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Zum Begriff des Kontextes und zur Untersuchung von Schriftzeugnissen in ihrem räumlichen Umfeld

1.3 Stand der Forschung

1.4.1  Zum Begriff des Kontextes und zur Untersuchung von Schriftzeugnissen in ihrem räumlichen Umfeld

Der Kontext – so die Prämisse – stellt einen Faktor dar, ohne dessen Berücksichtigung nur eingeschränkte Aussagen über die Wahrnehmung und die Wirkung von Inschrif-ten getroffen werden können. Für den öffentlichen, städtischen Raum ist es charakte-ristisch, dass Zeugnisse und Strukturen aus verschiedenen Entstehungszeiten neben-einander präsent und Teile der Ensembles waren, die Schreiber und Leser vorfan den.

Zum einen ist festzustellen, dass eine Definition von Kontext als stratigraphi-sche Einheit bei dem hier gewählten Zugang zu den Zeugnissen in Pompeji und 102 Lohmann 2018 und DiBiasie 2015.

Herculaneum nicht greift. Es steht nicht die Entstehungsgeschichte des architekto-nischen Raumes und nur bedingt die Genese der „Schichtenabfolge“ der einzelnen Inschriften im Vordergrund,103 sondern vielmehr die Wahrnehmungsbedingungen, die sich aufgrund der entstandenen Vergesellschaftung boten. Zum anderen kann das hier angenommene Verständnis des Begriffes ex negativo von einer literaturwissen-schaftlichen Auffassung abgegrenzt werden, wie sie von Klaus Peter Müller formuliert wird, wenn er sagt, der Kontext sei „das, was zu einem Text gehört, damit dieser ange-messen verstanden wird.“ Zwar teilt es mit ihr das Bestreben, den Untersuchungs-gegenstand als Teil eines komplexen Ensembles einzuordnen und Bedeutungsebenen zu erschließen sowie den Kontext als die Relationen zwischen verschiedenen Elemen-ten dieses Gefüges zu erfassen.104 Zum einen fehlen jedoch für die InschrifElemen-ten in den meisten Fällen große Teile des Befundes. Zum anderen wird hier die Prämisse, dass ein Text einen dauerhaften, inhärenten Sinn habe, den es angemessen zu entschlüs-seln gelte, grundsätzlich abgelehnt. In Ermangelung zahlreicher Informationen kann jeder Versuch, Sinn und Bedeutung des Wandinschriften zu erschließen, immer nur eine Näherung an die den antiken Betrachtern gegebenen Deutungsmöglichkeiten sein. Die Beschreibung und Untersuchung des Kontextes ist also jeweils eine notwen-dige aber nicht hinreichende Annäherung an die Umstände, unter denen – im hiesi-gen Fall – Inschriften hergestellt oder wahrhiesi-genommen wurden.

Ian Hodder verbindet in „Reading the Past“ den Begriff des Kontextes ebenfalls mit der Betonung des textuellen Charakters archäologischer Befunde. Er hebt her-vor, dass Kontexte berücksichtigt werden müssen, um die Bedeutung eines Objektes zu bestimmen.105 Zugleich weist er allerdings auch auf den oft äußerst unterschied-lichen Gebrauch des Begriffes hin. Auf einer grundsätzunterschied-lichen Ebene kann „Kontext“

bei Hodder jedoch als „the connecting or interweaving of things in a particular situ-ation or group of situsitu-ations“ verstanden werden.106 Hodder bezieht dabei nicht nur die räumliche Dimension, sondern auch die Typologie, die Stratigraphie und Genese des Befundes sowie die Chronologie mit ein. In jeder dieser Dimensionen kann der Kontext von einem sehr kleinen Umfeld bis letztendlich zur ganzen Welt reichen – je nachdem wie ein bestimmtes Objekt „verwoben“ ist bzw. welche Fragen gestellt wer-den. Wenn allerdings bestimmte „regions“ als Kontexte untersucht werden sollen, werden diese häufig a priori definiert, ohne dass dadurch gesichert wäre, dass dies

103 Diese ist nur in wenigen Fällen zuverlässig zu bestimmen.

104 Müller 2008, 379–380.

105 Vgl. Hodder 1991, 122–123: „to be interested in artifacts without any contextual information is antiquarianism.“ Und S. 128 besonders mit Bezug auf die Lesbarkeit von Befunden: „In what follows, the term ‚contextual‘ will refer to the placing of items ‚with their texts‘ – ‚con-text‘. The general notion here is that ‚context‘ can refer to those parts of a written document which come immediately before and after a particular passage, so closely connected in meaning with it that its sense is not clear apart from them.“

