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Die Neuentdeckung des Chronographen in den historischen Wissenschaften

Im Dokument Das Kalenderhandbuch von 354 (Seite 52-61)

Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts war der Chronograph durchaus nicht vergessen, wie die verschiedenen Editionen und Erwähnungen zeigen, doch begann dann ab 1850 mit Mommsens Abhandlung über den Chronographen das Zeitalter seiner wissenschaftlichen Bearbeitung als historische und bildwissenschaftliche Quelle.

4.1 Die Arbeiten von Mommsen

Für Mommsen war es der Beginn einer lebenslangen Auseinandersetzung mit den Problemen der Traditionen und Überlieferung des Textes beginnend mit seiner magistralen Einleitung in die Materie im Jahre 1850, der bereits eine vorläufige Edition beigegeben ist. Seine endgültige

177 La copie du calendrier constantinien des Fastes de Constance, fils de Constantin, fut retrouvée dans les papiers d´Aléandre, d´après la lettre de Peiresc à Holstenius du 2.X.1636.

178 In diesem Brief p. 311 verweist Peiresc auf eine Disposition Aleanders für die Publikation, die 10 bis 12 Kapitel umfassen sollte: Pour les autres diverses observations il m'en a voit faict voir icy 10 ou 12 chappitres grandement curieux et m'avoit promis de m'en laisser faire transcrire la pluspart, mais son passage fut un peu précipité depuis cette parole donnée et m'avoit donné espérance de le faire faire dans Rome.

179 Aleander arbeitete vor seinem Tod an der korrigierten Neuausgabe des von A.Ciaccone 1601/1602 herausgegeben Werkes, das erst nach Aleanders Tod gedruckt wurde: Vitae et res gestae Pontificum Romanorum et S.R.e.

Cardinalium ab initio nascentis ecclesiae usque ad Urbanum VIII. Pont. Max….Hieronymus Aleander I.C. et alii Ciaconianum opus recensuerunt, Romae 1630, und konnte sich deshalb nicht mit dem Chronographen auseinandersetzen und die Arbeit beenden. Holsten sei bestimmt ein zuverlässiger Mann für die Beendigung der Arbeit am Kalender, da er die Materie durch Aleander kenne. Vgl Brief von Peiresc an dal Pozzo vom 17.5.1629, Lhote 1989 ep.9, p. 64-65 (Nr.60)

180 Mommsen 1892, 23 Anm.2; fälschlich Salzman 258 Anm.43.

181 Bresson 184 - 197 Nr. 18: Erwähnt die Roma im Kalendermanuskript und vergleicht sie mit dem Cameo von Rudolf II (Gemma Augustea): Et se void une figure de Rome habillée de long en la mesme sorte dans les fastes-kalendriers mss. tant crestiens que idolastres, vgl Stern 131 –133.

182 Da Peiresc trotz intensiver wissenschaftlicher Korrespondenz mit Holstenius, die sich fortsetzen sollte, das Thema des Kalenders nicht mehr erwähnt, scheint ihm klargeworden zu sein, dass er für seine Publikation aus Rom keine Hilfe erwarten kann. ep. 60, p. 455: Il me tardera d'apprendre que vous ayiez retrouvé les liasses des Schedes et mémoires de feu Mr Aleandro concernant le vieil kalendrier et cez fastes de Constantius filz de Constantin, et du pape Liberius, et encores plus que l'envie vous ayt prins d'en reprendre les errements, pour en achever les commentaires qui seroient certainement bien dignes du labeur d'un homme de vostre sorte y ayant de trez nobles notices à prendre, aultant que d'aultre monuments (sic) de l'antiquité qui se soit de long temps desterré. Dabei könnte Holsten das Material sehr schön für seine beabsichtigte Papstgeschichte verwenden.

