erstreckt sich auf alle Verträge, die den Zugang zu Gütern und Dienstleistungen regeln, während dies bei den anderen Merkmalen nur in Bezug auf Verträge der Fall ist, die sog. Massengeschäfte darstellen.

Diskriminierungen wegen des Geschlechts beziehen sich auf alle Geschlechter bzw. Geschlechtsidentitä-ten, neben Frauen und Männern also beispielsweise auch auf trans* und intergeschlechtliche Menschen.

Benachteiligungen wegen Schwangerschaft und Mutterschaft fallen ebenfalls unter den Schutzgrund Ge-schlecht.

Die Diskriminierungsmerkmale Religion und Weltanschauung sind im AGG zusammengefasst, genie-ßen aber nicht denselben Schutzumfang. Benachteiligungen wegen einer Weltanschauung sind nur im Arbeitsrecht, nicht aber im zivilrechtlichen Diskriminierungsschutz verboten.

9 Trans* ist ein Oberbegriff für verschiedene Geschlechtsidentitäten, z. B. transgender, transsexuell oder transident. Das Stern-chen ist ein Platzhalter für diese verschiedenen Identitäten.

10 Da viele Diskriminierungen sich nicht auf tatsächlich vorhandene Merkmale beziehen, sondern auf Zuschreibungen beruhen, werden diese Diskriminierungsmerkmale auch oft als Dimensionen von Diskriminierung oder Diskriminierungskategorien be-schrieben (ADS 2014e, S. 35).

11 § 1 AGG verbietet Benachteiligungen aus Gründen der „Rasse“ oder ethnischen Herkunft. Der hochproblematische Begriff der

„Rasse“ sollte ersetzt werden durch „rassistische Diskriminierung“ (ADS 2016d, S. 38 ff. Cremer 2010).

12 Laut Definition des Statistischen Bundesamtes hat eine Person einen Migrationshintergrund, „wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren wurde. Im Einzelnen umfasst diese Definition zugewanderte und nicht zugewanderte Ausländer, zugewanderte und nicht zugewanderte Eingebürgerte, (Spät-)Aussiedler sowie die als Deutsche geborenen Nachkommen dieser Gruppen“ (Statistisches Bundesamt 2016d). Zur Kritik am Konzept des Migrationshintergrunds siehe Kapitel 1.7.1.

Das AGG verbietet weiterhin Benachteiligungen wegen einer Behinderung. Das Verständnis von Behinde-rung umfasst neben körperlichen Beeinträchtigungen auch chronische Krankheiten und psychische Be-einträchtigungen, beispielsweise HIV-Erkrankungen, Depression oder schweres Rheuma. Da das AGG den Begriff der Behinderung nicht näher definiert, ist dabei neben der Definition aus dem Sozialgesetzbuch auch die Begriffsbestimmung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) heranzuziehen. Diese betont, dass Behinderungen durch Barrieren verursacht sowie Teilhabe und Nichtdiskriminierung durch den Abbau dieser baulichen, organisationalen und einstellungsbedingten Barrieren befördert werden.

Mit dem Diskriminierungsmerkmal Alter ist jedes Lebensalter gemeint: Es bezieht also jüngere Menschen sowie auch ein hohes Lebensalter mit ein.

Schließlich gilt der Schutz vor Diskriminierung auch in Bezug auf die sexuelle Identität, was Benachteiligun-gen beispielsweise aufgrund von homosexuellen, bisexuellen oder heterosexuellen Lebensweisen umfasst.

Ob eines oder mehrere dieser Merkmale tatsächlich vorliegen oder nur zugeschrieben werden, ist für das Vorliegen einer Diskriminierung nicht wichtig. Zentral für die Beurteilung als Diskriminierung ist viel-mehr, dass die Betroffenen bestimmten Gruppen zugeordnet werden – unabhängig davon, ob sich diejeni-gen selbst dieser Kategorie zugehörig fühlen.

Ein Blick auf internationale Menschenrechtskonventionen zeigt, dass die Beschränkung auf die im AGG aufgeführten sechs Diskriminierungsmerkmale nicht abschließend sein muss. So wird in der Europäischen Grundrechtecharta explizit auch das Merkmal der „sozialen Herkunft“ (Art. 21 GRC) genannt. Die Europä-ische Menschenrechtskonvention (EMRK) bezieht das Diskriminierungsverbot z. B. auch auf die politEuropä-ische und sonstige Anschauung, auf das Vermögen, auf die Geburt oder den sonstigen Status (§ 14 EMRK). Die Auf-zählung der EMRK ist beispielhaft und offen für weitere Kategorien. Diese Strukturoffenheit spiegelt sich in der Auswahl an Diskriminierungsmerkmalen, die die europäischen Mitgliedstaaten in ihren jeweiligen An-tidiskriminierungsgesetzgebungen getroffen haben13. So ist beispielsweise der soziale Status ein Schutzgrund in einigen Staaten (z. B. Kroatien, Spanien, Schweiz), ebenso wie der Personenstand/die Familiensituation (Belgien, Frankreich, Estland) oder die politische Einstellung (z. B. Dänemark, Bulgarien, Italien, Norwegen).

