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1. Einleitung

1.1 Absicht und Grenze der Untersuchung

1. Die vorliegende Arbeit hat das Ziel, Platons Auffassung über das Verhältnis zwischen Gerechtsein und Glück, so wie sie in seinem philosophischen Hauptwerk, der Politeia, entwickelt wird, systematisch darzustellen2. Dieses Untersuchungsziel basiert auf der Einsicht, dass die Politeia ein Dialog ist, der konsequent versucht zu zeigen, dass nicht der Ungerechte, sondern der Gerechte ein glückliches Leben führt3. Alle anderen Diskussionen, Behauptungen, Erläuterungen in der Politeia sind in der Absicht durchgeführt, den Beweis für das Glück des Gerechten epistemologisch oder ontologisch abzuziehen. Die sicherste Charakterisierung der platonischen Moralphilosophie ist die als Eudämonismus, und die Politeia enthält Platons eudämonistische Begründung der Moralität, die innerhalb aller seiner Dialoge die gründlichste und weitgehendste ist4.

1 Die Übersetzungen der platonischen Texte orientieren sich vor allem an denen von R. Rufener:

Platon: Der Staat (München, 1991). Für die platonischen Dialoge werden folgende Abkürzungen verwendet: Alkibiades I (Alc. I), Apologie (Apol.), Charmides (Charm.), Epistula (Epist.), Euthydemos (Euthd.), Euthyphron (Euthr.), Gorgias (Gorg.), Hippias maior (Hipp. I), Hippias minor (Hipp. II), Kratylos (Crat.), Kriton (Crit.), Laches (Lach.), Lysis (Lys.), Menon (Men.), Nomoi (Leg.), Parmenides (Parm.), Phaidon (Phdo.), Phaidros (Phdr.), Philebos (Phil.), Politeia (Resp.), Politikos (Pol.), Protagoras (Prot.), Sophistes (Soph.), Symposion (Symp.), Theaitet (Theait.), Timaios (Tim.). Für die aristotelischen Schriften: Ethica Eudemica (E.E.), Ethica Nicomachea (E.N.), De Anima (De. An.), Topica (Top.), Rhetorica (Rhet.), Politica (Pol.).

2 Wie häufig bemerkt wurde, ist die deutsche Übersetzung des Wortes eu)daimoni/a mit „Glück“

etwas missverständlich: Vor allem ist eu)daimoni/a ein Prädikat für ein Leben oder eine Art des Lebens, „das Glück“ im Gegensatz dazu ein Prädikat für ein Gefühl oder einen psychologischen Zustand. Man fühlt sich glücklich, aber man lebt eu)daimw/n. Vgl. Kap. II 2.1.2.

3 Resp. I 352 d2-4, 353 d9-354 a11, II 361 d2-3, III 392 a-c, IV 427 d, 444 e-445 a, V 472 c-d, VIII 544 a, 545 a, IX 580 a9-c8. Vgl. II 367 e, IX 576 b-592 b passim. In der Politeia geht es nicht nur um das Glück der einzelnen Person. Es ist auch ein wichtiges Thema, den Grundriss des glücklichen Staates zu konzipieren. Z.B. IV 420 b, V 473 e. Obwohl Platon diese beiden Ebenen der Glücksproblematik natürlich nicht strikt voneinander trennt (Vgl. Z.B. V 473 e), bezieht sich die Leitfrage in der Politeia zunächst doch auf das Glück der Einzelnen. Das Wort eu)daimw/n ist vor allem ein Prädikat für eine Person, nicht für eine Gruppe. Vgl. Kap. I Anm. 11.

4 Die Frage der Politeia „Wie soll man leben?“ wurde verschiedentlich in einem moralischen oder kantischen Sinne verstanden. Vgl. R.L. Nettleship, Lectures on the Republic of Plato (London, 1922), 4-5; A.E. Taylor, Plato: The Man and His Work (London, 1926), 265 reformuliert die Hauptfrage der platonischen Politeia z.B. so: „What is the rule of right by which a man ought to regulate his life?“ Über die vergeblichen Versuche, die moralischen Auffassungen in der Politeia mit dem Begriff der Pflicht zu verbinden, siehe Kap. III 3.5.2.