Edition findet sich in MGH AA IX 1183 und im Corpus Inscriptionum Latinarum184. Diese Editionen geben bis heute den Textus receptus, und zwar in der Form, dass unter Ausschluss des Bildmaterials die Liste von KAL in CIL zu finden ist, während die übrigen Texte in die MGH aufgenommen wurden. Es lässt sich beobachten, dass in Einzelfragen Mommsens Ansichten sich im Laufe der Zeit geändert haben. So war er ursprünglich der Ansicht, dass das Werk unter Constantius und Constans entstanden sei, während er dann in den großen Editionen der 1890er Jahre Constantius und Constantius Gallus angibt. Von einer Bearbeitung des Bildmaterials glaubte er absehen zu können, da er für diese Aufgabe den Wiener Kunsthistoriker Josef Strzygowski im Rahmen des Kaiserlich Deutschen Archäologischen Instituts gewonnen hatte.

Daher ist bis zum heutigen Tag keine zusammenhängende Gesamtedition des Kalenders vorhanden, und vor allem fehlt eine Edition des Bildmaterials im Zusammenhang der Texte.

4.2 Die Bildanalysen von Strzygowski

Strzygowski legte im Jahre 1888, also vor den endgültigen Publikationen Mommsens, mit Unterstützung von De Rossi und dem Fürsten Barberini sein Werk „Über die Kalenderbilder“

vor. Strzygowski sieht im Chronographen ein Werk christlicher Profankunst, dessen Bilder einen guten Teil der Vorstellungen der Christen des 4. Jahrhunderts dem öffentlichen und täglichen Leben gegenüber verkörpern.185

Für ihn zählen zum Kalender neben den Bildteilen die Konsularfasten, das Verzeichnis der Stadtpräfekten, die Notitia Regionum, die Ostertafel, das Martyrologium und das Verzeichnis der römischen Bischöfe, wobei er nicht alle Teile behandelt, weil ihn nur der historische Aspekt und die kunstgeschichtlichen Implikationen interessieren. Denn die Bilder hatten bis zu diesem Zeitpunkt – außer bei Peiresc – kaum Beachtung erfahren.

Mit Mommsen unterscheidet Strzygowski zwei Handschriftenfamilien des 9. Jahrhunderts; zur ersten gehören das Fragment in Bern und V sowie St. Gallen, zur zweiten Brüssel und Rom.186 Er verfolgt den doppelten Zweck, die Peirescische Copie des Kalenders von 354 bekanntzumachen und diesen in seinen Illustrationen soweit wieder herzustellen als es nach den auf uns gekommenen Überresten möglich ist. Dabei sieht der Wiener Kunsthistoriker im Kalender − nicht unbeeinflusst von den Denkmustern seiner Zeit − einen Volkscalender, der alle die Bestandteile aufweist, welche wir noch heute in dem unsrigen wiederfinden können.187: Für ihn stellt der Kalender ein höfisches Konstrukt dar, zu dem neben der Widmung die Vorführung des Reiches in seinen Hauptstädten sowie besonders die Akklamation der Augusti, die Natales Caesarum und die beiden Fürsten am Schlusse, d.h. die Konsulbilder gehören. Daneben nimmt er einen astrologischen und bürgerlichen Calender mit Monats- und Tagesregeln an.

Was die Datierung angeht, so nimmt Strzygowski eine Grundredaktion in den Jahren 340-350 an, die 354 umgearbeitet wurde, als Constantius und Gallus Konsuln waren. Dieses Exemplar sei im 9. Jahrhundert kopiert worden, wie die paläographischen Eigentümlichkeiten beweisen.

Durch diese karolingische Kopie und die folgenden Kopien der frühen Neuzeit seien die stilistischen Eigentümlichkeiten der spätantiken Handschrift verloren gegangen. Dazu rechnet er auch die Farbigkeit der ursprünglichen Illustrationen, von denen allein Spuren in Wien zu finden

183 Gestützt auf die Handschriften A (Bern), B (Brüssel), G (Amiens, jetzt: A), S (Sankt Gallen) und V (Wien);

Mommsen untersucht zwar an Hand der Peiresckorrespondenz den nicht vorhandenen „Luxenburgensis“, nimmt aber die römische Überlieferung hier nicht auf.

