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Der Vorbehalt gegen das Gerechtsein als das-Seinige-tun

III. Wollen, Wissen und das Gute

3.2 Der erste Weg: Analyse der Seele

3.2.4 Reservatio

3.2.4.2 Der Vorbehalt gegen das Gerechtsein als das-Seinige-tun

1. Sokrates meint, der Weg bis zum Ende des Buches IV sei zwar richtig gewesen, aber er habe noch keine endgültige Antwort auf die Frage nach dem Glück der Gerechten in der Politeia ergeben. Es ist aber nicht klar, ob die erste Aufgabe, die philosophische Charakterisierung des Gerechtseins, ebenfalls noch nicht erledigt ist. Einige Autoren vertreten die Ansicht, Platon habe bis hier seine erste Aufgabe, nämlich die Definition des Gerechtseins, erledigt, und gehe von jetzt an auf die Frage nach dem Glück des Gerechten ein220.

Diese Ansicht lässt sich vor allem durch die zwei folgenden Stellen stützen.

Erstens. Nach seiner berühmten Definition des Gerechtseins als „das-Seinige-tun“ sagt Sokrates definitiv, er habe „den gerechten Menschen, den gerechten Staat und das Gerechtsein in ihnen“ (IV 444 a4-5) gefunden. Das erlaubt, wie es scheint, keinen Zweifel, dass Sokrates im Buch IV glaubt, dass er das Gerechtsein endgültig identifiziert hat. Zweitens. In VI 506 a sagt Sokrates, die wahren Wächter müssten wissen, „inwiefern Gerechtes und Schönes jeweils gut ist“ (VI 506 a4-5). Sokrates habe das Gerechtsein genau identifiziert, und nun sei das Ziel der Diskussion in den übrigen Büchern, zu untersuchen, ob und inwiefern das so identifizierte Gerechtsein wirklich ein Gut sei.

Diese beiden Belege sind jedoch nicht wirklich überzeugend. Wenn man die zwei Belege in ihren eigenen längeren Kontexten genau liest, wird klar, dass sie nicht als Manifestation der Entdeckung des Gerechtseins gedeutet werden dürfen. Die erste Stelle, nämlich IV 445 a4-5, zitiere ich vollständig: „Also gut, erwiderte ich, wenn wir nun behaupteten, dass wir den gerechten Menschen und den gerechten Staat und das, was das Gerechtsein in ihnen ist, gefunden haben,

220 Am deutlichsten formuliert bei P. Shorey (1903); (1930), passim (Vgl. Kap. IV Anm. 222); P.

Stemmer (1988); (1992), 46, 171.

N. White (1979) scheint, Shorey in diesem Punkt zu folgen. Auch für R. Kraut (1997) ist die Gesundheitsanalogie noch kein endgültiger Beweis für das Glück der Gerechten. Für die Darstellung seiner Interpretation siehe Kap. II Anm. 144.

würden wir uns, denke ich, wohl nicht sehr zu täuschen scheinen (ou)k a)\n pa/nu ti, oi)=mai, do/caimen yeu/desqai)“ (IV 444 a4-6)221. Zwar ist seine Entdeckung nicht eindeutig falsch, aber auch nicht so perfekt, dass Sokrates mit ihr völlig zufrieden sein kann. Der zweite Beleg zugunsten der Auffassung, dass Platon am Ende des Buches IV die wesentliche Natur des Gerechtseins gefunden habe, ist VI 506 a4-5. Die Bemerkung Sokrates lautet: „...wenn man nicht weiß, inwiefern Gerechtes und Schönes jeweils gut ist (oi)=mai gou=n, ei)=pon, di/kaia/ te kai\

kala\ a)gnoou/mena o(p$ pote\ a)gaqa/ e)stin), ... ich vermute, dass vorher auch niemand eine zureichende Erkenntnis von jenen beiden selbst gewinnen wird (manteu/omai de\ mhde/na au)ta\ pro/teron gnw/sesqai i(kanw=j, VI 506 a4-7)“.

Diese Stelle besagt nicht, dass Sokrates mit seiner Definition des Gerechtseins im Buch IV zufrieden ist, sondern vielmehr, dass wir noch kein fundiertes Wissen über das Wesen des Gerechtseins haben. Die Frage, warum Platon dieser Meinung ist, werde ich später in der Diskussion über die Idee des Guten behandeln.

2. Die Tatsache, dass sich Platon noch auf der Suche nach der wahren Natur des Gerechtseins befindet, lässt sich auch anhand der folgenden Stellen bestätigen.

(1) Vor der sogenannten dritten Welle in Buch V spielt sich folgender Dialog zwischen Sokrates und Glaukon ab.

