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Der Vorbehalt gegen das Glück der Gerechten

III. Wollen, Wissen und das Gute

3.2 Der erste Weg: Analyse der Seele

3.2.4 Reservatio

3.2.4.1 Der Vorbehalt gegen das Glück der Gerechten

1. Für Glaukon ist nun vollkommen klar, dass der Gerechte glücklich lebt, da das Gerechtsein als eine Art von Gesundsein zu verstehen ist. Sokrates kritisiert jedoch die Eile Glaukons:

Z 3 - 9

Geloi=on ga/r, h)=n d' e)gw/: a)ll' o(/mwj e)pei/per e)ntau=qa e)lhlu/qamen, o(/son oi(=o/n te safe/stata katidei=n o(/ti tau=ta ou(/twj e)/xei ou) xrh\

a)poka/mnein.

In der Tat ist es lächerlich, sagte ich. Aber dennoch, da wir einmal bis hierher gekommen sind, dürfen wir nicht matt werden, es so deutlich als nur möglich zu erkennen, dass es sich so verhält (445 b5–7).213

Diese Aussage Sokrates’ kann einerseits eine Ermutigung zu weiteren langen Untersuchungen sein, andererseits aber eine Kritik an Glaukons Lachen in Z 3 - 8. Sie gehört zu einer der wichtigsten dramatischen Wenden in der Politeia.

Dieser Dialog zwischen Sokrates und Glaukon – Z 3 - 8 und Z 3 - 9 – ist meines Erachtens am besten zu verstehen als einer zwischen einem Touristen und einem Reiseführer, die beispielsweise eine schmale Wendeltreppe in einem Münsterturm hinaufsteigen, um eine schöne Aussicht auf die ganze Stadt zu erhalten. Als die beiden einen hohen Zwischenplatz erreicht haben, meint der Tourist, sie seien schon hoch genug, um die ganze Stadt sehen zu können. Sie seien ja schon lange mühsam hoch geklettert. Noch ein anderer, der Reiseführer sagt, hier sehe man die Stadt schon schön, aber es sei zu früh, sich darüber wirklich zu freuen, denn sie seien noch nicht am Ziel. Sie sollten mutig und unermüdlich weiter klettern, weil man oben noch eine viel bessere Aussicht habe.

Damit erhält man die folgenden drei minimalen Anhaltspunkte hinsichtlich Z 3 - 9, die ich für unbestreitbar halte. (1) Sokrates und Glaukon sind – nach der

213o(/son oi(=o/n te safe/stata katidei=n“ bezieht sich meines Erachtens nicht auf e)ntau=qa, sondern auf ou) xrh\ a)poka/mnein. In der Übersetzung dieses Satzes folge ich demnach P. Shorey.

Seine Übersetzung (1930), ad loc. lautet: „Yes it is absurd, said I; but nevertheless, now that we have won to this height, we must not grow weary in endeavouring to discover with the utmost possible clearness that these things are so.“ Die richtige Übersetzung findet man auch bei Carl von Prantl (1855). Die ursprüngliche Übersetzung von O. Apelt (1916) in der ersten Auflage lautet: „Allerdings lächerlich; allein, da wir uns einmal darauf eingelassen haben so deutlich wie nur möglich zu erkennen, dass es sich damit so verhält, so dürfen wir nicht ermatten.“ Ab der achten Auflage des Buches (1961), die von K. Bormann durchgesehen wurde, enthält die Übersetzung eine verbesserte Interpretation: „Allerdings ist es lächerlich; aber da wir nun einmal so weit gekommen sind, dürfen wir gleichwohl nicht nachlassen, uns so einleuchtend wie möglich zu machen, dass das sich so verhält“. Vgl. N. P. White (1986), 22-46, besonders 35-7 und P. Stemmer (1988), 529-69, besonders 559-63. Die beiden begründen die grammatische und inhaltliche Plausibilität dieser Lesart.

Meinung Sokrates’ – noch nicht am Ende der Untersuchung, sondern erst auf dem Weg dazu. Sie sollten deswegen nicht „matt“ werden, sonst könnten sie ihr Ziel nicht erreichen. Das Lachen von Glaukon gegenüber Sokrates’ Frage, ob das Gerechtsein als eine Art von Gesundsein glückszuträglich sei, ist sicher voreilig.

(2) Die Untersuchung der beiden ist jedoch auf dem richtigen Weg: Sokrates meint nicht, dass sie bis dahin leider einen falschen Weg gewählt haben und daher zuerst zurückkehren und versuchen müssen, einen neuen Weg zu finden:

Er ermutigt Glaukon, „e)pei/per e)ntau=qa e)lhlu/qamen.“ Es geht nur darum, entweder einfach hier zu bleiben und sich damit zufrieden zu geben, oder weiter auf diesem bis dahin eingeschlagenen richtigen Weg weiterzugehen. Nach dieser Szene in Buch IV machen Sokrates und Glaukon keinen wirklich neuen Anfang.

