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IV. Beweis: Lust und Glück

4.1 Einführung

4.1.3 Boulematisierte Epithymia

1. Beim Lesen der Diskussion über die Epithymia in den Büchern VIII und IX bekommen wir den Eindruck, dass Platon nun eine andere Auffassung der Epithymia hat als im Buch IV. Folgende Punkte sind besonders nennenswert:

(1) In Buch IV war nicht die e)piqumi/a selber, sondern eigentlich die falsche bou/lhsij der Gegenstand der Kritik. Durst kann man beispielsweise nicht kritisieren: man muss sich nur überlegen, wie der Durst vernünftig befriedigt werden soll. Nur wenn einer aufgrund unkluger Überlegung falsche Getränke zu sich nehmen will, ist seine Entscheidung kritisierbar. Im Gegensatz dazu finden wir in den Büchern VIII und IX häufig eine unmittelbare Kritik der e)piqumi/a: Zwar seien die oben genannten notwendigen Epithymiai nützlich, aber die nicht notwendigen schädlich, und zwar „dem Leibe schädlich, aber sie würden auch der Seele in ihrem Streben nach Besinnung und Besonnenheit schaden (VIII 559 b10-11).“ Die Epithymia in Buch IV hat eigentlich weder mit dem Guten noch mit dem Schlechten zu tun, während die Epithymia in den Büchern VIII und IX an sich selbst gute oder schlechte Eigenschaften haben.

(2) Die Epithymia hat nun eine Fähigkeit zur Überlegung und zum Urteil. In Buch X scheint Platon dem Epithymetikon eine Fähigkeit zu überlegen zuzuschreiben. Das Epithymetikon ist „ein Teil unserer Seele, der ohne Rücksicht auf das Messen urteilt (to\ para\ ta\ me/tra a)/ra doca/zon th=j xuxh=j, X 603 a1)“, und „der Teil kann Großes und Kleines nicht auseinander halten, sondern hält ein und dasselbe bald für groß und bald für klein (X 605 b9-c3).“ In Buch IV hatte Platon zu zeigen versucht, dass das Epithymetikon selbst gar keine

331 Vgl. Platons Kritik an der Oligarchie bzw. dem oligarchischen Menschen in VIII 551 d5-7, 554 d9-e5.

332 Besonders VIII 562 b.

333 VIII 557 b4, 561 a4, d6, 562 b12, 562 c2, 8, d3, e1, 9, 563 b4-d1.

334 Vgl. Kap. IV Anm. 381.

Überlegung in sich enthält (Kap. III 3.3.1). Das war sogar der Grund für seine Aussonderung des Logistikon. Das Epithymetikon, das Platon früher „unüberlegt (a)lo/giston)“ genannt hat, ist nun „unverständig (to\ a)no/hton, X 605 c9)“. Es hat nun eine eigene Fähigkeit zur Überlegung, die leider nicht vertrauenswürdig ist.

(3) Epithymia, Thymos und Logismos sind in Buch IV nicht verschiedene menschliche Begierden, die wir in der Wirklichkeit vorfinden können. Durch die detaillierte Analyse der psychischen Konflikte hat Platon im Buch IV gezeigt, dass den menschlichen Handlungen diese drei sozusagen wie „Moleküle“

zugrunde liegen. Die Epithymiai in den Büchern VIII und IX nehmen dagegen konkretere Formen an. Z.B. ist die Rede von der Epithymia nach Geld. Durch einfache Beobachtung kann man derartige Epithymiai in der Welt finden, ohne etwa die komplizierte psychische Analyse Platons im Buch IV zu verwenden.

(4) Die Epithymia war in Buch IV auf dem Bereich des Biologischen und Körperlichen beschränkt335. In diesem Sinne muss sie immer durch das Logistikon unterdrückt oder kontrolliert werden. Nun spricht Platon in Buch VIII überraschenderweise sogar von der Epithymia nach Wissen336.

Ist es richtig, dass Platon in der Politeia zwei verschiedene Auffassungen über die Epithymia hat? Die genaue Lektüre der Bücher VIII und IX zeigt, dass die Konnotation des Wortes e)piqumi/a unverändert bleibt: Eine e)piqumi/a ist immer noch etwas, was keinen Begründungsanspruch erlaubt. Platons Charakterisierung der e)piqumi/a als a)lo/gisto/n ist noch gültig. Aufgrund dieser Definition verfügt die e)piqumi/a nicht über eine Meinung oder Überlegung hinsichtlich des Guten.