Z 3 - 12

Zuerst, sagte ich, müssen wir uns doch wieder in Erinnerung rufen, dass wir auf der Suche nach dem Wesen der Gerechtigkeit und der Ungerechtigkeit an diesen Punkt gelangt sind.

Freilich, sagte er. Aber was soll das?

Nichts. Wenn wir aber das Wesen der Gerechtigkeit gefunden haben (a)ll’

e)a\n eu(/rwmen oi(=o/n e)sti dikaiosu/nh) – werden wir dann verlangen, dass der gerechte Mensch in keinem Punkt von ihr selbst abweichen dürfe, sondern in jeder Hinsicht gleich beschaffen sein muss, wie die Gerechtigkeit? Oder sind wir zufrieden, wenn er ihr möglichst nahe kommt und mehr als alle anderen an ihr teilhat?

Ja, damit werden wir uns zufrieden geben, erwiderte er. (V 472 b3-c3)222

Sokrates ist hier noch auf der Suche nach dem Gerechtsein. Sollte er irgendwann herausfinden, was das Gerechtsein als solches ist, wird er nur fordern, dass ein

221 Vgl. IV 434 d.

222 P. Shorey (1930), ad loc. schreibt zu dieser Stelle: „Plato seems to overlook the fact that the search was virtually completed in the fourth book.“

Gerechter möglichst gerecht ist, ohne vollkommen gerecht zu sein. Das Ziel ist immer noch, zu charakterisieren, was das Gerechtsein ist, und es ist noch nicht erreicht.

(2) Die zweite Stelle liegt am Anfang des Buches VI. Dort sagt Sokrates, sein Untersuchungsthema heiße noch, „worin sich das gerechte Leben vom ungerechten unterscheidet (ti/ diafe/rei bi/oj di/kaioj a)di/kou, VI 484 a7-b1).“

Mit dem Thema des Ungerechtseins fängt Sokrates erst im Buch VIII an. Wäre die Natur des Gerechtseins deutlich gemacht worden, wäre der Unterschied zwischen dem Gerechtsein und dem Ungerechtsein kein Thema mehr. Die erste Aufgabe ist somit auch nicht so deutlich erledigt, die weiteren Teile der Politeia enthalten auch noch Untersuchungen über die wahre Natur des Gerechtseins.

3. (3) Die Tatsache, dass die Bestimmung des Gerechtseins in Buch IV nur ungenau und vorläufig ist, wird in der Politeia antizipiert. Bevor Sokrates es unternimmt, durch die Analyse der Seele die Natur des Gerechtseins zu bestimmen, hat er schon gesagt:

Z 3 - 13

„Und wisse wohl, Glaukon, meiner Meinung nach werden wir mit der Methode, die wir jetzt für unsere Untersuchung anwenden, das nie genau herausfinden (a)kribw=j me\n tou=to ... ou) mh/ pote la/bwmen). Denn der Weg, der dazu führt, ist länger und weiter (a)/llh ga\r makrote/ra kai\

plei/wn o(do\j h( e)pi\ tou=to a)/gousa). Immerhin ist er vielleicht unseren bisherigen Gesprächen und Untersuchungen angemessen (IV 435 c9-d5)“.

Sein Vorbehalt gegen den ersten Weg der Untersuchung wiederholt sich in Buch VI.

Z 3 - 14

„Wir sagten doch, dass es noch einen anderen, längeren Umweg gebe, um es so vollkommen wie möglich einzusehen (e)le/gome/n pou o(/ti w(j me\n dunato\n h)=n ka/llista au)ta\ katidei=n a)/llh makrote/ra ei)/h peri/odoj);

wenn man ihn beschreite, dann würden sie einem klar (h(\n perielqo/nti katafanh= gi/gnoito) ... Ihr habt erklärt, das genüge (kai\ u(mei=j e)carkei=n e)/fate), und so habe ich denn damals eine Darstellung gegeben, die meiner Ansicht nach die nötige Genauigkeit vermissen läßt (kai\ ou(/tw dh\ e)rrh/qh ta\ to/te th=j me\n a)kribei/aj, w(j e)moi\ e)fai/neto, e)lliph=) (VI 504 b1-6)“.

Ich gehe davon aus, dass das Ziel der beiden Untersuchungen ein und dasselbe ist, nämlich die Identifikation des Wesens des Gerechtseins223. Es handelt sich um zwei verschiedene Wege, um einen und denselben Gegenstand zu untersuchen224. Um das Wesen des Gerechtseins zu erkennen, gibt es zwei verschiedene Wege, einen kurzen und einfachen und einen langen und schwierigen. Der Unterschied zwischen den beiden liegt im unterschiedlichen Grad an Exaktheit: Nach dem ersten Weg erhalten wir nur ein undeutliches Bild des Gerechtseins, nach dem zweiten im Gegensatz dazu ein klares. Das ist gerade der Grund, warum Platon diesen zweiten Weg braucht. Es ist sicher, dass er durch den bisherigen Weg, der durch die politische Analogie und die Analyse der Seele geprägt ist, kein klares Bild des Gerechtseins erhalten kann.