184 Hier benutzt Mommsen A (Bern), V, R (R1) und B für KAL und NatCaes.

185 Strzygowski 1.

186 Strzygowski 6.

187 Strzygowski 96.

seien.188 Zum Malstil des spätantiken Manuskripts stellt Strzygowski fest: Neben dem antikisierenden Geiste auf der einen Seite und dem in einzelnen Figuren aufkeimenden Byzantinismus auf der anderen Seite finden wir in den Decorationen Etwas, das dem vierten Jahrhundert besonders eigen ist. In ihnen zeigt sich deutlich, dass das Streben des Künstlers durchaus nicht, wie zum größtenteil im Figürlichen, darauf ging in der antiken Tradition weiterzuarbeiten. Planlos türmt der Zeichner hergebrachte und selbsterfundene Constructionsglieder: Säulen, Architrave, Lünetten, Giebel und auf die Kathete gestellte Dreiecke übereinander… ... noch bunter treibt er es in der Ornamentation all dieser Teile. … So lebt in dem Decorationssysteme unseres Calenders die Kunst der Antike aus.189

4.3 Nordenfalk

Die von Mommsen und Strzygowski favorisierte These eines karolingischen Zwischenexemplars (L) und die Aufteilung in zwei Traditionsstränge fand ihre Kritik durch Nordenfalk190. Dabei macht er darauf aufmerksam, dass zum einen Mommsen selbst in seiner Veröffentlichung von 1892 die Aufteilung in zwei karolingische Handschriftenfamilien in Frage gestellt habe. Nordenfalk will aber nun die karolingischen Zwischenexemplare grundsätzlich ausschließen und nimmt als Vorbild der frühneuzeitlichen Kopien die originale spätantike Handschrift oder eine spätantike Kopie an. Denn die Prachtausgabe des Kalenders stelle „ihrer ganzen Natur nach eine einmalige Schöpfung dar.“ Denn bei einer späteren Verwendung wäre das Frontispiz entfallen oder auch verändert worden. Der Argumentation Nordenfalks liegt sein Bemühen um eine stilgeschichtliche Einordnung der Bilder des Chronographen in die Kunst der Stadt Rom des 4. Jahrhunderts zugrunde.191 Für Nordenfalk ist der Kalender ein Vertreter vielleicht einer der ältesten Renaissanceströmungen des 4. Jhdts., die wir besonders vom Sarkophag des Iunius Bassus kennen. Möglicherweise stellt dabei der Chronograph den Beginn eines kurialen Stiles dar, „die erste jener zahlreichen römischen Kunstblüten, welche mächtige und kunstliebende Päpste ins Leben gerufen haben“192. Dabei vermittle der Kalender uns eine

„Grundvorstellung von der römischen Buchmalerei um die Mitte des 4. Jahrhunderts.“193

Der Kalender enthielt nach Nordenfalk die allgemeinen astronomischen Daten, das Verzeichnis der Konsekrationstage der römischen Kaiser, eine Liste der römischen Konsuln von 510 vor bis 354 nach Chr., ein Verzeichnis der römischen Stadtpräfekten von 254-354, einen römischen Märtyrerkalender und eine Liste der römischen Bischöfe von Petrus bis Liberius.

Die Rezeption des ursprünglichen Exemplars vom Jahre 354, besonders der astrologischen Darstellungen (Tierkreiszeichen), verfolgt Nordenfalk sehr genau und findet Spuren dieser Darstellungen in der Malerei der Bodenseegegend aus der Zeit um 900194 und um 1450 in Südostdeutschland195. Schließlich gehören die Wiener Kopie, die er um 1500 im Nürnberger Umkreis lokalisiert, ebenso dazu wie die um 1560 in Luxemburg auftauchende Brüsseler

188 Über die Farbigkeit in V vgl Winkler 146 Anm.1, der eine teilweise sekundäre Bearbeitung der Wiener Handschrift annimmt.