(3) Das Ziel der gemeinsamen Untersuchung ist, „es so deutlich als nur möglich zu erkennen, dass es sich so verhält“. Die beiden haben bisher einen bestimmten Untersuchungsgegenstand behandelt, können aber nach der Meinung Sokrates diesen noch nicht deutlich erkennen. Sie sollten also mit Geduld fortfahren.

2. Wichtig ist nun klarzustellen, welchen Weg Sokrates gemeint hat, der seiner Meinung nach zwar richtig ist, dessen Endpunkt aber noch nicht erreicht ist.

Welches Thema hat Sokrates bis jetzt behandelt und muss er noch weiter behandeln, weil er keine befriedigende Lösung dafür gefunden hat? Am Ende von Kap. II haben wir zwei argumentative Aufgaben Platons in der Politeia festgestellt: Sokrates soll zunächst das Gerechtsein genau charakterisieren, nämlich zeigen, in welchem Sinne das Gerechtsein ein technisches Gutsein ist, und dann zeigen, dass das so definierte Gerechtsein glückszuträglich ist. Nach der obigen Überlegung erweist sich die Auffassung sicher als falsch, dass Platon diese beiden Aufgaben am Ende des Buches IV – also schon etwa in der Mitte des Werkes – erledigt hat. Zumindest muss ein Problem ungelöst geblieben sein;

deswegen ermutigt Sokrates seine Gesprächspartner zur weiteren mühsamen Untersuchung. Das Problem ist nun, klarzustellen, ob diese beiden Aufgaben noch nicht gelöst sind oder ob nur eine davon ungelöst bleibt, und wenn ja, genau welches Problem Sokrates noch nicht gelöst zu haben glaubt.

Es gibt keinen Zweifel, glaube ich, dass von den beiden Aufgaben zumindest die zweite noch nicht erledigt ist: Nach der Meinung Platons ist das Glück der Gerechten noch nicht endgültig bewiesen. Am Anfang des Buches VIII kehrt Sokrates – nach einer langen „Abschweifung“ (in Z 3 - 19) – zurück zu dem Hauptthema der Politeia: Er wolle nun verschiedene Formen des Ungerechtseins untersuchen. Das Ziel der Untersuchung sei folgendes:

Z 3 - 10

Von sonstigen Verfassungen aber, sagtest du, wie ich mich erinnern kann (tw=n de\ loipw=n politeiw=n e)/fhsqa w(j mnhmoneu/w), gebe es vier Arten (ei)/dh), bei denen es der Mühe wert sei, auf sie einzugehen und ihre Fehler zu betrachten, und ebenso die Menschen, die ihnen entsprechen. Hätten wir sie uns dann alle angesehen und wären uns einig geworden, welches der beste und welches der schlechteste Mann sei, dann könnten wir prüfen, ob der beste auch der glücklichste und der schlechteste der unglücklichste sei, oder ob es sich anders verhalte (ei) o( a)/ristoj eu)daimone/statoj kai\ o(

ka/kistoj a)qliw/tatoj, h)\ a)/llwj e)/xoi) (VIII 544 a2-8)214.

Der gleiche Inhalt wiederholt sich ein bisschen später noch einmal:

Z 3 - 11

So müssen wir nun doch anschließend die schlechteren behandeln ..., damit wir den Ungerechtesten herausfinden und ihn dem Gerechtesten gegenüberstellen können. Und so kämen wir denn zum Abschluss unserer Untersuchung über die Frage, wie sich die reine Gerechtigkeit zu der reinen Ungerechtigkeit verhält, in bezug auf Glück und Unglück des Menschen, der sie in sich trägt (eu)daimoni/aj te pe/ri tou= e)/xontoj kai\ a)qlio/thtoj).

Dann können wir entweder im Gefolge des Thrasymachos der Ungerechtigkeit nachstreben oder, gemäß dem Ergebnis, das sich jetzt schon zeigt, der Gerechtigkeit (h)\ t%= nu=n profainome/n% lo/g%

dikaiosu/nhn, VIII 545 a1-b1).“

Hier in Buch VIII stellt Platon also fest, dass er seine Auseinandersetzung mit Thrasymachos noch nicht beendet hat. Er nimmt hier wieder seine Aufgabe in der Politeia auf, nämlich das Glück des Gerechten zu beweisen215. Die Gesundheits-Analogie ist weder Höhepunkt des platonischen Argumentationsganges in der Politeia noch seine letzte Antwort auf die Frage nach dem Glück der Gerechten, weil die Definition des Gerechtseins als eine Form der psychischen Gesundheit keine endgültige Basis für das Glück der Gerechten ist, und außerdem die Frage nach dem Glück der Gerechten erst nach der Analyse des Ungerechtseins beantwortet werden kann. Falsch ist die Behauptung, dass Platon mit der philosophischen Gültigkeit der Gesundheits-Analogie im Buch IV zufrieden ist. Diese kann der banalen Tatsache nicht gerecht werden, dass der Autor der Politeia sein Werk nicht schon am Ende des

214 Worauf bezieht sich „e)/fhsqa“? (VIII 544 a3 in Z 3 - 10) Am Ende des Buches IV hat Sokrates seine Frage nicht wörterlich so gestellt. Das ist ein Zeichen dafür, dass Sokrates hier am Anfang des Buches VIII ganz absichtlich seine argumentative Aufgabe deutlich formuliert.