Diese zwei Wege sind jedoch nicht zwei Alternativen für Platon. Platon überlegt nicht zuvor, welchen Weg er einschlagen muss, um sein Ziel zu erreichen. Der zweite Weg soll sich erst nach dem ersten zeigen, obwohl wir noch nicht wissen, ob Platon diesen zweiten Weg tatsächlich auch einschlägt. Die aus Z 3 - 9 abgeleiteten drei Punkte gelten nicht nur für die These des Glücks der Gerechten, sondern auch für die Definition des Gerechtseins als „das-Seinige-tun“. Die Auffassung, dass wir bis zum Buch IV die wahre Natur des Gerechtseins gefunden haben und dass Platon vom Buch V an prüft, ob das so definierte Gerechtsein glückszuträglich ist, ist also falsch.

Die Definition des Gerechtseins als „das-Seinige-tun“ im Buch IV, das vielleicht berühmteste Schlagwort in der Politeia, ist nach der Meinung Platons eine ungenaue und unklare Definition. Platon meint, dass er an dieser Stelle noch keine richtige Antwort auf die Frage nach der wahren Natur des Gerechtseins hat. Dürfen wir hoffen, dass wir an einer anderen Stelle in der Politeia eine genaue, oder zumindest eine genauere Definition erhalten?

223 Anders ausgedrückt, tou=to in Z 3 - 13 (IV 435 d1) und au)ta/ in Z 3 - 14 (VI 504 b1) müssen sich inhaltlich auf dasselbe beziehen. tou=to in Z 3 - 13 bezeichnet äußerlich klarerweise die Frage, welche Teile die Seele hat, ob die Seele auch, wie der Staat, drei innere Teile hat, oder in einem weiteren Sinne, welche Natur die Seele überhaupt hat, und au)ta/ in Z 3 - 14 wiederum die Frage, welche Aretai die Seele hat oder was ihre Aretai einschliesslich des Gerechtseins von Natur aus sind. Es ist deswegen überraschend, dass viele Kommentatoren der Politeia gar keinen Versuch gemacht haben, diese äußerliche Inkonsistenz zu erklären. J. Adam ist eine Ausnahme.

Er setzt die Priorität auf Z 3 - 14 und sagt: „tou=to must then be taken dikaiosu/nhj te pe/ri kai\

swfrosu/nhj kai\ a)ndrei/aj kai\ sofi/aj o(\ e(/kaston e)sti (VI 504 a).“ Er versucht diese These für gültig zu erklären durch eine ad hoc Hypothese „This view becomes easy if we suppose that the words kai\ eu)= ge ... e)carke/sei were not written by Plato immediately after he wrote 435 c, but at a later time, when VI VI 504 a-d was composed.“: J. Adam (1902), ad loc. und R.C. Cross und A.D. Woozely (1951), 112-5 folgt in diesem Punkt J. Adam, allerdings aus einem anderen Grund.

224 K.F. Hermann (1839) und A. Krohn (1876) bestreiten bekanntlich diesen Punkt. Ihre Deutung, dass diese beiden Wege jeweils andere Ziele haben, hat zu der berühmten Behauptung geführt, dass die Politeia eigentlich ein „patch-work“ sei. Vgl. Kap. I Anm. 9.

4. Die platonische Definition des Gerechtseins als „das-Seinige-tun“ und sein Versuch, durch den Begriff der seelischen Gesundheit zu zeigen, dass das Gerechtsein eine Arete ist, ist zwar nicht völlig verfehlt, aber nur eine ungefähre Annäherung an die definitive Charakterisierung des Gerechtseins und an den endgültigen Beweis für das Glück der Gerechten. Am Ende des Buches IV haben die zwei wichtigsten Aufgaben in der Politeia – die genaue Identifikation des Gerechtseins und der Beweis des Glücks der Gerechten – noch keine hinreichende Lösung erfahren. In einem bestimmten Sinne hat die eigentliche Untersuchung Platons in der Politeia noch gar nicht angefangen.

Wir haben bis jetzt den ersten Weg der Untersuchung bis zum Ende eingeschlagen. Sokrates meint, wir seien noch nicht am Ziel. Ab Buch V soll Platon einen weiteren Versuch machen, zu zeigen, erstens, was das Gerechtsein wirklich ist, und zweitens, ob das Gerechtsein wirklich glückszuträglich ist.