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4 Ereigniskorrelierte Potentiale

4.3 Positivierungen

4.3.2 Die P600

Eine Komponente ereigniskorrelierter Potentiale, die meist später als die bisher genannten Effekte erscheint, ist bei der Verarbeitung syntaktischer Verletzungen zu beobachten. Dabei handelt es sich um eine Positivierung, die als P600-Komponente oder auch Syntactic Positive Shift (SPS) bezeichnet wird (Hagoort, Brown & Grothusen, 1993; Osterhout & Holcomb, 1992, Osterhout, Holcomb &

Swinney, 1994). Verletzungen oder scheinbare Verletzungen von Subkategorisierungsrahmen, Phrasenstrukturen, Numerus, Genus und Subjazenzbeschränkungen zeigen eine Positivierung der Amplitude, die im allgemeinen um 500 ms nach Erscheinen des kritischen Wortes einsetzt und ihr Maximum häufig ca. 100 ms später aufweist (Osterhout & Holcomb, 1992; Hagoort et al., 1993; Neville et al., 1991; Osterhout & Holcomb, 1993; Osterhout & Mobley, 1995). Verteilt ist der SPS meist über den zentralen Mittellinie-Elektroden sowie über den posterioren Bereichen des Skalps (Osterhout & Holcomb, 1992;

Friederici, 1995; siehe auch Kutas et al., 2005).

Als die P600-Komponente auslösendes Phänomen gilt die Wahrnehmung einer syntaktischen Verletzung beziehungsweise einer fehlerhaften syntaktischen Struktur. Der daraus resultierende Versuch zur Reanalyse der Struktur äußert sich in Form einer Positivierung zwischen 500 – 800 ms. Ein klassisches Beispiel für die Elizitierung einer P600-Komponente sind so genannte Garden-Path-Sätze. Von den meisten Menschen kann das Verb „fell“ in (4.17) nicht ohne weiteres in die Phrasenstruktur integriert werden, da die initial angenommene Struktur „barn“ als finales Objektelement der Struktur interpretiert. Daher wird der Satz in einer ersten Analyse meist als ungrammatisch beurteilt, was den besagten Effekt auslöst.

(4.17) The horse raced past the barn fell.

Die Struktur dieses Satzes führt dazu, dass es seinen Lesern häufig nicht ohne weiteres möglich, das Verb „raced“ als einleitendes Element des eingebetteten Relativsatzes zu interpretieren und damit „fell“ die Funktion des Matrixverbes zuzuordnen. Fügt man zwischen das Nomen „horse“ und das Verb „paced“ den

Komplementier „that“ ein, löst sich das Problem. Die strukturelle Analyse wird dadurch eindeutig und der Leser kann sich dabei nicht mehr auf den „Holzweg“

begeben.

Spannend ist, dass die P600 als Funktion syntaktischer Wahrscheinlichkeit variiert (z. B. Gunter, Stowe & Mulder, 1997). Das deutet darauf hin, dass die mit ihr in Zusammenhang stehenden Prozesse durch das verarbeitete Material beeinflusst werden, und es sich nicht um rein automatisch ablaufende Vorgänge handelt. Für Sätze wie (4.18) beschrieben Osterhout & Holcomb (1992) beim Erscheinen von to eine P600-Komponente:

(4.18) The broker persuaded to sell the stock was sent to jail.

“Persuaded“ wird zunächst als Hauptverb des Matrixsatzes analysiert. Folglich wird ein direktes Objekt im Anschluss erwartet. Statt dessen erscheint „to“, was der initialen Strukturinterpretation widerspricht. Die P600 an dieser Position reflektiert das Aufdecken dieser Ungrammatikalität und der damit verbundenen, notwendigen Reanalyse der angenommenen Struktur. In der Folge muss „persuaded“ als das Verb des eingebetteten Relativsatzes reinterpretiert werden, da „was“ das tatsächliche Hauptverb des Matrixsatzes ist.