Die unvermeidliche Folgerung daraus ist nun, dass Platon in der Politeia nicht zwei verschiedene Auffassungen hinsichtlich der e)piqumi/a hat, sondern dass die Denotation des Begriffes erweitert wird. Der Begriff der e)piqumi/a als ein Bestandteil der Seele in Buch IV ist so erweitert, dass er nun ein Gattungsbegriff geworden ist, der viele verschiedene Arten von wirklichen Begierden der Menschen in sich enthält. Einige Epithymiai will Platon nun kritisieren, anders als in Buch IV.

2. Hieraus ergibt sich eine Frage: Warum findet diese Denotationserweiterung ausgerechnet im letzten Teil der Politeia statt? Um diese Frage zu beantworten,

335 Für Beispiele der biologischen Epithymia Kap. III Anm. 178.

336 In Tim. meint Platon, der Mensch habe zwei Epithymiai, nämlich nach Nahrung und nach Einsicht. „dittw=n e)piqumiw=n ou)sw=n fu/sei kat' a)nqrw/pouj, diasw=ma me trofh=j, diadetoqeio/taton tw=n e)n h(mi=n fronh/sewj (Tim. 88 a8-b2)“. Diese Erweiterung der Gegenstände der Epithymia findet man auch beispielsweise in Lysis. Pferd, Hund, Geld, Ruhm und Freund sind ihre eigentlichen Gegenstände. Vgl. Lys. 211 d8-e1.

kehren wir zurück zum Hauptthema der Politeia, dem Glück. Platons Kritik gewisser e)piqumi/ai in den Büchern VIII und IX lässt sich nur in diesem Rahmen verstehen. Die Begierden, die Platon als schädlich kritisiert, z.B. die nach den leckeren Speisen, sind eigentlich keine e)piqumi/ai, sondern boule/seij, in denen die Meinungen über das Gute enthalten sind. Eine Begierde ist nur deswegen schädlich, wenn sie als e)piqumi/a gesehen wird, weil sie dann einfach bejaht wird und keine Begründungsfrage erlaubt, ob ihre Befriedigung auch gut ist. Platons Kritik richtet sich also nicht auf das darin enthaltene menschliche Streben selbst, e)piqumi/a an sich, sondern auf die „boulematisierte e)piqumi/a“ und die damit verbundene falsche Vorstellung, dass alle boule/seij nur als e)piqumi/a gesehen werden können, als etwas, was nicht kritisierbar ist.

„Herrschaft des logistiko/n“ bedeutet somit nicht „Unterdrückung“ der e)piqumi/a, sondern „Boulematisierung“ oder „Begründungsfragestellung“ der e)piqumi/a gegenüber. Es ist kein Zufall, dass wir die platonische Dreiteilung der e)piqumi/a gerade in den Büchern VIII und IX finden, auf dem Wege zum Tyrannen, der nach dem sophistischen Glücksbegriff der vollkommen Glückliche ist.

Im Kapitel II (2.3.4) haben wir festgestellt, dass die folgenden vier Thesen gleichbedeutend sind.

A 4 - 2

T1. Wir wollen X um seiner selbst willen.

T2. Wir wollen X nicht um seiner Folgen willen.

T3. Wir wollen X in der Überzeugung, dass es in einem unmittelbaren Verhältnis zum Glück steht.

T4. Wir wollen X in der Überzeugung, dass es an sich etwas Angenehmes ist.

Dazu können wir nun noch eine Proposition hinzufügen, die ebenfalls gleichbedeutend ist, nämlich:

T5. Wir haben eine Epithymia nach X337.

Nicht das Gute, auch nicht die Vernunft, sondern die Epithymia ist in den Vordergrund der Diskussion getreten. Damit werden die letzten drei „großen“

Beweise in Buch IX vorbereitet, die sich immer wieder um den Begriff der

337 Es ist in diesem Sinne verständlich, dass Platon das Wort Epithymia manchmal mit dem Glück unmittelbar in Verbindung bringt. Z.B. Lys. 211 e8-212 a4.

Epithymia drehen. Die Frage, ob man gerecht ist, hat nun die Form, welche

„innere Politeia“ man hat338, und die Frage, wer glücklich lebt, hat nun die Form, welche innere Herrschaftsstruktur unter den verschiedenen Epithymiai in Wahrheit glückszuträglich ist, oder, einfacher gesagt, welche Epithymia am glückszuträglichsten ist oder welche Epithymia die größte Lust mit sich bringt.

Diese Interpretation wird sich bald bestätigen.