Kein anderer Begriff der platonischen Philosophie hat jedoch ein unglücklicheres Schicksal erlebt als der des Glücks: nur selten wurden bisher Versuche durchgeführt, den platonischen Glücksbegriff zum Gegenstand einer ernsthaften Untersuchung zu machen5. Was die Frage betrifft, wie das Glück sich zum Gerechtsein verhält, sind sowohl über die aristotelischen Schriften als auch über Sokrates und die früheren Dialoge Platons zahlreiche Forschungen durchgeführt worden. Über das Hauptwerk Platons, die Politeia, findet man jedoch kaum befriedigende Untersuchungen dieses Problems.

2. Die folgenden Umstände scheinen die Ursachen für diese Vernachlässigung zu bilden. Erstens. Das auffälligste Merkmal der Politeia ist die Vielfalt der darin behandelten philosophischen Themen. Zumindest in diesem Punkt kann kein anderes Werk nicht nur von Platon selber, sondern auch in der ganzen Geschichte der europäischen Philosophie mit der Politeia konkurrieren. Unter den vielen theoretisch interessanten Überlegungen, die diese großartige philosophische Enzyklopädie entwickelt, scheint das Thema des Glücks deswegen nur ein kleines Thema zu sein6. Daher hat man meistens auf die durchgehende Interpretation der Politeia als ganzer verzichtet, und ist auf die Analyse eines Teils des Dialoges oder einzelner Probleme eingegangen7.

Diese atomistische Annäherung an die Politeia ist durch die Tatsache erheblich verstärkt worden, dass das Werk viele widersprüchliche, zumindest nicht sehr kohärente Behauptungen enthält. Mit einigen starken Argumenten haben einige sogar behauptet, dass Platon während der Abfassung der Politeia seinen Plan des Werkes geändert habe8, oder dass das Buch aus verschiedenen Teilen entstanden sei, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten verfasst wurden9. Es ist durchaus

5 Siehe etwa U. Zimbrich, Bibliographie zu Platons Staat. Die Rezeption der Politeia im deutschsprachigen Raum von 1800 bis 1970 (Frankfurt am Main, 1994). Dort bestätigt sich, dass es nur sehr wenige Forschungen zum Glücksbegriff in der Politeia gibt.

6 Für eine alte Diskussion über die Frage, welchen Skopos ein platonischer Dialog hat, siehe L.

G. Westerink (Hg.), Prolegomena Philosophiae Platonicae. Introduction, Text, Translation and Indices (Amsterdam, 1962). Interessanterweise hat der anonyme Autor des Buches ausschließlich der Politeia und den Nomoi kein bestimmtes Thema zugeschrieben.

7 Das anschaulichste Beispiel wäre das Werk von R.C. Cross und A.D. Woozley, Plato’s Republic. A Philosophical Commentary (Oxford, 1951).

8 Die berühmteste Version: R. Hackforth, „The Modification of Plan in Plato’s Republic.“ The Classical Quarterly 7 (1913): 265-72.

9 Diese These hat ihre erste deutliche Form in K.F. Hermann, Geschichte und System der platonischen Philosophie (1839) erhalten. Grob gesagt, die wichtigen Teile in den Büchern V – VII habe Platon später geschrieben und in die Politeia hineingeschoben. A. Krohn (1876) hat in seiner umfangreichen Studie der Politeia die hermannische These verteidigt. Seiner Meinung nach sind die Bücher V, VI, VII und die zwei Lustbeweise im Buch IX später abgefasst als die anderen Bücher. E. Rohde, Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen

möglich und wohl sogar unvermeidbar, dass ein Philosoph tatsächlich verschiedene Thesen bzw. Tendenzen in einem Buch hat, die miteinander nicht sehr kohärent sind. Platon bemüht sich aber darum, logisch konsequente Thesen zu vertreten, und ich glaube nicht, dass Platon in dieser Hinsicht ein schlechter Philosoph ist. Die Größe der Politeia liegt nicht so sehr darin, dass Platon in diesem Werk trotz der vielen philosophischen Schwierigkeiten fast alle theoretisch wichtigen Themen behandelt hat, sondern darin, dass er trotz dieser Komplexität sich um eine argumentative Einheit stark bemüht hat. Die folgende Arbeit erhebt daher nicht den Anspruch, das komplizierte Detail Punkt für Punkt zu kommentieren und ein perfektes Ganzes zu rekonstruieren. Das ist nicht nur unmöglich, sondern auch nicht wünschenswert. Vielmehr wird untersucht, in welcher Absicht Platon jeden dieser einzelnen Punkte behandelt hat. Ich werde versuchen, die von dem Verfasser intendierte argumentative Einheit der Politeia aufzuzeigen, aber nicht eine tatsächlich vorhandene Einheit.