106 Hodder 1991, 123. Oder auch: Hodder 2012, 33: „Materials and things are seen as always relatio-nal, contextually embedded within specific networks and social contexts.“

den gestellten Fragen und dem Befund gerecht werde.107 Letztendlich definiert Hod-der den Kontext als „totality of the relevant environment, where ‚relevant‘ refers to a significant relationship to the object – that is, a relationship necessary for discerning the object’s meaning“. Damit ist bei der Untersuchung konkreter Befunde die Anfor-derung verbunden, die potentiellen Verknüpfungen in flexibler Weise ständig neu zu bewerten bzw. herauszufinden, welche anderen Objekte signifikant für die Bedeutung oder Nutzung und Verknüpfung des betrachteten Objektes sind.108

Hier ist die Perspektive insofern eine andere, als es um eine festgelegte Objekt-gruppe – Inschriften – in einem festgelegten räumlichen Umfeld – dem öffentlichen Raum der Städte Pompeji und Herculaneum – geht und somit auch der Kontext als solcher zum Untersuchungsgegenstand wird. Es geht nicht nur darum, aus dem räum-lichen Umfeld Rückschlüsse auf die Bedeutung der einzelnen Inschriften zu ziehen, sondern auch umgekehrt können diese Teilräume unter Berücksichtigung der Inschrif-ten neu bewertet werden. Dies betrifft etwa die Gliederung von Fassaden durch Wand-malereien oder die Präsenz von Inschriften als Indikator dafür, dass eine bestimmte Örtlichkeit zur Bekanntgabe von Informationen diente. Bewusst werden hier Teil-räume aus dem Stadtgebiet herausgegriffen. Mit Bezug auf Hodders Kontextbegriff, in dem die Flexibilität in allen Dimensionen eine große Rolle spielt, soll bei den Fall-beispielen besonders darauf geachtet werden, in welchem Verhältnis die ausgewähl-ten Teilräume zum gesamausgewähl-ten städtischen Raum stehen und inwiefern sich durch eine Ausweitung des Blickwinkels auch die Deutungsmöglichkeiten verschieben.

Eine Methode, um überhaupt Teilräume im öffentlichen Raum zu erfassen, bietet die Space Syntax-Theorie, die Räume vor allem auf der Basis von Erreichbarkeit und Sichtbarkeit zu beschreiben und mit dem Verhalten von Menschen in diesen Räu-men in Verbindung zu bringen sucht. Wenn man zum Beispiel von der Kreuzung zwi-schen Via di Nola und Via Stabiana aus nach Norden blickt (Abb. F 1), erscheint diese Straße als ein extrem lang gestreckter Raum, der kaum sinnvoll zu unterteilen ist.

Die Trasse ist durchgehend verlegt, es gibt keine Schranken oder Tore im Straßen-verlauf, die Häuserfronten schließen direkt aneinander an und die Blickachse reicht über hundert Meter weit. Die angrenzenden Häuser waren zwar verschließbar und der Innenraum wird je nach Standpunkt durch Pfeiler und Mauern vor Blicken geschützt, aber die Straße erscheint zunächst als undifferenzierter Raum. Doch wer sich nun auf dieser Straße in Bewegung setzt, wird unterwegs bemerken, dass es Stellen, größere Flächen und Wandabschnitte gibt, die er vom ursprünglichen Standpunkt aus nicht sehen konnte. Neue kurze Blickachsen tun sich erst im Laufe der Bewegung auf. Man

107 Hodder nennt als Beispiel die Untersuchung eines Tales als räumlichen Kontext. Hodder 1991, 134–135. Ein chronologischer Kontext, der oft als gegeben angesehen wird, ist die Zeit der Reformation und der Erfindung des Druckes mit beweglichen Lettern, wobei meist einfach behauptet wird, dass sich die Präsenz von Schriftlichkeit in dieser Zeit grundlegend veränderte, ohne zu überprüfen, ob die Grenzen des zeitlichen Kontextes sinnvoll gewählt sind. Vgl. Meier/Meyer 2015.

108 Hodder 1991, 143.

befindet sich mit einem Mal auf einem kleinen Platz, der vom vorherigen Standpunkt aus nicht wahrzunehmen war. Dies ergibt sich dadurch, dass die Wände an manchen Stellen zurückspringen, ein Wasserturm am Rand der Trasse steht, die Straße eine leichte Biegung macht und das Gefälle nicht gleichmäßig ist.

