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Die Dreiteilung des Guten und das Gerechtsein

II. Das Gute und das Glück

2.3 Eudämonistisches Gutsein: Die Dreiteilung des Guten

2.3.5 Die Dreiteilung des Guten und das Gerechtsein

1. Kehren wir mit diesen Ergebnissen zurück zum Ausgangspunkt der platonischen Dreiteilung des Guten: Um zu zeigen, dass nicht das Ungerechtsein, sondern das Gerechtsein glückszuträglich ist, war zuerst festzustellen, wie das (logisch) prädikative Gutsein zu verstehen ist. Es gibt drei verschiedene Arten von Gütern, die glückszuträglich sind. Durch die Analyse wurde auch gezeigt, dass der platonischen Trichotomie der Güter eine doppelte Dichotomie zugrunde liegt, nämlich einerseits die Unterscheidung zwischen dem unmittelbaren und dem mittelbaren eudämonistischen Gutsein und andererseits die Unterscheidung zwischen dem an sich Angenehmen und dem an sich Unangenehmen. Zu welcher Art des Guten gehört das Gerechtseins?

Der gängigen Vorstellung nach ist das Gerechtsein ein C-Gut. Das Gerechtsein ist zunächst im hedonistischen Sinne ein C-Gut. Glaukon sagt, „die meisten rechnen das Gerechtsein zu der mühevollen Art (tou= e)pipo/nou ei)/douj), die man zwar des Lohnes und des guten Rufes wegen pflegen muß, die man aber an und für sich meiden sollte, weil sie beschwerlich ist (xalepo/n)“ (II 358 a4-6).

Adeimantos referiert auch diese Meinung: „wie aus einem Munde singen nämlich alle, wie schön zwar ... das Gerechtsein sei, wie beschwerlich (xalepo/n) aber auch und wie mühevoll (e)pipo/non), das Ungerechtsein ...

angenehm (h(du/)“ (II 364 a1-3)110. In Hinsicht auf das boulematische und das eudämonistische Gutsein ist das Gerechtsein in den Augen der meisten mit Sicherheit ein C-Gut. Es trägt an sich nichts zum eigenen Glück bei. Nach der Meinung Glaukons ist „das Unrechttun ... von Natur gut (pefuke/nai ... to\ ...

a)dikei)=n a)gaqo/n)“ (II 358 e). Wiederholt wird die These, dass das Gerechtsein kein Gut ist: „Das Gerechtsein aber ... liebe man nicht als ein Gut (to\ de\

109 Für eine interessante zeitgenössische Diskussion über die Beziehung des boulematischen Gutseins zum hedonistischen siehe R. Warner, Freedom, Enjoyment, and Happiness. An Essay on Moral Psychology (Ithaca, 1987). Etwas um seiner selbst willen zu wollen, ist, so behauptet er, nur eine notwendige, aber keine notwendige und hinreichende Bedingung dafür, daran Lust zu finden.

110xalepo/n auch in II 358 a6. Das Wort bedeutet nicht technische Schwierigkeit, sondern die Unannehmlichkeit, die allerdings nicht immer aus einer technischen Schwierigkeit resultiert.

Sokrates fragt Kephalos über das Alter, „poi/a ti/j e)stin, traxei=a kai\ xaleph/, h)\ r(#di/a kai\

eu)/poroj)“ (I 328 e3-4) oder „po/teron xalepo\n tou= bi/ou, h)\ pw=j su\ au)to\ e)cagge/lleij.“ (I 328 e6-7). Über diese Frage siehe Kap. IV Anm. 368.

di/kaion ... a)gapa=sqai ou)x w(j a)gaqo/n)“ (II 359 a7-b1). „Das Gerechtsein ist für den einzelnen kein Gut (ou)k a)gaqou= i)di/# o)/ntoj)“ (II 360 c6-7).

Es ist aber unvermeidlich, gerecht zu handeln, es sei denn, dass man ein Tyrann ist. Wie eine medizinische Operation ist es ein notwendiges Übel. Man sagt,

„alle, die die Gerechtigkeit ausüben, tun sie nur ungern als etwas Notwendiges und nicht als etwas Gutes (pa/ntej au)to\ oi( e)pithdeu/ontej a)/kontej e)pithdeu/ousin w(j a)nagkai=on a)ll ) ou)x w(j a)gaqo/n)“ (II 358 c3-4). Das Gerechtsein an sich will man nicht, es ist jedoch ein unvermeidliches Mittel.