189 Strzygowski 105.

190 Nordenfalk.

191 Nordenfalk 9: Die in manchen Beziehungen vielleicht heilsame Einseitigkeit des Strzygowskischen Panorientalismus hat in diesem Fall unreife Früchte gezeitigt.

192 Nordenfalk 21.

193 Nordenfalk 28.

194 Cod. St. Gallen 878, BAV Reg.Lat. 438 (Wandalbert, Martyrologium), vgl Byvanck 179: Um diese selbe Zeit (oder vielmehr schon um die Mitte des 9. Jhdts.) wurden von einem Maler, der vielleicht in Prüm arbeitete, die Monatsbilder des Kalenders als Vorlage benutzt für die Illustration eines Exemplars von Wandalberts Martyrologium.

195 Nordenfalk 23, Scotus-Handschriften mit Planetendarstellungen: Darmstadt Universitäts- und Landesbibl. Cod.

266; BAV Pal.Lat. 1370, Salzburg Studienbibliothek V2G 81/83.

Kopie196 und die späteren Kopien von Teilen des Chronographen197. Mit einer sozusagen romantischen Idee nimmt Nordenfalk die Möglichkeit an, durch Peiresc sei der Kalender „auf seiner langen Wanderung zu seinem Ursprungsort zurückgekehrt“. Die Plausibilität von Nordenfalks Thesen, die das karolingische Zwischenexemplar ausschließen, wurde als Möglichkeit von Winkler198 und Byvanck199 rezipiert: Wir wissen deshalb auch nicht mit Sicherheit, ob die Handschrift aus dem 8.-9. Jhdt. stammte, also eine Kopie aus karolingischer Zeit war, wie Peiresc glaubte und wie man meistens annimmt, oder etwa das Original selbst aus dem 4. Jhdt. Nordenfalk hat sich für die letzte Möglichkeit ausgesprochen, da man in den Nachbildungen keine Spuren karolingischen Formgefühls findet.200 Byvanck betont, dass die Renaissance des 4. Jahrhunderts nicht von den Päpsten hervorgerufen wurde, wie Nordenfalk meint, „sondern eine allgemeine für die römische Kunst, besonders für die senatorische Kunst, dieser Zeit charakteristische Richtung“ sei.

4.4 Stern

Henri Stern veröffentlichte im Jahre 1953 sein großes Werk über den Kalender, seinen Text und seine Bilder201 und ergänzte es 1981 durch seinen Beitrag in ANRW202. Das Werk von 1953 ist bis heute für die Analyse der Darstellungen des Kalenders grundlegend. Dabei geht Stern von der Manuskripttradition aus, die er sehr breit unter Einschluss des astronomischen Materials darlegt, wobei er wie Mommsen der Theorie einer einzigen Kopie L des Originalmanuskriptes anhängt. Vom Originalmanuskript leitet Stern drei Linien ab:

1. über ein Zwischenexemplar der karolingischen Epoche kommt es zu dem nur wenig späteren Fragment in St. Gallen203 ,

2. gehen astronomische Darstellungen wie das astronomische Blatt im Leidener Vossianus auf den Chronographen zurück,

3. der verlorene Luxemburgensis L, von dem R (= R1 und R2), B (Brüssel), V (Wien), SG (St. Gallen), Bern (Bern), A (Amiens), Voss (Vossianus) sowie weitere astrologische Bildüberlieferungen abhängen.

Dabei verwirft Stern die Analyse von Nordenfalk und folgt „ce grand archéologue“ Peiresc bei der Feststellung einer Datierung von L in karolingische Zeit, die er zudem durch die Arbeiten Schapiro204 und Köhler205 bestätigt sieht.