215 Siehe Z 3 - 19, Z 4 - 1 und Kap. IV 4.1.

Buches IV abgeschlossen hat. Die übrigen Bücher gehören auch zu den wesentlichen argumentativen Teile der Politeia216. Nach dem Buch IV ist Sokrates erst auf halbem Wege.

3. Die einflussreichste traditionelle Auffassung, nach der die platonische Diskussion über das Leitthema der Politeia, das Glück der Gerechten, im Grunde genommen schon am Ende des Buches IV beendet ist, erweist sich damit als falsch. Die meisten Autoren, die bezüglich der Dreiteilung des Guten am Anfang des Buches II eine nicht-konsequentialistische Interpretation vorgelegt haben, haben, wie gezeigt, diese Ansicht vertreten217. In der Dreiteilung des Guten im Buch II gehöre das Gesundsein zum B-Gut. Es sei demnach nicht nur um seiner Folgen willen, sondern auch um seiner selbst willen erstrebenswert218. Sollte das Gerechtsein eine Art von Gesundsein sein und das Gesundsein schon einen wichtigen Teil des menschlichen Glücks bilden, dann sei es unbestreitbar, dass das Gerechtsein auch ein Teil des Glücks sei219. Zu zeigen, dass das Gerechtsein eine Art Gesundsein sei, heisse nämlich zu zeigen, dass das Gerechtsein auch ein B-Gut sei. Die weiteren Bücher V, VI, VII, VIII, IX und X würden im Grunde genommen keinen wesentlichen philosophischen Beitrag zum Hauptthema der Politeia enthalten.

Dieser Rekurs auf Buch II ist zwar nicht falsch, aber das Beharren dieser Autoren auf dem Beispiel der Gesundheit und demgemäss der Gesundheits-Analogie im Buch IV ist falsch. Das Vernünftigsein, das Sehen und das Hören sind auch Beispiele Platons für ein B-Gut. Nach dieser Lesart hätte Platon das Glück der Gerechten auch zeigen können, indem er die Identität z.B. des Gerechtseins und des Sehens erklärt. Zu zeigen, dass das Gerechtsein eine Art

216 Das Glück der Polis wird in ähnlicher Weise entschieden. Vgl. „Denn in einer solchen Stadt glaubten wir am ehesten Gerechtigkeit zu finden, Ungerechtigkeit dagegen in jener, die am schlechtesten eingerichtet ist; wenn wir dann aber beide vor Augen hätten, könnten wir wohl die Frage entscheiden, die uns schon so lange beschäftigt (IV 420 b).“

217 Siehe Kap. II 2.4.1.1. T. Irwin (1995) hat in seinem neueren Buch über Platon geschrieben:

„Plato suggests at the end of Book IV that he has answered Thrasymachus (445 a5-b5)“. In 445 a5-b5 lesen wir aber nichts, was diese Behauptung unterstützt. Über die Stellen im Buch VIII (Z 3 - 10 und Z 3 - 11) schreibt er: „Plato recognize that argument in Book IV is incomplete, even while he insists that it is correct: as Aristotle says in such cases, what has been said is 'true, but not perspicuous (saphes)' (E.N. 1138 b 25-26) and Plato wants to make it as perspicuous as possible (hoion te saphestata, 445 b6)“ (281).

218 II 357 c3, 367 d1.

219 J.D. Mabbott (1971) schreibt z.B.: „The analogy with health not only makes the point clear, but it also seems to me evidence that Socrates had not forgotten his promise in 357 to show that justice is in the best class, the class of things both good in themselves and good for their consequences. For health is one of the examples of this class given in 357 (Hervorhebung von mir)“ (62).

Gesundsein ist, heißt nicht, zu zeigen, dass das Gerechtsein ein Teil des Glücks ist, sondern dass das Gerechtsein einem Teil des Glücks ähnlich ist. Wenn eine exotische Frucht sehr ähnlich schmeckt wie ein Apfel, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie tatsächlich ein Obst ist, aber es ist auf keinen Fall ein Beweis dafür. Die These, dass das Gerechtsein um seiner selbst willen erstrebenswert ist und daher ein Teil des Glücks, muss ohne Rekurs auf irgendein Beispiel bzw. irgendeine Analogie unmittelbar gezeigt werden.

Sokrates’ Kritik an der Voreiligkeit von Glaukon am Ende des Buches IV ist berechtigt.