„Niemand ist freiwillig gerecht (ou)dei\j e(kw\n di/kaioj)“ (II 366 d1). Dann ist das Gerechtsein auch gut, indem es „mühevoll ist, aber uns nutzt, und um seiner selbst willen möchten wir es nicht haben, sondern wegen des Lohnes und dessen, was uns sonst noch daraus entsteht“ (II 357 c7-d2). Trotzdem ist klar, dass das Gerechtsein als C-Gut auch ein Gut ist. Man darf sich nicht durch den scheinbaren Gegensatz zwischen der Notwendigkeit und dem Guten täuschen lassen111. Etwas Notwendiges ist auch ein Gut, aber eins, das wir nicht an sich haben wollen. Es ist eine notwendige Bedingung für etwas Gutes112.

Damit sind wir wieder zur These des Thrasymachos aus Buch I zurückgekommen, dass das Gerechtsein ein „fremdes Gut“ sei. Tatsächlich hat Glaukon „die These des Thrasymachos wieder aufgenommen“ (II 358 b7-c1)113. Platon, der mit seinen Argumenten in Buch I ganz unzufrieden war, eröffnet damit erneut seine Philippika gegen die These des Thrasymachos über das Glück der Ungerechten.

111ou)dei\j e(kw\n di/kaioj, a)ll ) a)nagkazo/menoj, w(j ou)k a)gaqou= i)di/# o)/ntoj“ (II 360 c6-7).

Die Natur des Notwendigen und des Guten seien voneinander verschieden (VI 493 c).

112 Es ist hier nicht der Ort, das ganze Bedeutungsfeld des Begriffes des Notwendigen, a)nagkai=on bzw. a)na/gkh, ausführlich zu klären. Es wäre am besten, anhand der aristotelischen Analyse (besonders Met. V. 5) dessen Bedeutungsvarianten folgendermaßen zu kategorisieren:

Erstens, „das Notwendige“ bedeutet, dass „ohne es das Gute nicht möglich ist“. Etwas ist notwendig, wenn wir es als ein Mittel unbedingt benötigen, um etwas Gutes zu erreichen.

Tomatensoße ist beispielsweise notwendig, wenn man Spaghetti Bolognese kochen will. C-Güter in dieser Dreiteilung des Guten – und daher auch das Gerechtsein für die meisten – sind gerade in diesem Sinne etwas Notwendiges. Zweitens, etwas kann auch als to\ bi/aion notwendig sein: Es ist für einen notwendig, etwas zu tun, wenn man z.B. durch Gewalt dazu gezwungen ist, obwohl man es nicht tun will. Vgl. „ei)/te ou)k e)bou/leto, ei)/te tij a)na/gkh...“ (X 597 c1). Drittens, to\ mh\

e)ndexo/menon a)/llwj e)/xein ist auch etwas Notwendiges. Hierzu gehören zwei Unterarten.

Einerseits kann die Notwendigkeit eine Eigenschaft einer Proposition oder einer Schlußfolgerung sein. Der „Beweis (h( a)po/deicij)“ ist auch gerade in diesem Sinne notwendig. (Met. V 1015 a20-b15, Vgl. XII 1072 b11-3). Platon redet auch von „der geometrischen Notwendigkeit (V 458 d5).“ Andererseits gibt es „die von Natur angeborene Notwendigkeit (V 458 d2-3)“: Etwas ist notwendig, wenn man es von Natur aus hat. Platon meint z.B., wir hätten einige notwendige Epithymiai (IX 558 d-559 d, Vgl. 561 a2-3) und „notwendige Hedone“ (IX 561 a3-4). Vgl. „die erotische Notwendigkeit“ (V 458 d5).

113 Vgl. Anm. 78.

2. Platon bestreitet aber nicht, dass das Gerechtsein ein G2 ist. Es sei manchmal mühevoll und zum eigenen Schaden und stehe daher in einem mittelbaren Verhältnis zum Glück. Der Unterschied liegt jedoch darin, dass die meisten Menschen (toi=j polloi=j, 358 a4) der Meinung sind, dass das Gerechtsein ausschließlich ein G2 ist114. Platon aber vertritt die Ansicht, dass es auch um seiner selbst willen wünschenswert, also auch ein G1 ist. Für Platon ist das Gerechtsein danach ein B-Gut, nicht ein C-Gut. Für das Gerechtsein gelten nach Platon folgende sechs Thesen:

Das Gerechtsein als G1 Das Gerechtsein als G2

T1-1 Das Gerechtsein ist um seiner selbst willen erstrebenswert.

T2-1 Das Gerechtsein ist um seiner Folgen willen erstrebenswert.

T1-2 Das Gerechtsein steht in einem unmittelbaren Verhältnis zum Glück.

T2-2 Das Gerechtsein steht in einem mittelbaren Verhältnis zum Glück.

T1-3 Das Gerechtsein ist an sich etwas Angenehmes.

T2-3 Das Gerechtsein ist an sich etwas Unangenehmes.

