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1.3 Stand der Forschung

1.4.2  Öffentlicher Raum

Der Begriff „Öffentlicher Raum“ scheint auf den ersten Blick selbsterklärend. Doch die Dichotomie zwischen ‚öffentlich‘ und ‚privat‘, wie sie uns heute vertraut ist, kann für die Antike nicht ohne Weiteres angenommen werden. Und auch bei einer eindeu-tigen Begriffsbestimmung blieben Grauzonen, für die es fraglich wäre, ob sie einer

116 Vgl. dazu Barbara Kellums Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Türschwellen im Laufe des Tages: Kellum 1999, 284. Sowie Taylor Lauritsens grundlegende Untersuchungen zur Bedeutung von Schwellen im römischen Wohnhaus: Lauritsen 2015, Lauritsen 2012 und Lauritsen 2011.

117 Kruschwitz 2006 für Texte aus der caupona des Euxinus (I 11, 10–11) und Kruschwitz 2004, 35–40 für eine ganze Reihe von Graffiti im Stadtgebiet von Pompeji; Benefiel 2010a für die Casa di Maius Cas-tricius (VII 16, 17) und Benefiel 2011 für die Casa dei Quattro Stili (I 8, 17.11), dies gilt auch für die Auf-arbeitung der Graffiti in Herculaneum und Pompeji im Rahmen des ‚Ancient Graffiti Project‘ unter Be-nefiels Leitung: http://ancientgraffiti.org/Graffiti/ (Stand: 1. 7. 2020); Mouritsen 2011 für die insula I 10.

118 Benefiel 2011, 29–32.

119 Kruschwitz 2006, 9.

Kategorie zweifelsfrei zugeordnet werden könnten. Daher ist sowohl eine Reflexion des Begriffes als auch eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Frage, welche Teilräume der Stadt in die vorliegende Studie einbezogen werden, nötig.

Was die Begrifflichkeit und die Konzeption verschiedener urbaner Teilräume als öffentlich oder privat betrifft, liegen vor allem für das Wohnhaus und seine interne Gliederung, Zugänglichkeit und Nutzung viele Untersuchungen vor.120 Um eine grund-legende Einordnung der Begriffe bemüht sich auch Tomoko Emmerling, hat dabei jedoch ebenfalls vor allem das Wohnhaus im Blick.121 Im Hinblick auf das kaiserzeit-liche Rom ist die Unterscheidung von Aloys Winterling untersucht worden. Er kann zeigen, dass das Begriffspaar zunächst moderne Verhältnisse widerspiegelt und für die Antike neu aus zeitspezifischen Selbstbeschreibungen zu bestimmen ist.122 Mit der neuzeitlichen Ausprägung und Entwicklung der Begriffe ‚öffentlich‘ und ‚privat‘

im Deutschen sowie ‚public‘ (etc.) und ‚private‘ (etc.) im Englischen und den romani-schen Sprachen beschäftigt sich Peter von Moos.123 Immer wieder erweist sich hierbei, dass die Begriffe nicht eins zu eins von der Moderne auf die Antike zu übertragen sind.

Insgesamt scheint eine Konzentration auf das Begriffspaar als Dichotomie weder sinn-voll noch historisch notwendig. Dennoch sollte in den Quellen nach zeitgenössischen Konzeptionen verschiedener urbaner Teilräume, die im Rahmen des städtischen Lebens unterschiedliche Funktionen erfüllten und verschiedene Handlungsspiel-räume ermöglichten, gesucht werden: allerdings weniger mit Blick auf eine antike Unterscheidung von Öffentlichem und Privatem als hinsichtlich einer näheren Cha-rakterisierung dessen, was als öffentlich aufgefasst wurde und welche Eigenschaften diesen Räumen zugedacht waren.

Vorrangig ist auch hier Vitruv zu nennen, dessen normativer Anspruch in diesem Fall nützlich ist. Vitruv entwickelt keine eigene Raumtheorie, in der der unbebaute Raum einen Platz fände. Es geht immer um die Anlage und Einrichtung von Bauwer-ken oder deren Teilen. Bei öffentlichen Bauten (communia opera in publicis locis: 1,3,1) unterscheidet er zwischen Befestigungsanlagen, Heiligtümern und solchen, die dem allgemeinen Nutzen (opportunitas: 1,3,1) dienten. Zu letzteren zählt er portus, fora, porticus, balinea, theatra, inambulationes ceteraque, quae isdem rationibus in publicis locis designantur (Vitr. 1,3). Der Aspekt der Öffentlichkeit wird durch opportunitas, usus communis und locus communis ausgedrückt (Vitr. 1,7,1). Die Straßen scheint Vit-ruv hingegen nicht als eigenständige Räume zu sehen, sondern als Wege in und zwi-schen Wohngebieten und anderen Stadtteilen (1,6,1 und 1,6,3). Es kommt ihm nicht auf die Breite, die Beschaffenheit der Pflasterung oder die Gestalt der Fassaden an,