Die Darstellung des Materials beginnt mit den astrologischen Teilen des Kalenders, deren Tradition Stern umfangreich darstellt, da er der Ansicht ist, dass die mittelalterlichen Kalenderillustrationen mit den Zodiakaldarstellungen ihren Ursprung in der auch im Chronographen zu findenden Ikonographie besitzen. Danach behandelt er die Feste, die im Rahmen des Kultes, vor allem des Kaiserkultes stehen. Hier gilt sein Interesse dem Verhältnis von paganem Kult und Christentum unter Constantius II. Den Rest des Werkes machen archäologisch-kunsthistorische Fragestellungen aus. Stern geht hier der Ikonographie der

196 Brüssel Bibl.Royale 974 (9987-91).

197 Nordenfalk 24f., um 1580 Brüssel (Notiz von d’Assonville) und Arras (Renon de France) = Amiens, Bibl. de la ville 407; 1620 Paris (Peiresc – BAV Barb.Lat.2154).

198 F. Winkler, Die Bilder des Wiener Filocalus (L. Cranach d.Ä.), Jahrb. d. Preuß. Kunstsammlungen 57, 1936, 145.

199 A.W.Byvanck, Antike Buchmalerei III – Der Kalender vom Jahr 354 und die Notitia dignitatum, Mnem. 3,8, 1940, 177−198, bes. 178. 184.

200 Byvanck 178.

201 H.Stern, Le calendrier de 354, étude sur son texte et ses illustrations, Bibliothèque archéologique et historique 55, 1953, dazu Rez. A.W.Byvanck, Rez. Mnem. 8, 1955, 257-260.

202 H.Stern 1981, 431-475.

203 St. Gallen 878.

204 Schapiro 270-272.

205 Briefliche Mitteilung an Stern, nicht datiert, vgl Stern 19 Anm.4 (10. Jahrhundert): It is very likely that the minusculs of the model showed already the caracteristic features of Xth Cent. script in form of an abbreviation.

Kaiserbilder, der astrologischen Darstellungen und der Monatsbilder mit besonderer Sorgfalt nach. Den Überlegungen zur Ikonographie folgen solche zum Stil.

4.5 Salzman

Seit 1981 veröffentlichte Renée M. Salzman Beiträge zur Geschichte des Kalenders im spätantiken Rom, die in ihrer Arbeit „On Roman Time“ von 1990 kulminierten. Ihre Arbeiten stehen im Zusammenhang einer Fragestellung, die die komplexe Mentalitätsgeschichte Roms mit ihren unterschiedlichen sozial- und religionsgeschichtlichen Faktoren zum Inhalt hat. Dabei stellt sie den Lebensrhythmus der stadtrömischen Aristokratie in den Mittelpunkt und versucht, die den Rhythmus des Jahres formenden Elemente zu bestimmen. Hier zeigt sich eine Dominanz der Festtage, die sich auf das konstantinische Haus beziehen. Die alten religiösen Feste treten zurück, am wenigsten dagegen die jahreszeitlich bedingten. Christliche Akzente finden sich in diesem Zusammenhang nicht. So kann Salzman feststellen206: The evidence indicates that Constantius’s antipagan codes were not enforced at Rome and that pagan reaction to such legislation has been greatly exaggerated, both in modern scholarship and in ancient rhetoric.

Bemerkenswert ist jedoch, dass im Unterschied etwa zum Feriale Duranum eigentliche blutige Opfer nicht erwähnt werden.207

Während so das Jahr für Nichtchristen ohne große Veränderungen im traditionellen Rhythmus ablief, mussten die Christen mit ihren Sonntagsgottesdiensten sich dem vorgegebenen Lebensrhythmus anpassen und konnten nur allmählich zusätzlich zum traditionellen Jahr eines Stadtrömers einen christlichen Zeitrahmen aufbauen. Das zeigen im Chronographen die christlichen Teile mit ihren Jahrestagen. Ein römischer Christ lebte also in der konstantinischen Zeit faktisch in zwei Zeit- und Festsystemen.