Für Thrasymachos stellen nicht die Thesen T1, sondern die Thesen T2 das Verhältnis zwischen Gerechtsein und Glück richtig dar, für Platon dagegen alle oben formulierten sechs Thesen.

Er will jedoch nicht alle diese Thesen begründen, sondern ausschließlich T1. Es ist für ihn nicht nötig, T2 zu zeigen. Für jeden Vernünftigen sei dies glasklar. In diesem Sinne liegt die Aufgabe der Politeia gerade darin, zu zeigen, dass das Gerechtsein als G1 um seiner selbst willen anstrebenswert ist, obwohl das Gerechtsein in der Tat ein B-Gut ist. Das zeigt sich auch in der absichtlichen Umformulierung der sokratischen Aussage durch Adeimantos: Zuvor hat Sokrates gesagt, das Gerechtsein gehöre „zu der schönsten Art ..., zu der, die man sowohl um ihrer selbst als auch um ihrer Folgen willen lieben muss, wenn man glücklich werden will (e)n t%= kalli/st%, o(\ kai\ di' au(to\ kai\ dia\ ta\

gigno/mena a)p' au)tou= a)gaphte/on t%= me/llonti makari/% e)/sesqai)“ (358 a1-3), aber ein bißchen später sagt Adeimantos zu Sokrates folgendes: „Du hast ja nun zugegeben, dass das Gerechtsein zu den größten Gütern gehört, die schon um ihrer Folgen willen wert sind, dass man sie besitzt, viel mehr aber noch um ihrer selbst willen (e)peidh\ ou)=n w(molo/ghsaj tw=n megi/stwn a)gaqw=n ei)=nai dikaiosu/nhn, a(\ tw=n te a)pobaino/ntwn a)p' au)tw=n e(/neka a)/cia kekth=sqai, polu\ de\ ma=llon au)ta\ au(tw=n)“ (367 c5-7). In diesem Übergang von „sowohl als auch (kai\...kai\)“ (358 a1-2) zu „viel mehr (te polu\ de\ ma=llon)“ (367 c7)

114 Protagoras hat diese Meinung explizit vertreten: Vgl. M. Nill, Morality and Self-Interest in Protagoras, Antiphon and Democritus (Leiden, 1985), 40-42.

zeigt sich der Weg, den der weitere Verlauf des Gesprächs in der Politeia einschlagen wird.

Bis wann diskutieren Sokrates und seine Gesprächspartner über die Hauptfrage der Politeia? Im Buch X sagt Sokrates folgendes:

Z 2 - 1

„wir haben gefunden, dass das Gerechtsein selbst für die Seele selbst das Beste ist (au)to\ dikaiosu/nhn au)t$= yux$= a)/riston hu(/romen) ... Wir haben doch vom größten Lohn und von den Preisen, die für die Arete ausgesetzt sind, noch gar nicht gesprochen (ta/ ge me/gista e)pi/xeira a)reth=j kai\ prokei/mena a)=qla)“ (X 608 b2-c2)115.

Die neue Aufgabe ist nun, so Sokrates, zu zeigen, dass das Gerechtsein auch um seiner Folgen willen erstrebenswert ist. Die gesamte argumentative Struktur der Politeia lässt sich damit wie folgt zusammenfassen: Platon versucht, von dieser Dreiteilung in Buch II an bis zum Ende des Buches IX zu zeigen, dass das Gerechtsein in einem unmittelbaren Verhältnis zum Glück steht. Und im Buch X soll gezeigt werden, dass das Gerechtsein auch ein G2 ist.

3. Bevor wir die weitere Verfeinerung der Aufgabe Platons betrachten, muss der Unterschied der platonischen Vorstellung zur allgemeinen noch deutlicher markiert werden. Äußerlich gesehen ist alles, was Platon in der Politeia zu tun hat, dass er zeigt, dass das Gerechtsein die Eigenschaft des „Um-seiner-selbst-willen-erstrebenswert-seins“ besitzt. In Wirklichkeit steckt aber mehr dahinter.

Alle C-Güter haben ihre jeweiligen extrinsischen Folgen. Diese Güter halten wir nur deswegen für gut, weil wir ihre Folgen haben wollen. Die Leibesübungen und „das ärztliche Betreutwerden bei einer Krankheit“ zielen beispielsweise auf die körperliche Gesundheit und „die Ausübung der Heilkunst oder jeder andere Gelderwerb“ auf das Geld116. Was sind dann die Folgen bzw. der „Preis“ 117 des

115 Vgl. „i(/na au)th\ dikaiosu/nh pro\j a)diki/an au)th\n kriqei/h“ (X 612 c10-d1). Dieselbe Formulierung findet sich in folgender Aussage des Sokrates: „In unserem Gespräch über das Gerechtsein haben wir doch... nichts von ihrem Lohn und ihrem Ansehen gesagt (e)n t%= lo/g%, kai\ ou) tou\j misqou\j ou)de\ ta\j do/caj dikaiosu/nhj e)p$ne/kamen)“ (X 612 a8-b1).

