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Die visuelle Wahrnehmung der Inschriften

2.2 Materialität und Gestaltung der Schriftzeugnisse in Pompeji und Herculaneum

2.2.2  Dipinti 2.2.2.1 Textträger

2.2.2.4  Die visuelle Wahrnehmung der Inschriften

Steininschriften, Graffiti und Dipinti bringen durch ihre jeweiligen gestalterischen Merkmale bestimmte Voraussetzungen mit, die sich auf ihre visuelle Wahrnehmung auswirkten. Von mindestens ebenso hoher Bedeutung dafür, ob eine Inschrift gese-hen oder gelesen wurde oder eben nicht, sind jedoch auch ihre Lokalisierung im Kontext sowie das Verhalten der potentiellen Betrachter. Hierbei sind vor allem die Faktoren der Aufmerksamkeit und der Bewegungsgeschwindigkeit bzw. der Ruhe von

321 Zu Lesung dieser Inschrift vgl. v. a. Solin 1973b, 275, der hier signifikant von Della Cortes Deutung abweicht.

322 Vgl. auch die Rekonstruktion bei Zvetaieff 1878 Taf. 15.

323 Vetter 1953, 54.

324 Della Corte 1916b, 158; Varone/Stefani 2009: Ve 24 S. 317; Ve 27 S. 368; Ve 28 S. 257–259; Ve 30 S. 377; Ve 28 S. 54.

325 Vetter 1953, 60; Della Corte 1916b, 158.

326 Vetter 1953, 59.

327 Dabei sticht vor allem die besonders akkurat gearbeitete Stifterinschrift des V. Aadirans hervor:

Cooley 2002, 79 Abb. 6.1.

Bedeutung. Im Folgenden soll anhand von Theorien und Erkenntnissen der Wahr-nehmungspsychologie versucht werden, sich der Frage anzunähern, wie die Dipinti wahrgenommen wurden. Manche dieser Überlegungen sind auch auf Graffiti und Steininschriften übertragbar, während in anderen Fällen zu viele Faktoren unbekannt bleiben.

Durch die beschriebenen Merkmale der Dipinti erreichten diese eine hohe visuelle Präsenz, die nicht nur inhaltliche Aspekte, sondern vor allem auch ästhetische Fakto-ren betrifft. Die Kombination von roter oder schwarzer Farbe auf hellem Untergrund sorgte einerseits für einen hohen Kontrast und gute Sichtbarkeit. Andererseits waren die Dipinti sich untereinander ähnlich und fügten sich mit ihrer roten und schwarzen Gestaltung in das Farbspektrum ihrer Umgebung ein. Folglich waren sie zwar gut zu sehen und zu lesen, stellten aber keine Durchbrechung eines ansonsten konsistenten und visuell harmonischen Umfeldes dar. Wie an den Fallbeispielen in Kapitel 4 deut-lich wird, ist im städtischen Raum damit zu rechnen, dass Betrachter und potentielle Leser mit ganz unterschiedlichen Voraussetzungen und in unterschiedlichen Situatio-nen mit den Dipinti konfrontiert waren. Wie wirkten sich also die gestalterischen und materiellen Merkmale der Dipinti auf ihre sinnliche Wahrnehmung aus?

Für die visuelle Wahrnehmung und die kognitive Verarbeitung spielen mehrere komplexe Faktoren eine Rolle, die in unterschiedlicher Weise zusammenwirken. Prin-zipiell sind dies einerseits Merkmale dessen, was zu sehen ist und andererseits die beim Betrachter gegebenen Voraussetzungen. Die wahrnehmungspsychologischen Erkenntnisse und Ansätze, welche sich mit der visuellen Objektwahrnehmung befas-sen, haben sich seit Max Wertheimers Gestaltpsychologie weiterentwickelt und beson-ders anfänglich formulierte allzu optimistische Annahmen wurden inzwischen vor-sichtig revidiert. Grundlegende Fragen der Wahrnehmungspsychologie hinsichtlich der Objektwahrnehmung, die in unserem Kontext sinnvoll gestellt werden können, betreffen die Organisation kleiner Elemente (von Seiten des Betrachters) zu einem größeren Ganzen, das Erkennen und Deuten von Gegenständen wie auch die Unter-scheidung zwischen einem Gegenstand und dem Hintergrund.328 Erkenntnistheore-tisch problemaErkenntnistheore-tisch ist, dass die in einem städErkenntnistheore-tischen Kontext verorteten und zugleich mit unzähligen weiteren Reizen konkurrierenden Wandinschriften im Grunde ein zu komplexes Untersuchungsobjekt darstellen. Schon in der Gestaltpsychologie wurden mit ihren Gesetzen prägnante und doch ganz simple Grundsätze formuliert, die jeweils von modellhaften, idealen Anordnungen ausgingen.329 In aktuellen Studien zur visu-ellen Wahrnehmung werden noch viel kleinteiligere Fragestellungen formuliert und

328 Wertheimer 1912, Formulierung der „Faktoren“ (später „Gesetze“): Wertheimer 1923, zur An-nahme, dass der Mensch bemüht ist, bei einer Vielzahl von Reizen, zusammengehörige Reize zusam-menzufassen und als Gestalt wahrzunehmen: 302; Vgl. Goldstein 1997, 163–203.