3. Die zweite Ursache für die Vernachlässigung des Glücksbegriffes der Politeia liegt möglicherweise darin, dass es bezüglich des Hauptthemas der Politeia unterschiedliche Interpretationen gibt. Das Buch wird beispielsweise des öfteren als ein Meisterwerk der platonischen Metaphysik verstanden. Derartige traditionelle Auffassungen hat z.B. T.A. Szlezák in seiner Einleitung für die neue Auflage der Übersetzung der Politeia von R. Rufener vertreten: Die platonische Politeia sei im Grunde genommen ein metaphysisches Werk mit zwei staatstheoretischen Abschnitten. Den Kern des Werkes finde man in den Büchern

(Freiburg, 1898), Bd. II, 265, Anm. 2 folgt auch dieser Tradition, indem er „zwei wesentlich verschiedene Entwicklungsstufen“ unterscheidet. Scheinbar unabhängig davon hat später G.

Ryle, Plato’s Progress (Cambridge, 1966) die These vertreten, dass die Bücher II – V früher geschrieben wurden. Diese alte These der zwei Editionen der Politeia, der sogenannten Ur-Politeia und der Politeia in ihrer heutigen Form, wird unter den neueren Studien der Politeia scheinbar nicht mehr ernst genommen. Für die Kritik dieser Tradition siehe A.E. Taylor, Plato:

the Man and his Work (London, 1926).

Diese Problematik ist durch das Buch I, den sog. Dialog Thrasymachos, noch weiter kompliziert worden: Nicht selten wurde die Behauptung vorgebracht, dass das Buch I eigentlich zu den frühen Dialogen Platons gehöre, und ein selbständiges Buch sei, das unabhängig von den übrigen Büchern in der Politeia zum Veröffentlichen konzipert wurde. Das Buch I hat F. Dümmler (1901, 235) zum erstenmal Thrasymachos genannt und damit diese Deutung aufgestellt. Vgl.

Karl F. Hermann, Geschichte und System der Platonischen Philosophie (Heidelberg, 1839); A.

Krohn, Der platonische Staat (Halle, 1876); F. Dümmler, Zur Composition des platonischen Staates mit einem Excurs über die Entwicklung der platonischen Psychologie, In Kleine Schriften, Bd. 1. 228-70. (Leipzig, 1901, 11895); C. Ritter, Platon. Bd. 1 (Müchen, 1910), der allerdings anders als A. Krohn die Einheit der Bücher II-X wiederholt betont; H. von Arnim, Platos Jugenddialoge und die Entstehungszeit des Phaidros (Amsterdam, 1967), 71 ff.; P.

Friedländer (1975); G. Vlastos (1991), 248-51. Durch einige überzeugende Arbeiten scheint diese Behauptung nicht mehr allgemeine Zustimmung zu finden. Vgl. A.E. Taylor (1926), 264, 282-5; P. Shorey (1933), 214-5; C.H. Kahn, Proleptic Composition in the Republic, or Why Book I was never a separate Dialoge. Classical Quarterly 43 (1993): 131-42.

V-VII mit der symmetrischen Flankierung durch die Bücher I-IV und VIII-X10. Alle politischen oder ethischen Untersuchungen in der Politeia seien nebensächlich.

Auf der anderen Seite ist die Politeia oft nicht als ein Werk der (individuellen) Moralphilosophie, sondern der politischen Philosophie verstanden worden11. Es ist tatsächlich schwer, bei Platon eine genaue Grenze zwischen Moralphilosophie und politischer Philosophie zu ziehen, nicht nur weil viele Manuskripte des Buches den Untertitel „h)\ peri\ dikai/ou“ haben.