116 Das Ziel der Ausübung der Heilkunst ist das Geld. L.S. King vertritt eine andere Interpretation: Sie zielt nicht nur auf das körperliche Gesundsein einzelner Personen, sondern auch auf das geistige, und ferner auf das Gesundsein der gesamten Polis. Vgl. L.S. King, Plato's Concept of Medicine. Journal of the History of Medicine 9 (1954): 38-48.

117 In der Politeia verwendet Platon verschiedene Ausdrücke für diese Art von Folgen: Erstens, a)=qla in der Politeia: V 460 b2, VI 503 a7, X 608 c2, 613 c3, 6, 614 a1, 621 c7. Zweitens, misqo/j in X 612 b1, 8. Drittens, e)pi/xeira in X 608 c1 (nur an dieser Stelle in den platonischen Schriften).

Gerechtseins als eines G2? Die Folgen des Gerechtseins lassen sich letzten Endes unter den „guten Ruf“ subsumieren118. Wenn ein Mensch gerecht ist, hat er ein dementsprechendes Ansehen. In welchem Sinne ist es für uns aber ein Gut, Ansehen in einer Gesellschaft zu besitzen? Warum ist das Ansehen eigentlich ein Gut? Was sind die weiteren guten Folgen des gesellschaftlich anerkannten guten Rufes? Glaukon bringt das Leben eines Menschen zur Sprache, der zwar ungerecht ist, aber gerecht erscheint und daher den guten Ruf des Gerechten genießt:

Z 2 - 2

„Wer gerecht scheint, der kann erstens in der Stadt regieren, sodann findet er eine Frau, aus welchem Hause er will, und gibt seine Töchter, wem er will, tritt in Verbindung und verkehrt, mit wem er will, und überdies verschafft er sich Vorteil und Gewinn, weil es ihm nichts ausmacht, Unrecht zu begehen. Wenn er also – für sich selbst oder im öffentlichen Leben – in Wettbewerb tritt, so behält er über seine Gegner die Oberhand und bleibt im Vorteil. Und damit wird er reich, erweist seinen Freunden Gutes und schadet seinen Feinden; den Göttern bringt er reichliche Opfer dar und stellt ihnen prächtige Weihgeschenke auf und kann den Göttern und den Menschen, bei denen er es tun will, viel besser dienen als der Gerechte“ (II 362 b2-c6).

Alles kann er haben und tun, was er will. Seine unwiderstehliche Macht ist aber kein Selbstzweck: Was er in Wahrheit will, sind die sogenannten äußeren Güter, die er durch seine Macht zu erlangen vermag: Sie erhält man dadurch, dass man ungerecht ist, aber als gerecht erscheint. Die Folge des Ruhms sind allerlei Arten von sogenannten „äußeren Gütern“. Platon sieht also in der pleoneci/a119 das Wesen des Ungerechtseins, und zwar in der pleoneci/a der äußeren Güter. Das Gerechtsein bringt den Ruhm, der für die Vermehrung der äußeren Güter notwendig ist.

Wer das Gerechtsein ausschließlich um seiner Folgen willen lobt, also es für ein C-Gut hält, lobt damit die Rolle der äußeren Güter beim menschlichen Glück.

Damit kommen verschiedene Glücksvorstellungen ins Spiel. Die Frage, ob man das Gerechtsein ausschließlich als G1, also als ein A-Gut oder ausschließlich als

118do/ca im Sinne von „gutem Ruf“ in II 358 a5, X 612 b1, eu)dokimei=n in II 363 a4, VIII 554 c12, X 613 c6, und schließlich eu)doki/mhsij in II 358 a5, 363 a2, 6.

119 Nur zweimal in der Politeia, aber jeweils mit entscheidender Bedeutung: II 359 c5, IX 586 b1.

Außerdem ist pleonektei=n ein Schlüsselwort in den Büchern I und II. Das Verb findet in der Politeia 14mal Verwendung, und zwar ausschließlich in den Büchern I und II: I 344 a1, 349 b8, c4, c8, c12, e12, 350 a2, b1, b8, b14, c1, II 362 b7, b7, 365 d6.

G2, also als ein C-Gut beurteilt, läßt sich nicht durch die Antwort auf die Frage lösen, was das Gerechtsein und das Ungerechtsein eigentlich sind. Es betrifft vielmehr die Frage, worin das menschliche Glück in Wahrheit besteht.

2.4 Die Aufgabe der Politeia: Gerechtsein und Glück