120 Einflussreich sind hier insbesondere Wallace-Hadrill 1994, Dickmann 1999 sowie Lauritsen 2011, Lauritsen 2012, Lauritsen 2015 und Anguissola 2010.

121 Emmerling 2011.

122 Winterling 2005, besonders 228–229. 235.

123 von Moos 1998.

sondern ausschließlich auf die Ausrichtung und die daraus resultierende Ausgesetzt-heit gegenüber oder den Schutz vor Winden (1,6,7 und 1,6,8).124

Betrachtet man die von Vitruv auf die betreffenden Gebäude angewendeten Begriffe publicus und communis im breiteren lexikalischen Rahmen, zeigt sich, dass sie in der lateinischen Literatur nicht synonym aber sich überschneidend gebraucht werden. Während communis in Verbindung mit Bauwerken, Strukturen und Räumen stets einen Bezug auf eine gemeinsame Nutzung und Verwendung sowie den Nut-zen für alle beinhaltet, stehen bei publicus in ähnlichen Kontexten eine Autorisierung durch den Staat und ein Verweis auf die Besitzverhältnisse im Vordergrund. Über-schneidungen bestehen insofern, als die beiden Adjektive darauf verweisen, dass eine Sache, ein Gebäude und Ähnliches alle betrifft, von allen geteilt werden kann und für alle verfügbar ist.125 Von der Nutzung von Platzanlagen und besonders Straßen in diesem Sinne ist allerdings kaum je die Rede. Ein eindrucksvolles Beispiel hier-für ist dagegen die vielzitierte Räumung des Forum Romanum im Jahr 158 v. Chr. von nicht durch offiziellen Beschluss aufgestellten Statuen, wie sie Plinius der Ältere schildert.126

Daraus ergibt sich insgesamt ein vielfältiges Verständnis von Öffentlichkeit und keine antik belegte klar greifbare Definition des öffentlichen Raumes, anhand derer festzustellen wäre, inwieweit Fassaden der Öffentlichkeit zugerechnet wurden.127 Der antike Gebrauch der Begriffe bietet somit nur ex negativo eine Grundlage, Straßen-räume als öffentlich zu beschreiben. Klar scheint jedoch, dass sowohl der rechtliche Status eines Gebäudes, seine Funktion als auch seine Zugänglichkeit dieses als com­

munis bzw. publicus qualifizieren konnten. Hierin ähnelt die antike Auffassung der Eingrenzung des Begriffes ‚öffentlich‘ durch von Moos, der ebendiese Parameter als mögliche Merkmale erarbeitet, ohne dass jedoch jeweils alle drei zugleich erfüllt sein müssten.128

Welche Teilräume der Stadt sollen also hier untersucht werden? Und mit welchem Verständnis von Öffentlichkeit kann eine Auswahl gerechtfertigt werden? Das umfas-sendste und zugleich am klarsten einschränkende Kriterium ist das der Zugänglichkeit.

124 Wie mitunter angenommen wurde, könnte sich Vitruv bei der Beschreibung von Estrichen auch auf Straßenbeläge beziehen: Vitr. 7,1,1–4. Vgl. Roth-Rubi 1987, 24. Vermutlich meint er in diesem Zu-sammenhang jedoch eher Fußböden im Innenraum, da er den folgenden Abschnitt mit den Worten subdiu vero beginnt, was einen Wechsel des Gegenstandes anzeigt, sodass bis dahin noch nicht von Außenräumen die Rede gewesen sein kann.

125 „communis“ im Oxford Latin Dictionary (2012), 405–406; „publicus“ im Oxford Latin Dictionary (2012), 1665. Winterling führt als weitere, zeitweise relevante Implikation die Unterscheidung zwi-schen palam und secreto an: Winterling 2005.

126 Plin. nat. 34,30. Nach Plinius durften solche Statuen stehen bleiben, quae populi aut senatus sententia statutae essent.

127 Als bauliche Bestandteile eines Hauses gehörten die Fassaden natürlich nicht zum öffentlichen Besitz und auch ihre Gestaltung oblag primär den Besitzern des Anwesen.