Die Behauptungen, dass die Politeia grundsätzlich ein Werk über Metaphysik oder politische Philosophie ist, sind leicht zu widerlegen, so glaube ich, wenn wir im folgenden auf die argumentative Struktur der Politeia und die Zusammenhänge zwischen den moralphilosophischen Überlegungen und den politischen und metaphysischen näher eingehen.

Schließlich gibt es den schwer zu widerlegenden dritten Einwand gegen den Versuch, die Politeia als eine systematische Untersuchung über das Verhältnis zwischen Gerechtsein und Glück zu deuten: Das Wort eu)daimoni/a findet nicht so häufige Verwendung in dem Buch, wie es von einem Schlüsselbegriff zu erwarten ist. Das hat zu der Ansicht geführt, dass Platon in der Politeia seine eudämonistische Auffassung der Moralität nicht systematisch entwickelt hat, anders als Aristoteles in der nikomachischen Ethik12. Tatsächlich entfaltet Platon in der Politeia keine explizite systematische Theorie des menschlichen Glücks.

10 R. Rufener (1991), 5-10. Vgl. Kap. I Anm. 13.

11 Z.B. F.M. Cornford (1941), xxv-xxvii; ders., „Psychology and Social Structure in the Republic of Plato“ The Classical Quarterly 6 (1912): 246-65. Für einen gewagten Versuch, die platonische Moralphilosophie als eine politische Philosophie zu rekonstruieren, G. Klosko, The Development of Plato’s Political Theory (New York, 1986). Vgl. G.M. Mara, Socrates’ discursive democracy:

„logos“ and „ergon“ in Platonic political philosophy (New York, 1997).

Es gibt jedoch in der Politeia zahlreiche Stellen, die belegen, dass das Buch in erster Linie als eine Untersuchung über (individuelle) Ethik gelesen werden muss und erst in zweiter Linie als eine Untersuchung über Politik. Vgl. „...peri\ th=j e)n au(t%= politei/aj dedio/ti... (X 608 b1)“; In II 368 c-e wird die Rede von der Polis als ein Mittel eingeführt, um die einzelnen Menschen genauer sehen zu können. Das Gerechtsein ist zunächst ein Prädikat für einzelne Personen, nicht für eine Polis. „dikaiosu/nh, fame/n, e)/sti me\n a)ndro\j e(no/j, e)/sti de\ pou kai\ o(/lhj po/lewj; (II 368 e 2-3)“ Vgl. Kap. III Anm. 204; Kap. IV Anm. 315.

Die folgenden Arbeiten betonen ausdrücklich die moralphilosophische Ausrichtung der Politeia:

R.L. Nettleship, Lectures on the Republic of Plato (London, 1922), 4 „What, in the first place, is the subject of the book? Its name might suggest that it was a book of political philosophy, but we very soon find that it is rather a book of moral philosophy.“; W. Jäger, Paideia: die Formung des griechischen Menschen (Berlin, 1934); N.R. Murphy, The Interpretation of Plato's Republic (Oxford, 1951); W.K.C. Guthrie, A History of Greek Philosophy (Cambridge, 1975); R.

Waterfield, Plato Republic (Oxford, 1993); J. Annas (1997); ders, Platonic Ethics, Old and New (Ithaca, 1999), 82; N. Blößner, Dialogform und Argument. Studien zu Platons ‚Politeia’ (Mainz, 1997).

12 Etwa aus diesem Grunde behandelt beispielsweise J. Annas unter dem Titel „The Morality of Happiness“ Platons Philosophie gar nicht. Vgl. J. Annas, The Morality of Happiness (Oxford, 1993).

Wir sollten uns aber noch einmal daran erinnern, dass die Politeia in Form eines Dialoges verfasst wurde, in dem Platon seine eigenen Meinungen nicht einseitig entfaltet, sondern jedesmal unter unterschiedlichen Gesichtspunkten überprüfen lässt. Der Inhalt seiner moralischen Auffassung ist uns nicht in dem Gespräch, sondern durch das Gespräch gegeben. Ich ziele in der vorliegenden Arbeit daher darauf, zuerst den tatsächlichen Verlauf des Dialoges zu verfolgen, damit sich die argumentative Struktur der Politeia deutlich erhellt. In diesem Sinne ist diese Arbeit auch eine Hermeneutik der Struktur des Buches selbst.