329 Wichtig ist hier auch Rudolf Arnheims Verknüpfung dieser Gesetze mit der Betrachtung von Bild-werken, welche jedoch im Vergleich mit den hier behandelten Wandinschriften noch viel stärker von ihren Urhebern konstruiert wurden: Arnheim 1965, 29–67.

in Experimenten an Probanden empirisch untersucht, um zu kontrollierbaren Ergeb-nissen zu gelangen. Eine Anwendung auf die pompejanischen Wandinschriften kann daher lediglich bestimmte Möglichkeiten aufzeigen, ohne dass diese an modernen, geschweige denn antiken Subjekten verifiziert werden könnten.

Von den in der Gestaltpsychologie formulierten Gesetzen kommen bei der Wahr-nehmung der Dipinti besonders das Gesetz der Nähe und das Gesetz der Ähnlich-keit zum Tragen. Die Buchstaben der actuaria sind derart gelängt, dass sie sehr dicht nebeneinander platziert werden konnten und bei relativ großer Buchstabenhöhe doch keine übermäßig große Breite des Gesamttextes zur Folge hatten. Zudem wer-den sich die einzelnen Buchstaben durch die wiederkehrende Betonung der senkrech-ten Hassenkrech-ten ähnlich, sodass die Inschrifsenkrech-ten als ein kompaktes Ganzes erscheinen. Die Figur-Grund-Trennung führt darüber hinaus zu einer Fokussierung auf die als Figur erkannten Wandinschriften im Gegensatz zum undefinierten Grund. Das Gesetz der Nähe und der Ähnlichkeit kommt zum Tragen, wenn Dipinti gezielt dicht beieinander platziert wurden, was häufig geschah, wenn inhaltliche Bezüge bestanden. Durch die Nähe sind Betrachter geneigt, Einzelelemente als zusammengehörig zu verstehen, ohne sie bereits eingehender betrachtet zu haben.

Die vorangehenden Beobachtungen könnte auch ein Betrachter machen, der nicht lesen kann, oder der einer Fassade nur kurze Aufmerksamkeit schenkt. Was geschah aber, wenn ein Passant oder eiliger Verkehrsteilnehmer gar keine Aufmerk-samkeit aufbringen wollte oder konnte, etwa, weil er sich sehr schnell bewegte oder weil zu viele Dinge und Vorgänge um ihn herum zugleich als Reize auf ihn einstürm-ten? Die Wahrnehmungspsychologie fragt seit den 1980ern vermehrt danach, in wel-chen Stufen Reize verarbeitet wurden. Für die Frage nach dem eiligen Passanten ist vor allem die präattentive Verarbeitung von Bedeutung. Damit ist gemeint, dass ein Reiz nur so kurz verfügbar ist, dass der Betrachter nicht in der Lage ist, die Aufmerk-samkeit bewusst auf einen bestimmten Bereich oder ein bestimmtes Merkmal zu rich-ten. Bestimmte Informationen werden aber dennoch verarbeitet, auch ohne dass der Betrachter dessen gewahr werden muss.330 Eine solche Situation ist der unseres Pas-santen vergleichbar.331 In entsprechenden Versuchen stellte sich heraus, dass einfache Merkmale wie Größe, Farbe, Dichte, Länge, Farbintensität und Orientierung der prä-attentiven Wahrnehmung zugänglich sind.332 Dies sind Merkmale, die auch von den Dipinti-Malern genutzt wurden, sowohl um die einzelne Inschrift von ihrer Umgebung

330 Ein geeigneter kurzer Reiz dauert ca. 160 bis 250 Millisekunden oder noch kürzer. Vgl. allgemein zur präattentiven Wahrnehmung https://www.csc2.ncsu.edu/faculty/healey/PP/ (Stand: 1. 7. 2020).

Einen guten Überblick bietet: Goldstein 1997, 184–189.

331 Mit der besonderen Einschränkung, dass in den psychologischen Studien die Teilnehmer wissen, dass sie an einer Studie teilnehmen.

332 Vgl. https://www.csc2.ncsu.edu/faculty/healey/PP/ (Stand: 1. 7. 2020) mit Literaturverweisen, be-sonders jeweils die Studien zu einzelnen dieser Merkmale: Julész/Bergen 1983, Treisman 1985, Treis-man/Gormican 1988, Healey/Enns 1999.