128 von Moos 1998, 177.

Demgegenüber ist bei weitem nicht für alle Gebäude gesichert, unter welchen Umstän-den sie erbaut und dem Gemeinwesen übergeben wurUmstän-den. Die Hauptfunktion der ein-zelnen Bauwerke ist zwar für ihre Nutzung von größter Bedeutung. Mit der Anbrin-gung von Wandinschriften wird jedoch eine Praxis untersucht, die nicht unbedingt mit der ursprünglich gedachten und geplanten Funktion zusammenhängt und daher prinzipiell an einem intendierten Nutzen vorbeizielt und sekundären Charakter auf-weist. Hinzu kommt eine soziale Prämisse Vitruvs, deren Implikationen hier bewusst missachtet werden sollen: die Einschränkung des Personenkreises derer, die er mit dem Adjektiv communis anspricht. Somit ist der Parameter der Zugänglichkeit noch schärfer einzugrenzen: es soll um solche Räume gehen, die auch Sklaven, Frauen und allen anderen, die Vitruv möglicherweise nicht zu denen zählt, die an res communes teilhaben sollten, offen standen. Daraus ergibt sich eine Reduktion auf solche Räume, die einerseits öffentlicher Kontrolle und nicht den Partikularinteressen einzelner unterstanden und die andererseits im Normalfall ohne Zugangskontrolle oder Ein-trittsgebühr betreten werden konnten. In Betracht kommen die Straßen, Nekropolen und offenen Platzanlagen der Städte sowie die Fassaden und Außenseiten der angren-zenden Gebäude.129 Die Innenräume der öffentlichen Gebäude wie Theater, Amphi-theater, macellum, Thermen und weitere fallen dagegen nicht in diese Kategorie, blei-ben daher hier außen vor und sollen lediglich zu Vergleichen herangezogen werden.

1.4.3 Kommunikation

Die kommunikative Funktion der Inschriften sowie die mit ihnen verbundenen kom-munikativen Absichten sind mit allen bereits erläuterten Einzelfragen verknüpft. Der Begriff der Kommunikation ist jedoch selbst alles andere als eindeutig und wird nicht einheitlich verwendet, sodass zunächst zu klären ist, welches Verständnis von Kom-munikation hier vorausgesetzt wird und in welchem Verhältnis dies zu den Befun-den steht. Die folgenBefun-den Überlegungen sind speziell in Bezug auf das hier behandelte Material Inschriften zu verstehen, also nicht hinsichtlich face-to-face-Kommuniktion, sondern hinsichtlich Kommunikation mittels Schrift.

Grundsätzlich liegt hier  – trotz des scheinbar schwachen Handlungsbezuges statischer Inschriften  – eine handlungstheoretische Sicht auf Kommunikation zu Grunde und keine systemtheoretische.130 Den handelnden Individuen, den konkreten und beobachtbaren Spuren ihres Handelns sowie möglichen zu rekonstruierenden Rahmenbedingungen wird hohe Bedeutung beigemessen. Dieses Grundverständnis bringt Konsequenzen und Folgefragen nach der Rolle der unterschiedlich beteiligten

129 ‚Im Normalfall‘, weil theoretisch sowohl das forum, der Bereich um das Amphitheater und mittels der Stadttore auch das ganze Stadtgebiet abgeriegelt werden konnten.

130 Vgl. die zusammenfassenden und vergleichenden Überlegungen zu den beiden grundsätzlichen Ansätzen in Schmidt 2008, 369–372.

Akteure, dem Status von Inschriften und Sprache als Medien und der Bedeutung von Handlungszusammenhängen und sozialen Rahmenbedingungen für die Kommunika-tion mit sich. Die Frage nach kommunikativen FunkKommunika-tionen oder Absichten beinhaltet darüber hinaus bereits eine Fokussierung auf den Urheber, also den Auftraggeber, Schreiber, Steinmetzen und andere Personen, die gezielt Einfluss auf Formulierun-gen, Gestaltung und Anbringungsort der jeweiligen Texte nehmen konnten. Der Anteil des Lesers oder Betrachters an der Kommunikation scheint demgegenüber zunächst in den Hintergrund zu treten; allerdings nicht gänzlich, insofern als weiter zu unter-suchen ist, inwieweit der Rezeptionsprozess durch bestimmte, mit den Absichten ver-knüpfte Mittel gesteuert wurde und welche Spielräume oder Ambivalenzen für den Rezipienten bestehen blieben. Welche Kenntnisse wurden vorausgesetzt, auf welche Konventionen konnte man sich verlassen und wurde gegebenenfalls Mehrdeutigkeit miteinkalkuliert? Auch die Möglichkeit, dass trotz einer auf eine bestimmte Funktion oder Wirkung gerichteten Konzeption beim Leser oder Betrachter eine andere Wir-kung erzielt wurde, spielt hier eine Rolle.