Auch im vorliegenden Bericht wird auf Merkmalsdimensionen außerhalb der durch §1 AGG definierten Diskriminierungsmerkmale eingegangen, insbesondere auf das der „Sozialen Herkunft“. Mit der Kategorie

„Soziale Herkunft“ werden dabei im Folgenden unterschiedliche Konzepte umfasst, die sich auf Vermögen und Einkommen, auf den Bildungsgrad bzw. Bildungsressourcen oder auf das soziokulturelle Herkunfts-milieu beziehen können.

Mehrdimensionale und intersektionale Diskriminierung

Die Identität eines jeden Menschen wird immer von mehreren Merkmalen gleichzeitig geprägt: Jede_r hat ein Alter, eine Geschlechtsidentität, eine ethnische Herkunft oder eine sexuelle Orientierung. Diese verschiedenen Merkmale können nicht nur einzeln, sondern auch gleichzeitig Anknüpfungspunkte für Diskriminierung sein. Deshalb berücksichtigt der Gesetzgeber mit § 4 AGG auch, dass mehrere der in § 1 genannten Gründe zu einer Diskriminierung führen können und jeder einzelne Grund einer gesonderten Rechtfertigung bedarf.

Wenn mehr als ein Diskriminierungsgrund für die Benachteiligung ursächlich ist, spricht man auch von Mehrfachdiskriminierung oder mehrdimensionaler Diskriminierung. Diese wird im AGG nicht näher definiert, auch die rechtlichen Konsequenzen mehrdimensionaler Diskriminierung sind weitgehend

un-13 Für eine Übersicht über die Schutzgründe bzw. Diskriminierungsmerkmale in den Staaten der Europäischen Union vgl. Euro-pean Network of legal experts in gender Equality and non discrimination 2016, S. 108 ff.

geklärt. In Gerichtsentscheidungen spielen mehrdimensionale Diskriminierungen bislang kaum eine Rolle (ADS 2016d, S. 55 f.).

Mehrfachdiskriminierung bzw. mehrdimensionale Diskriminierung kann auftreten, indem sich verschie-dene Diskriminierungsgründe summieren und so wechselseitig verstärken. Ein Beispiel für diese additive Form der mehrdimensionalen Diskriminierung wäre, wenn eine Frau mit Behinderung bei der Bewer-bung um eine neue Anstellung aufgrund ihrer Behinderung erstens strukturell schlechtere Zugangschan-cen am Arbeitsmarkt hätte und zweitens, wenn sie als Frau dem mittelbaren Diskriminierungsrisiko einer schlechteren Bezahlung in der neuen Anstellung als Männer unterläge (gender pay gap). Beide Formen der Diskriminierung sind hierbei getrennt voneinander benennbar und analysierbar. Das erste Diskriminie-rungsrisiko kann alle Menschen mit Behinderung unabhängig vom Geschlecht treffen, die zweite Diskri-minierungsform stellt ein Risiko für alle Frauen dar, unabhängig von einer etwaigen Behinderung.

Beim Zusammentreffen mehrerer Diskriminierungsmerkmale ist von der mehrdimensionalen Diskrimi-nierung die intersektionale DiskrimiDiskrimi-nierung zu unterscheiden. Bei intersektionalen Benachteiligungen wirken die Diskriminierungsmerkmale spezifisch derart zusammen, dass sie nicht mehr getrennt vonei-nander zu betrachten sind. Ein Beispiel sind rassistische Einlasskontrollen bei Diskotheken (vgl. Kapitel 1.5.5.2.2): Diese betreffen überwiegend junge Männer, die als migrantisch wahrgenommen werden. Hier wirken das junge Alter, das männliche Geschlecht und die ethnische Herkunft der Betroffenen sehr spezi-fisch zusammen, die Merkmale wirken nicht getrennt voneinander, sondern nur zusammen. Die Betrof-fenen werden nicht als junge Menschen oder als Männer oder als Menschen mit Migrationshintergrund abgewiesen, sondern weil hier alle drei Dimensionen zusammenfallen.

Die Formen von Mehrfachdiskriminierung, mehrdimensionaler Diskriminierung und intersektionaler Benachteiligung sind nicht immer trennscharf voneinander abzugrenzen, bei allen aber geht es um die Komplexität von Diskriminierung (vgl. Baer et al. 2010).