abzuheben, als auch, um sie darin einzufügen. Wenn alle Dipinti an einer Fassade rot waren, konnte ein einzelnes schwarz geschriebenes Wort bereits Aufmerksamkeit bewirken, ohne dass damit eine besondere inhaltliche Botschaft verknüpft gewesen sein muss.333 Die präattentive Wahrnehmung der Dichte führt vergleichbar mit dem Gesetz der Nähe in der Gestaltpsychologie dazu, dass ein Dipinto als Einheit aufge-fasst werden konnte. Die Farbintensität der Dipinti verringerte sich im Laufe der Jahre, sodass es leicht sichtbar war, wenn eine frische, in kräftiger Farbe gemalte Inschrift hinzukam. Ein flüchtiger, vorbeieilender Betrachter konnte demnach nicht nur über-haupt wahrnehmen, dass eine Wand beschrieben war, sondern auch, dass es sich um mehrere Inschriften mit teilweise spezifischen Merkmalen handelte. In einer 2016 erschienenen Studie konnte darüber hinaus gezeigt werden, dass ein Objekt inner-halb einer Fläche (präattentiv) eher gefunden wird, wenn die umgebenden Strukturen eine Art Rahmen bildeten.334 Dies bedeutet mit Blick auf die Dipinti, dass die gewei-ßelten Flächen und tabulae ansatae, in die viele program mata eingeschrieben waren, nicht bloß als Hintergrund zur Erzeugung eines Kontrastes dienten, sondern auch dazu führten, dass die betreffenden Wahlwerbungen eher ins Auge sprangen, als sol-che, die auf einen undifferenzierten Untergrund aufgemalt waren.

Es ist selbstverständlich nicht anzunehmen, dass die Maler diese Prinzipien bewusst mit dem Ziel anwendeten, bestimmte Wahrnehmungsmechanismen in Gang zu setzen. Dennoch lässt sich aus diesen Überlegungen schließen, dass für die Dipinti, die in klaren Formen, einfachen Farben und nach bestimmten Gestaltungs-mustern angelegt waren, die Chancen, dass sie gesehen wurden, relativ gut waren.

Dies gilt gerade auch im Vergleich zu komplexeren Wandmalereien und Fassadenbil-dern, die häufig kleinteiliger und vielschichtiger waren. Das Lesen und die zielgerich-tete Fokussierung und Wahrnehmung einer einzelnen Wandinschrift folgten wenn überhaupt jedoch erst im nächsten Schritt. Für Betrachter, die des Lesens unkundig waren oder die sich nicht die Zeit nahmen, sie zu lesen, boten die Dipinti trotzdem zahlreiche Informationen, die eine Kategorisierung und eine inhaltliche Einordnung ermöglichten.

2.2.2.5 Zwischenergebnis

Anhand der zahlreichen erhaltenen bzw. dokumentierten Dipinti in Pompeji und Herculaneum zeigt sich deutlich, dass sich die Schreiber und die Betrachter einer Reihe von Merkmalen gegenübersahen, die im Anbringungsvorgang, in Konventio-nen oder in ästhetischen Absichten begründet waren. Dieses Spektrum ist jedoch nicht durch willkürliche Praktiken im Umgang mit Texten und Inhalten zu erklären, sondern war ganz offensichtlich mit etablierten Gestaltungsmustern für bestimmte Typen von Inschriften korreliert. Dies ist vor allem bei den program mata recentiora 333 Vgl. die schwarz geschriebenen program mata an der Fassade der Casa di Trebius Valens: S. 200.

334 Kimchi et al. 2016.

und den edicta munerum nicht von der Hand zu weisen. Bei den meisten dieser Zeug-nisse sind wiederkehrende Schemata festzustellen. Gut zu beobachtende Parameter sind die Buchstabengröße, deren Variation innerhalb der Inschrift, die Buchstaben-formen und wiederum verschiedenen Ausprägungen im Rahmen eines Dipintos, aber auch der Einsatz verschiedener Farben und die durch vorgeritzte Linien oder auffäl-lige Symmetrien nachvollziehbare ordinatio. Umso stärker fallen daher Ausnahmen auf, die genau in diesen Merkmalen von dem Gewohnten abweichen.

Gerade im Hinblick auf Rezeptionspraktiken, aber auch auf Bewegungsabläufe ist es daher von Bedeutung, dass vor allem bei den program mata und den edicta mune­

rum die Form und Gestaltung offensichtlich so konsistente Gestaltungsmuster aufwei-sen, dass auch die Form zum Bedeutungsträger wurde. Diese Bedeutungen konnten selbstverständlich erst dadurch zugeschrieben werden, dass sich die Form als typisch etablierte. Die Formen sind jedoch nicht erstarrt, sondern lassen auch Gestaltungs-spielräume zu.

Mouritsen betont den ephemeren Charakter der Aufschriften und nimmt an, dass man bewusst flüssigere Farbe als Schreibmaterial für Dipinti wählte, die nicht für eine lange Dauer sichtbar sein mussten.335 Sabbatini Tumolesi geht hingegen vor allem mit Bezug auf die zweite größere Gruppe, die edicta munerum, welche ebenfalls inhaltlich vordergründig auf ein einmaliges Ereignis zu beziehen sind, davon aus, dass diese sich trotz negativer Umwelteinflüsse und der Überlagerung durch jüngere Farbschich-ten seit augusteischer Zeit erhalFarbschich-ten hatFarbschich-ten.336 Tatsächlich zeigt die Erhaltung zahl-reicher Dipinti seit nunmehr einigen Jahrzehnten nach ihrer Freilegung, dass diese ähnlich haltbar sind wie Wandmalereien.

2.2.3 Graffiti