Dass es nicht der ausschließliche Zweck und mitunter nicht einmal die primäre Funktion der Anbringung einer Inschrift ist – wie in simplen Kommunikationsmodel-len angenommen – Informationen auszutauschen, ist evident.131 Realistischerweise muss jedoch davon ausgegangen werden, dass für den Produzenten und für den Rezi-pienten der Inhaltsaspekt eine gewichtige Rolle spielte und dass sogar damit zu rech-nen ist, dass beide jeweils davon ausgingen, dass sie die Inhalte in der Textform ver-ständlich und somit erfolgreich erfassten. Beide mussten sich auf dieser Ebene darauf verlassen, dass der andere ein ähnliches oder ausreichendes Vorwissen mitbrachte, um die Schriftzeichen und Texte angemessen zu deuten und einzusetzen. Diese Sicht schließt die essentialistische Annahme aus, dass Bedeutungen in Texten gespeichert werden können. Stattdessen wird angenommen, dass der Inhalt jeweils neu von den Rezipienten zu konstruieren ist.132

Die Kommunikation anhand von Inschriften stellt – wie alle anderen Formen der Kommunikation – einen Sonderfall dar. Nicht nur die sprachliche Äußerung, son-dern auch die Merkmale der Schrift, die Gestaltung der einzelnen Inschrift und ihre Umgebung wirken sich auf die Möglichkeiten aus, sie zu rezipieren. Diese Faktoren sind mehr als nur notwendige Begleitumstände einer sprachlichen Äußerung. Sie sind konstitutiv für das Verständnis der Schriftzeugnisse, die meist ihre Signifikanz und spezifische Relevanz gerade aus der öffentlichen Anbringung, der Einhaltung von Formularen etc. gewinnen. Das trifft auch auf Inschriften wie Graffiti zu, die dem Inhalt nach zunächst als persönliche Mitteilungen erscheinen und gerade durch die

131 Vgl. frühe, mathematisch geprägte Kommunikationsmodelle, die von einem Sender, einem Emp-fänger, einem Kanal und einer erst kodierten und folglich zu dekodierenden Nachricht ausgehen:

Shannon/Weaver 1976.

132 Grundsätzlich dazu: Nünning 1989. Vgl. den komplexen Zeichenbegriff bei Charles Sanders Peirce: Peirce 1998, 289–299.

Anbringung im öffentlichen Raum mit einer potentiell nicht berechenbaren Leser-schaft innerhalb der Kommunikationszusammenhänge anders zu bewerten sind als derselbe Text im Rahmen eines Briefes. Darüber hinaus war die Anbringung von Inschriften darauf angelegt, dass sie lang- oder mittelfristig präsent waren und auch in ständig wechselnden Konstellationen von Begleitumständen Bestand hatten. Inso-fern ist auch ein Wandel der Rezeptionsbedingungen und Bedeutungszuschreibungen bereits einkalkuliert.

Konkret sind die Inschriften daher auf verschiedenen Ebenen zu untersuchen, um die kommunikativen Absichten einerseits und mögliche Deutungen und Wirkungen andererseits zu erschließen bzw. zu rekonstruieren. Neben Wortlaut, Sprache, Formu-lierungen und Abkürzungen sind Spuren der Akteure, die z. B. den Planungsvorgang beleuchten, oder spätere Kommentare sowie Veränderungen zu betrachten. Zudem sind mögliche Situationen und Anlässe zu beleuchten, die zur Anbringung führten und im Rahmen derer die Rezeption stattgefunden hat. Ein wichtiger Faktor ist die Materialität der Inschriften, durch die überhaupt erst ihre Präsenz im Raum zustande kommt und die anhand der Gestaltung und der verwendeten Materialien und Werk-zeuge zu beschreiben ist. Unter Beachtung dieser Faktoren wird sich zeigen, ob neues Licht auf die kommunikativen Funktionen von Inschriften und besonders Wandin-schriften geworfen werden kann.

2.1 Inhaltliches Spektrum der Inschriften in Pompeji