Um derartige Teilräume zu beschreiben, wird in der Space Syntax-Theorie der Begriff „convex space“ verwendet. Ein Raum ist konvex, wenn eine Gerade, die zwei beliebig gewählte (gegebenenfalls auch auf dem Rand liegende) Punkte innerhalb des Raumes schneidet, den Rand nur an zwei Punkten durchquert. Anders und anhand von Blickachsen ausgedrückt, heißt das, dass in einem konvexen Raum jeder beliebige Punkt von jedem anderen beliebigen Punkt aus sichtbar ist.109 Aus mathematischer Sicht ist jeder quaderförmige, kugelige, zylindrische oder ovale Raum konvex, doch wenn etwa eine Mauer in den Raum vorspringt, ist der Bereich dahinter nicht sichtbar und gehört daher nicht mehr zu demselben konvexen Raum.110 Dies wird bei Space Syntax dazu genutzt, auch Straßen in kleinere Räume zu differenzieren und so schein-bar nebensächlichen Details der Architektur Rechnung zu tragen. Je nach Interesse und Detaillierungsgrad der Untersuchung können auch mobile Vorrichtungen oder spezifische Eigenschaften der vorhandenen Räumlichkeiten berücksichtigt werden.

So beschreibt zum Beispiel Marina Weilguni in ihrer Analyse dreier Bewegungsachsen in Pompeji unterschiedliche konvexe Räume folgendermaßen: „[The] perception of a micro-environment as an independent, special place has to do with specific features in this environment, like a fountain (the water place) or several shops of the same kind (the bakery place). This perception may, or may not, be limited by the syntac-tical borders of the convex space, and possibly also enhanced by them“.111 Weilguni berücksichtigt in ihrer Untersuchung auch weitere Faktoren wie die Tageszeit oder das Verkehrsaufkommen. Sie nimmt somit auch Bezug auf Faktoren, die von einer Space Syntax-Analyse oft nicht erfasst werden können, und geht über eine strenge syntaktische Beschreibung hinaus. Sie verweist auch darauf, dass konvexe Räume in Straßenräumen meist nicht überlappend eingezeichnet werden.112 Daraus ergibt sich mit Blick auf das Beispiel der Via Stabiana eine signifikante Einschränkung der Aussagekraft, da ja zum Beispiel der Wasserturm an der Ecke Via degli Augustali / Via Stabiana durchaus von weitem sichtbar ist. Hier wäre es sinnvoll, zwischen solchen Teilräumen, die nur durch Sichtachsen noch erfassbar sind, und solchen, die eine intensivere Wahrnehmung ermöglichten, zu unterscheiden: Mit Bezug auf die hier angestellten Überlegungen ist es etwa interessant, ob eine Inschrift auch über eine weite Entfernung hinweg noch gesehen werden konnte, auch wenn es nicht möglich war, sie zu entziffern.

109 Zu dem eigentlich mathematischen Begriff des konvexen Raumes vgl. den grundlegenden Text der Space Syntax-Theorie: Hillier/Hanson 1984, hier besonders: 75.

110 Ein solcher Raum ist als konkav zu bezeichnen. Vgl. Hillier/Hanson 1984, 75.

111 Vgl. Weilguni 2011, 122.

112 Weilguni 2011, 24 Anm. 24.

Bei strikter Anwendung erscheint eine so stark geometrisch ausgerichtete Form der Beschreibung von städtischem Raum für diese Arbeit nicht sinnvoll, da sie vielen Aspekten, die hier in detaillierter Weise betrachtet werden sollen, nicht gerecht wer-den kann. Zum Beispiel wird die Fläche, die sich zwischen zwei einander gegenüber-liegenden Fassaden erstreckt, in mehrere konvexe Räume unterteilt, sobald eine Fas-sade zurückspringt und somit nicht mehr jeder Punkt von jedem anderen innerhalb dieses Straßen-Teilraumes sichtbar ist. Hier ist es jedoch gerade wichtig, dass durch das Zurückspringen ein kleiner Platz entsteht, der zum Verweilen einlädt, wodurch insbesondere das Betrachten der gegenüberliegenden und angrenzenden Fassaden gefördert und eben nicht verhindert wird. Zudem geht Space Syntax zunächst von einer Projektion des dreidimensionalen Raumes in zwei- und eindimensionale Gra-phen aus. Wenn allerdings, so wie es hier nötig ist, zahlreiche Faktoren mit einbezogen werden, wird die Darstellung dadurch nicht übersichtlicher, sondern undurchsichti-ger. Daher soll die Annäherung an die Kontexte hier auf dem Weg der Beschreibung erfolgen. Was die Definition und Abgrenzung dieser Kontexte betrifft, ist der Begriff des konvexen Raumes insofern hier grundsätzlich gewinnbringend, als er den Blick von der Einheit des Hauses, der insula oder der Straße als einzelnem Bestandteil der Infrastruktur auf den Zwischenraum lenkt, was für die Wahrnehmung des öffentli-chen Raumes von erheblicher Bedeutung ist.

