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Das Glück der Tyrannen: Freiheit und Glück

III. Wollen, Wissen und das Gute

3.1 Das Glück der Tyrannen: Freiheit und Glück

1. Wenn das Gute etwas ist, was wir wollen, kann man die grundsätzliche Charakterisierung des Glücks als des im höchsten Maße Guten folgendermaßen darstellen: Das glückliche Leben kann man nur führen, indem man sein Wollen befriedigt. Nennen wir diese Dimension des Glücks das boulematische Glück163. Das Glück bedeutet somit „poiei=n o(/ti bou/letai/ tij“164. Dem Plädoyer für das

163 Vgl. Gorg. 466 a-468 e passim, besonders 468 c, Phil. 20 d. Vgl. Kap. II 2.3.2, Kap. III 3.4.1.

164 Diese Formulierung „poiei=n o(/ti bou/letai/ tij“ war ein berühmtes Schlagwort der damailigen Demokratie Athens. Vgl. L. Bieler, „A Political Slogan in Ancient Athens“ American Journal of Philology 72 (1951): 181-84. Über den damaligen Freiheitsbegriff und die athenische Demokratie siehe J. Ferguson, Morals and Value in Ancient Greece (Bristol, 1989); K. Raaflaub, Die Entdeckung des Freiheit. Zur historischen Semantik und Gesellschaftsgeschichte eines politischen Grundbegriffes der Griechen (München, 1985); O. Gigon, Der Begriff der Freiheit in der Antike, in: ders., Die Antike Philosophie als Massstab von Realität, (Zürich, 1977), 96-161.

Ungerechtsein von Glaukon in Buch II liegt ebenfalls diese Vorstellung des menschlichen Glücks zugrunde. Die Rahmenbedingung der Geschichte ist folgende:

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Lassen wir den beiden, dem Gerechten und dem Ungerechten, freie Hand zu tun, was jeder will (do/ntej e)cousi/an e(kate/r% poiei=n o(/ti a)\n bou/lhtai), und gehen ihnen dann nach und schauen, wohin einen jeden die Begierde treibt (poi= h( e)piqumi/a e(ka/teron a)/cei). Da würden wir den Gerechten auf der Tat ertappen, wie er denselben Weg geht wie der Ungerechte, im Streben nach größerer Habe (dia\ th\n pleoneci/an); dieser als einem Gut nachzujagen, liegt ja in jeder Natur (o(\ pa=sa fu/sij diw/kein pe/fuken w(j a)gaqo/n), und nur durch das Gesetz wird sie mit Gewalt zur Anerkennung der Gleichheit gebracht. (II 359 c1-6)

Die beiden, der Gerechte und der Ungerechte, würden von Natur aus dasselbe wollen. Sie hätten demnach dieselben Vorstellungen über das Gute, das Glück und das gute Leben. Der Unterschied zwischen den beiden liegt nicht darin, dass der Gerechte etwas anderes will und daher einen anderen Glücksbegriff hat, als der Ungerechte, sondern ausschließlich darin, dass sich der Gerechte körperlich oder politisch in einer schwachen Lage befindet, so dass er wegen der Angst vor Sanktionen oder dem Gesetz zwangsweise gerecht handelt, während der Ungerechte genug Macht hat, um sein Wollen frei zu befriedigen. Die Ungerechten würden gerade deswegen glücklicher leben als die Gerechten, weil sie ihre Begierden besser befriedigen können als die Gerechten.

Diese Glücksvorstellung im Sinne des boulematischen Gutseins findet man auch in den Beschwerden von Adeimantos in Buch IV über die Stellung der Wächter in dem von Sokrates entworfenen Staat. Er meint, die Wächter seien nicht glücklich, denn sie hätten vor allem nicht die äußeren Güter, „die man nach der allgemeinen Ansicht haben muss, um glücklich zu sein (o(/sa nomi/zetai toi=j me/llousin makari/oij ei)=nai)“ (IV 419 a9-10). Deswegen könnten sie natürlich die äußeren Güter auch nicht ausgeben, wenn sie wollen (bou/lwntai in IV 420 a4, 5), „wie die das tun, die man sonst für glücklich hält (o(=ia dh\ oi( eu)dai/monej dokou=ntej ei)=nai a)nali/skousi)“ (IV 420 a5-6). Nach der allgemeinen Vorstellung besteht das Glück gerade in der Befriedigung des menschlichen Wollens, und zwar des Wollens hinsichtlich der äußeren Güter165.

165 Vgl. Kap. III 3.4.1.

2. Beim boulematischen Glück spielt danach die Freiheit eine entscheidende Rolle: Die Freiheit ermöglicht das menschliche Glück, denn man tut, was man will, dann und nur dann wenn man frei ist. In diesem Punkt ist der Tyrann der beste Kandidat für den glücklichsten Menschen in der Welt. Er ist vollkommen frei, weil er von niemandem beherrscht wird. Er ist daher jemand, ja vielleicht der einzige, der tun kann, was er will166. Die platonische Auseinandersetzung mit dem Problem des Glücks der Tyrannen in der Politeia ist nicht nur deswegen wichtig, weil er das Symbol der Ungerechtigkeit167 ist, sondern auch weil er nach der üblichen Vorstellung von Glück vollkommen glücklich lebt. Wenn man das Glück ausschließlich im boulematischen Sinne versteht, ist es völlig verständlich, dass man den Tyrannen für den Glücklichen par excellence hält. Im Er-Mythos im Buch X erzählt Platon eine Geschichte, in der viele menschliche Seelen ihre neuen Lebensformen wählen. Unter vielen Möglichkeiten wählt die erste Seele das Leben des Tyrannen für ihr neues Leben: sie hat sogar „die größte Tyrannis gewählt (th\n megi/sthn turanni/da e(le/sqai)“ (X 619 b8). Gyges, der in der griechischen Geschichte der erste Tyrann gewesen sein soll, soll folgendermaßen gelebt haben:

Z 3 - 2

Es stände ihm ja frei, unbedenklich vom Markte wegzunehmen, was er wollte (o(/ti bou/loito lamba/nein), in die Häuser zu gehen und dort Umgang zu pflegen, mit wem er wollte (suggi/gnesqai o(/t% bou/loito), und zu töten oder aus dem Gefängnis zu befreien, wen er wollte (a)pokteinu/nai kai ... lu/ein ou(/stinaj bou/loito), und auch sonst unter den Menschen wie ein Gott zu walten. (II 360 b6-c3)

Derjenige, der gerecht erscheint, jedoch ungerecht ist, lebe, so Glaukon, glücklich:

Z 3 - 3

Wer gerecht scheint, der kann erstens in der Stadt regieren, sodann findet er eine Frau, aus welchem Hause er will (gamei=n o(po/qen a)\n bou/lhtai), und gibt seine Töchter, wem er will (e)kdido/nai ei)j ou(\j a)\n bou/lhtai), tritt in Verbindung und verkehrt, mit wem er will (koinwnei=n oi(=j a)\n e)qe/l$), und überdies verschafft er sich Vorteil und Gewinn, weil es ihm nichts ausmacht, Unrecht zu begehen.“ (II 362 b2-5)

166 Vgl. Leg. II 661 b2 „to\ poiei=n turannou=nta o(/ti a)\n e)piqumv=“.

167 Über die moralische Konnotation des Wortes tu/rannoj Vgl. Kap. II Anm. 159.

3. Nach dieser weit verbreiteten Vorstellung des Glücks besteht das menschliche Glück168 eben darin, dass man ohne externe Hindernisse tun und befriedigen kann, was man will. Dass die Freiheit, und zwar die freie Befriedigung des Wollens ein wesentliches Merkmal des menschlichen Glücks ist, bestreitet auch Platon nicht. Im Buch X verteidigt Platon das Leben der Gerechten mit folgenden Gründen:

Z 3 - 4

Du wirst es also hinnehmen, wenn ich von ihnen gerade das sage, was du deinerseits von den Ungerechten gesagt hast. Ich behaupte nämlich: wenn die Gerechten älter geworden sind, so erhalten sie in ihrer Stadt die Ämter, die sie wollen (a)/rxousi/ te a)\n bou/lwntai ta\j a)rxa/j), finden eine Frau, aus welchem Hause sie wollen (gamou=si/ te o(po/qen a)\n bou/lwntai), und geben ihre Töchter, wem sie wollen (e)kdido/asi/ te ei)j o(\uj a)\n e)qe/lwsi).

(X 613 c8-d4)

In dem sogenannten ersten Beweis für das Glück der Gerechten in Buch IX argumentiert Platon dafür, dass der Tyrann, obwohl er vollkommen frei zu sein scheint, in Wirklichkeit nicht frei ist, und deswegen kein glückliches Leben führt169. Die Freiheit ist jedoch für Platon keine notwendige und hinreichende Bedingung für das Glück, die keiner weiteren Legitimation bedarf. Platon richtet kritische Fragen an den boulematischen Glücksbegriff: Welches Wollen haben wir eigentlich? Wie kann man es vernünftigerweise befriedigen? Was sind die angemessenen Gegenstände des Wollens und wie kann man sie kennen?170 In diesem Sinne ist das boulematische Glück für Platon kein formaler Begriff. Die Auffassung des Glücks als vernünftige Befriedigung des menschlichen Wollens171 ist für ihn also keine endgültige Definition, sondern ein Anfang, der eine lange mühsame Untersuchung einleitet.

168 Zum Beispiel Polos und Kallikles im Gorgias: Polos besonders in 466 e, und Kallikles in 482 c - 486 d.

169 Vgl. Kap. IV. 3.

170 Für Glaukon ist die Freiheit an sich auch nicht der höchste Wert hinsichtlich des menschlichen Glücks. Nach der Definition des Gerechtseins als eine Form von Gesundheit der Seele am Ende des Buches IV fragt Sokrates Glaukon, wer von den beiden, der Gerechte oder der Ungerechte, glücklich ist. Glaukon findet diese Frage lächerlich, denn der Ungerechte, nach der eben gegebenen Definition des Gerechtseins, hat eine „ungesunde“ Seele, ist also unglücklich, obwohl er außerdem alles haben kann, was er will (e)a/nper tij poiv= o(\ a)\n boulhqv=, IV 445 b1-4). Für die weitere Diskussion dieser Antwort von Glaukon siehe Kap. III 3.3.2.

171 In den obigen Zitaten wird das Wort bou/lesqai einmal in Z 3 - 1, dreimal in Z 3 - 2, zweimal in Z 3 - 3 und zweimal in Z 3 - 4 verwendet, e)qe/lesqai einmal in Z 3 - 3 und einmal in Z 3 - 4.

3.2 Der erste Weg: Analyse der Seele