Das Kompositionsgefüge unseres Kalenders ist nach Salzman dafür ein Indiz. Es handelt sich um eine funktionsorientierte Zusammenstellung von gewachsenen und jeweils neu adaptierten Texten, die für ein Mitglied der stadtrömischen Oberschicht die notwendigen Informationen enthalten. Der Großteil dieser Notizen ist für die Verwaltung und die allgemeine Orientierung und Information von Bedeutung. Im Vergleich zu anderen Kalendern, etwa dem Feriale Duranum und zu epigraphischen Fasten, stellt die illuminierte Luxusausgabe des Chronographen eine Besonderheit dar. Wieweit es sich bei ihm um ein Unikat oder eher um das einzige erhaltene Exemplar einer solchen Gattung handelt, müsse offen bleiben.

Einige der Folgerungen, die Salzman aus dem Chronographen zieht, können nicht unwidersprochen bleiben. So stellt der Kalender wohl kaum ein Indiz für religiöse Toleranz der spätkonstantinischen Zeit dar, denn gerade mit seinen verschiedenen Teilen zeigt der Kalender ein hartes Nebeneinander der unterschiedlichen Texte. Das weist je nach der Perspektive und dem konkreten Frageinteresse des Benutzers auf eine nichtchristliche oder christliche Lebenswelt hin. Die Zusammenstellung der beiden unterschiedlichen Traditionen diente dem praktischen Gebrauch. Dabei kann eine bereits ältere Verbindung von Einzelteilen nicht ausgeschlossen werden. Dafür sind die beiden christlichen Depositionslisten ein eindeutiges Beispiel. Analog dürfte es vielleicht auch eine Kombination von Konsularfasten und Listen der Stadtpräfekten gegeben haben. Dazu tritt der Einfluss einer monumentalen epigraphischen Tradition der Konsularfasten und der Monatsfasten. Andererseits findet sich ein gewisser Modellcharakter im Dispositionssystem des Jahreskalendariums mit der parallelen Anordnung

206 Salzman 209.

207 Salzman 227: Active adaptation to the „Christian times“ under Constantius was not, however, the universal rule.

Many Roman pagans merely continued their traditional cult practices without perceiving their activities as controversial. Temples were still dedicated, sacrifices still performed, and religious festivals and games still celebrated.

von Mondphasen, Siebentagewoche und Achttagewoche sowie römischem Kalenderschema, die alle mit dem 1. Jänner beginnen. Diese Praxis der epigraphischen Kalender steht im Kontrast zur Realität und erfordert eine Flexibilität, wie sie die Steckkalender besaßen, die aber eher für astrologische Zwecke gedacht waren (Mondmonat, Wochentagsgötter).

Die größte Schwäche der Interpretation von Salzman besteht darin, dass sie die eklektische Übernahme von Bild- und Textteilen in unserer Manuskriptüberlieferung nicht erklären kann.

Des weiteren bleibt die grundsätzliche Frage, ob der erwähnte Modellcharakter ein hinreichendes Argument dafür ist, die römische Tradition mit den christlichen Texten zusammenzuführen und sie so in einem Manuskript zu verbinden, von dem ein halbes Jahrtausend später ein uns nur zu erschließendes Zwischenexemplar erstellt wurde.

4.6 Burgess

Die Frage nach den ursprünglichen Teilen des Chronographen ist 2013 neu in den Vordergrund getreten. Denn Richard W. Burgess208 stellt die Frage, welche Texte denn zur Originalkompilation von 353 gehörten, in den Mittelpunkt seiner Ausführungen und beantwortet sie maximalistisch. Für ihn gehören zur Sammlung neben den traditonellen Bildern und Texten einschließlich der Distichen und Tetrastichen die Notitia regionum urbis XIV, der Liber generationis, das Breviarium (= Chronica urbis Romae) und wahrscheinlich ebenso die Consularia Vindobonensia posteriora (= Annales Vindobonenses posteriores) und die Consularia Vindobonensia priora (= Annales Vindobonenses priores), so dass er von einem aus 18 Teilen zusammengesetzten Kompendium ausgeht.209

Einzelne dieser Teile seien also zu zeitgenössischen Kopien der Originalhandschrift oder einer frühen Abschrift hinzugekommen, die sich so bis ins 9. bzw. 10. Jahrhundert erhalten hätten.