Diese Theorie wird gestützt durch Studien, die die Augenbewegungen von Probanden beim Lesen ambiger Sätze untersuchten. Eine wichtige Beobachtung, die dabei gemacht wurde, ist, dass Leser desambiguierende Stellen, die nicht zur präferierten Lesart führen, länger fixieren (Frazier & Rayner, 1982). Die beschriebene Fehlanalyse kann darauf zurückgeführt werden, dass der menschliche Parser zuerst die präferierte Lesart als Struktur konstruiert (siehe Kapitel 2.1). Die Natur kognitiver Ereignisse, die späten Positivierungen unterliegen, ist nicht vollkommen klar. Da die P600 auch für Sätze gefunden wurde, die unter jeglichen Lesarten ungrammatisch sind (4.19) (aus Coulson, King

& Kutas, 1998) könnte sie grundsätzlich auch die Feststellung einer Ungrammatikalität reflektieren, was sowohl für das Erkennen initialer Fehlanalysen als auch von völlig ungrammatischen Strukturen charakteristisch ist.

(4.19) Every Monday he *mow the lawn.

Osterhout et al. (1994) vermuteten, dass die P600 an die Verarbeitungskosten eines Garden-Path-Effektes gebunden ist. Das bedeutet, dass die P600 ein Indikator für Reanalyse ist und die Notwendigkeit einer Überarbeitung auf der Ebene der repräsentierten Satzstruktur spiegelt. Eine P600 bedeutet folglich nicht, dass eine als ungrammatisch erkannte Struktur doch noch grammatisch verarbeitet werden kann. Dies zeigen auch die Ergebnisse von Frisch & Schlesewsky (2001) für die Verarbeitung fehlerhafter Kasusmarkierungen (siehe Kapitel 4.2.2).

Ausgehend vom bisher genannten ließe sich für die P600-Komponente sagen, dass sie in Zusammenhang mit dem Versuch der Reanalyse bereits aufgebauter syntaktischer Strukturen zu beobachten ist. Sie ist über den posterioren Bereichen und den zentralen Mittellinie-Elektroden verteilt und tritt unabhängig von der Modalität der Stimuli auf.

Allerdings sind für die P600 auch Beobachtungen bekannt, die möglicherweise eine Erweiterung der bisherigen Darstellung der Komponente fordern. Ein Beispiel dafür liefern die Untersuchungen von Kuperberg, Sitnikova, Caplan & Holcomb (2003) mit Sätzen wie (4.20a)

(4.20a) *For breakfast the eggs would only eat jam and toast.

(4.20b) For breakfast the boys would only eat jam and toast.

(4.20c) *For breakfast the boys would only bury jam and toast.

Da es sich bei der Verarbeitung des Verbs “eat” in (4.20a) um eine semantische Verletzung handelt (Eier können nach allgemeinem Konsens nicht essen), wäre eigentlich eine N400 als Korrelat der Wahrnehmung dieser Verletzung für die Position des Verbs zu erwarten. Allerdings beobachteten die Autoren eine P600-Komponente nach Erscheinen des Stimulus. Eine N400 wurde hingegen für die Verarbeitung des Verbs in (4.20c) beobachtet. Im Vergleich zu (4.20b) zeigt das Verb in (4.20c) eine pragmatische Verletzung an. Die Zuweisung der Agensrolle durch das Verb ist für das Argument „the boys“ zwar zulässig, im bestehenden Kontext aber semantisch unpassend. In (4.20a) weist das Verb der vorangegangenen NP zwar ebenfalls die Agensrolle zu. Allerdings erfordert das

Verb ein belebtes Argument. Dies ist nur in (4.20b) erfolgreich. Dem unbelebten Nomen „eggs“ in (4.20a) kann hingegen eher die Rolle des Themas oder Patiens zugewiesen werden, wodurch es mit der Verarbeitung des Verbs zur Wahrnehmung einer thematischen Verletzung kommt, die sich in einer P600-Komponente ausdrückt. Die gleichzeitig bestehende semantische Inkongruenz zeigt sich in den Daten zusätzlich in einer schwachen N400, die nicht für alle Probanden nachweisbar war. Auch Kolk, Chwilla, van Herten & Oor (2003) beobachteten für holländische Sätze, deren Plausibilität manipuliert worden war (4.21), ein P600-Korreltat anstelle der erwarteten Negativierung.