Wenn es also um die Definition der Fallbeispiele geht, wird der Begriff des „Kon-textes“ in Abgrenzung von Hodder oder einem dezidiert textbezogenen Verständnis vor allem im Sinne eines räumlichen Umfeldes verwendet.113 Gerade bei der Ausein-andersetzung mit der Verteilung von Schriftzeugnissen wird der Kontext als Ensemble topographischer Parameter verstanden, in die die Inschriften eingebettet waren. Wei-tere Komponenten, die mit Hodder auch als Kontext zu beschreiben sind, wie etwa die zeitliche Abfolge, können zudem durch andere gewinnbringende Konzepte, wie das von Benefiel eingeführte Modell des Dialoges, beschrieben werden.114 Viitanen, Nissin und Korhonen arbeiten zudem mit dem Begriff der Mikro-Topographie in Bezug auf einzelne Straßenabschnitte und „activity nodes“.115

Anders als bei den Innenräumen eines Hauses bleibt es bei Straßenräumen immer problematisch, ein räumliches Umfeld abzugrenzen und dieses so zu untersuchen, als handele es sich dabei um einen abgeschlossenen Raum. Jede Grenzziehung ist bis zu einem gewissen Grad willkürlich und durch die jeweilige Fragestellung oder auch durch praktische Gesichtspunkte wie etwa den Erhaltungszustand motiviert. Wenn räumliche Kontexte als Fallbeispiele untersucht werden, hat daher immer zumin-dest die nächsthöhere Bezugsebene, also etwa die gesamte Straße oder umliegende

113 In dieser Bedeutung wird er auch in der Archäologie häufig in beiläufiger oder axiomatischer Weise genutzt. Vgl. z. B.: Allison 2004, 4.

114 Vgl. Benefiel 2011, 24; Kruschwitz 2006, 12.

115 Eine genaue Definition bieten sie im Rahmen ihrer Untersuchung allerdings nicht: Viitanen et al. 2013, 62.

Gebäude, im Blick zu bleiben. Kriterien, die hier angewendet werden, um festzulegen, welcher Fassadenabschnitt miteinbezogen und wo eine Grenze gezogen wird, sind zum einen generell Sichtbeziehungen, deren Beschreibung jedoch auch Veränderun-gen im Laufe des Tages und bei Veränderung der Position eines Betrachters berück-sichtigen sollte. Zum anderen spielen auch die räumliche Nähe, die Zugänglichkeit und Bewegungsachsen eine Rolle.116 Der Begriff des Kontextes wird hier somit vor allem als räumliches Umfeld gefasst. Bei der Beschreibung geht es jeweils zum einen darum, einen Teilbereich des städtischen Raumes zu charakterisieren, und zum ande-ren, die Inschriften als Artefakte, die innerhalb dieses Raumes verortet waande-ren, begreif-bar zu machen.

Für Graffiti und Dipinti wurde in mehreren Studien des letzten Jahrzehnts betont, wie wichtig die Einordnung in den Kontext immer dann ist, wenn auch der Stellen-wert der Texte im sozialen Gefüge im Interesse der Forschung liegt. Dabei sind beson-ders die Arbeiten von Kruschwitz, Benefiel und Mouritsen zu nennen, die in minutiö-sen Analyminutiö-sen zeigen, wie gewinnbringend ein derartiger Ansatz ist.117 Um für Graffiti innerhalb von Wohnhäusern die Beziehungen zwischen Anbringungsort, Ausstattung und teilnehmenden Schreibern oder Lesern zu beschreiben, bedient sich Benefiel des Modells verschiedener Dialogkonstellationen. So kann sie zeigen, dass sich die Graffiti gerade an Orten innerhalb der Häuser befanden, wo Menschen zusammen-kamen, wo die Lichtverhältnisse günstig waren und ein gewisser Grad an Öffentlich-keit herrschte. Man suchte gerade nicht die Verborgenheit, sondern nutzte Graffiti als Kommunikationsmittel.118 Auch in den von Kruschwitz behandelten Beispielen zeigt sich, dass Graffiti häufig so angebracht wurden, dass sie gut sichtbar waren und dass Bezüge zu in der Nähe befindlichen Wandmalereien hergestellt wurden.119