Dabei sei das fragmentierte Urexemplar im Laufe seiner Überlieferung fälschlich so gebunden worden, dass Teil eins dem zweiten Teil folgte. Zusätzliche Texte seien im 8. und 9. Jahrhundert hinzugekommen. Die karolingische Entstehungszeit der Kopien ist durch die in den besten Texten erhaltene Capitalis rustica als Majuskelschrift erwiesen. Einzelne Teile dieses Kompendiums seien in der Spätantike und im Frühmittelalter als Einzeltexte kopiert worden, so dass eine eigene Überlieferung dieser Texte entstanden sei. Nach Burgess enthielt das Urexemplar folgende Texte, wobei er sich auf St. Gallen, Wien und das postulierte Manuskript aus Luxemburg (L) stützt.

1. Frontispiz 2. Städtebilder 3.1. Kaiserdedikation 3.2. Natales Caesarum 4. Planetenwoche

5. Effectus XII signorum

6. Monatsbilder und Monatsfasten 7. Kaiserbilder

8. Fasti Consulares 9. Computus paschalis

10. Liste der Stadtpräfekten (PraefUrb) 11. Depositio episcoporum

12. Depositio martirum 13. Catalogus Liberianus

In der Überlieferung von St. Gallen und Wien sind später hinzugekommen:

208 R. W. Burgess, The Chronograph of 354: Its Manuscripts, Contents, and History, JLA 5.2, 2013, 345–396.

209 Aus dem Stemma, Burgess 2013, 390f, geht aber hervor, dass diese Teile ebenfalls sekundäre Ergänzungen sind.

14. Liber generationis 15. Breviarium

16. Fasti Vindobonenses priores - Consularia Vindobonensia priora210 17. Notitia regionum urbis XIV

4.7 Das Corpus der karolingischen Miniaturen

Zuletzt ist 2013 im Sammelwerk „Die Karolingischen Miniaturen“211 die communis opinio zum Kalender von 354 zusammengefasst worden. Dabei wurde die karolingische Datierung des Luxemburgensis besonders auf Grund paläographischer Kriterien, die sich in seinen Kopien erhalten haben sollen, zu bestätigen gesucht. Wichtig ist bei dieser Darstellung die Einordnung des Kalenders ebenso wie des Agrimensoren-Codex in Rom unter die „Einzelhandschriften aus Lothringen“ und die Herstellung eines Zusammenhanges, der auch die naturwissenschaftlichen Texte der Feldmesser mit ihrem breiten Spektrum von Karten, Landschaften, Stadtanlagen, Bauwerken und Brücken und die astronomisch-komputistischen Themen sowie die politische Ikonographie des Kalenders in den Zusammenhang der karolingischen Renovatio stellt.212

4.8 Ergebnis der Untersuchung

Eine Erklärung der Überlieferung muss sich auf eine multiple Vorgehensweise stützen. In V fällt ein Unterschied zwischen Bild- und Textteil auf, so dass sich die Vermutung nahelegt, dass beide Teile wohl zeitgleich entstanden, aber erst sekundär zusammengefügt worden seien.213

Eine Erklärung der Überlieferung muss sich auf eine multiple Vorgehensweise stützen. In V fällt ein Unterschied zwischen Bild- und Textteil auf, so dass sich die Vermutung nahelegt, dass beide Teile wohl zeitgleich entstanden, aber erst sekundär zusammengefügt worden seien.213

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