(4.21) # De kat die voor de muizen vluchtte rende door de kamer.

(unplausibel, aber möglich)

# Die Katze, die vor den Mäusen floh, rannte durch die Kammer.

Einen vergleichbaren Effekt fanden van Herten, Kolk & Chwilla (2005) für semantisch inakzeptable Sätze (4.22). Für die Position des kritischen Verbs zeigte sich in den abgeleiteten ereigniskorrelierten Potentialen eine Positivierung ohne Negativierungsanteil.

(4.22) De vos die op de stroper joeg sloop door het bos.

Der Fuchs, der den Jäger jagte, schlich durch den Wald.

Van Herten, Chwilla & Kolk (2006) schließlich zeigten, dass die von van Herten et al. (2005) sowie Kolk et al. (2003) beobachteten, semantisch assoziierten P600-Komponenten offenbar in Zusammenhang mit der semantischen Relation zwischen Verben und Nomen stehen. Für Sätze mit hohem semantischen Zusammenhang zwischen dem Verb und seinem Argument (4.23b) fand sich ein den oben genannten Studien vergleichbares P600-Muster. Hingegen fanden sie für Bedingungen wie (4.23c) mit niedriger semantischer Relation zwischen Nomen und kritischem Verb eine reine N400-Komponente für die Position des Verbs, verglichen mit (4.23a).

(4.23a) Jan zag dat de olifanten de bomen omduwden en hun mars door het oerwoud vervolgden.

Jan sah, dass die Elephanten die Bäume umwarfen und ihren Marsch durch den Wald fortsetzten.

(4.23b) # Jan zag dat de olifanten de bomen snoeiden en hun mars door het oerwoud vervolgden.

# Jan sah, dass die Elephanten die Bäume stutzten und ihren Marsch durch den Wald fortsetzten.

(4.23c) * Jan zag dat de olifanten de bomen verwenden en hun mars door het oerwoud vervolgden.

# Jan sah, dass die Elephanten die Bäume liebkosten und ihren Marsch durch den Wald fortsetzten.

Die P600-Komponente insgesamt, kann aufgrund dieser Daten nicht mehr ausschließlich als syntaktisch assoziiertes Korrelat von Sprachverarbeitungsprozessen interpretiert werden. Unter bestimmten Umständen zeigt sie auch die Ermittlung semantischer Fehler an, wenn sich, wie bei van Herten et al. (2006), die Plausibilität eines Satzteils mit dem Rest des Satzes konfligiert. Van Herten et al., 2005 und 2006 sowie Kolk et al., 2003 argumentieren daher dafür, die Komponente weiter als Indikator für Reanalyse anzusehen, allerdings in einer weiter gefassten Bedeutung als bislang beschrieben. Die Komponente wird von den Autoren als Korrelat der Überprüfung von Verarbeitungsfehlern insgesamt interpretiert. Diese Auslegung schließt sowohl die angenommene Funktion der Komponente in Garden-Path-Sätzen (Osterhout &

Holcomb, 1982) ein, wie auch die in syntaktisch fehlerhaften Sätzen (Coulson et al., 1998), die in syntaktisch sehr komplexen, dabei grammatisch korrekten Sätzen (Kaan et al., 2000) und die Funktion der P600 in Bezug auf die oben beschrieben Implausibilitäten. Nichtsdestotrotz ist davon auszugehen, dass künftige Studien zur Klärung der Frage nach der Natur der P600-Komponente weitere Aufschlüsse geben und möglicherweise eine Änderung der bisherigen Interpretation erfordern werden.