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Die Deutung des Islam aus christlicher Sicht

Im Dokument In guter Nachbarschaft (Seite 31-54)

Die christliche Theologie ist sich nie ganz sicher gewesen, wie sie den Islam einordnen soll.34 Als nachchristliche Religion widerstreitet der Is-lam schon durch seine bloße Existenz dem z.B. im Hebräerbrief des Neuen Testaments formulierten Anspruch des Christentums, durch das Opfer Jesu Christi seien die Menschen „ein für allemal“ (Hebräer 9,12) mit Gott versöhnt. Dem Christentum gegenüber tritt der Islam als eine Religion auf, die das Christentum überbieten wollte und dessen Haupt-lehren infrage stellte: Die Trinität, die Inkarnation und die Erlösung. Zu-gleich versagte dem Islam gegenüber das in der Alten Kirche entwickelte heilsgeschichtliche Schema, mit dessen Hilfe christliche Theologen die vorchristlichen Religionen und die philosophischen Systeme der Grie-chen einzuordnen vermochten. Diese wurden positiv gewürdigt, insofern sie Keime der Wahrheit, die auf Gottes Offenbarung vor verweisen, ent-halten. Der neuen nachchristlichen Religion gegenüber hat man sich da-her in einer uneinheitlichen Weise gegenüber verhalten. Fünf Modelle möchte ich kurz vorstellen:

a. Muslime als Ungläubige

In der Zeit der Kreuzzüge galten die Muslime als Ungläubige.35 Der Kampf gegen die Heiden war ein wesentliches Motiv für die mittelalter-lichen Kreuzzüge.36 Einen späten Nachklang findet diese Einordnung im 20. Jahrhundert bei Karl Barth (1886–1968), der den absoluten Wahr-heitsanspruch der im Wort Gottes vorliegenden christlichen Offenbarung neu zur Geltung gebracht hat. Barth übt schärfste Kritik an der gesamten humanen Religionsgeschichte, in die die Geschichte des Christentums freilich weitgehend hineinfällt: „Religion ist Unglaube; Religion ist eine

34 Vgl. auch die – für die Neuzeit nicht so versierte – Darstellung von SIEGRIED RAEDER: Der Islam und das Christentum. Eine historische und theologische Einführung, Neukirchen-Vluyn 2001, 165–200.

35 Vgl. den Aufruf Papst Urbans II. auf der Synode von Clermont am 27. November 1095 zum ersten Kreuzzug, in: Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen, Bd. II: Mittelalter, hg. von R. MOKROSCH und H. WALZ, Neukirchen-Vluyn 1980, 69f.

36 Vgl. HANS EBERHARD MEYER: Geschichte der Kreuzzüge, Stuttgart ⁹2000, 20ff.

Angelegenheit, man muß geradezu sagen: die Angelegenheit des gottlo-sen Menschen.“37 Zwar gesteht Barth dem Islam als einer nachchristli-chen Religion eine „Sonderbehandlung“38zu. Sie besteht aber nur darin, dass Barth das vom Islam gegen das Christentum gerichtete Monotheis-mus-Argument umdreht, dem Islam „religiöse Verklärung der Zahl Eins“39 vorwirft und ihn als „Potenzierung alles sonstigen Heidentums“40 einstuft. Heute wird diese Position in evangelikalen Kreisen vertreten.41 b. Muslime als Häretiker

Als ein „Häretiker“ kommt Mohammed etwa in der „Göttlichen Komö-die“ Dantes (1265-1321) vor.42 Im ersten Artikel der evangelisch-lutherischen Bekenntnisschrift „Confessio Augustana“ (1530) werden die „Mahometisten“ neben den altkirchlichen Sekten, die den trinitari-schen Gottesgedanken ablehnen, aufgeführt.43 Von praktischer Relevanz war die religiöse Formulierung von Verwandtschaft freilich nicht: Der Toleranzgedanke ist erst eine Errungenschaft der Aufklärung. Bis dahin respektierten einander nicht einmal die unterschiedlichen christlichen Konfessionen auf einem Territorium.

c. Der Islam als Religion des Gesetzes

Für Martin Luther (1483–1546) dagegen entsprach der Islam wegen des Monotheismus und der religiös begründeten Lebensordnung als „Geset-zesreligion“ und hielt ihr das Evangelium entgegen.44 Diese Deutung des Islam als Gesetzesreligion ist im vergangenen Jahrhundert in der

37 KARL BARTH: Die kirchliche Dogmatik I/2, Zürich ³1945, 327.

38 A.a.O. 926.

39 KARL BARTH: Die kirchliche Dogmatik II/1, Zürich 1940, 505.

40 Ebd.

41 Vgl. die Meldung unter der Überschrift „Arbeitskreis bibeltreuer Publizisten: Es gibt Anzeichen dafür, daß die Endzeit angebrochen ist. Islam „erste antichristli-che Religion nach Christus“ (Idea Spektrum 23/2005, 12).

42 Vgl. HARTMUT BOBZIN: Mohammed, München 2000, 11f.

43 Vgl. Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, Gütersloh ⁹1982, 51.

44 Vgl. CARL HEINZ RATSCHOW: Die Religionen, Gütersloh 1979, 15–19.

VELKD-Studie „Religionen, Religiosität und christlicher Glaube“45 ver-tieft worden. Danach gehört der Islam wie die anderen Religionen auch

„zum Welthandeln Gottes“.46 Wie „alles Schöpfungsgeschehen [...] [ist]

auch dieses Gotteshandeln [in den Religionen] darauf angelegt, ‚auf daß sie Gott suchten, ob sie ihn erfaßten und fänden‘“.47 Der Islam ist Be-standteil des göttlichen Schöpfungshandelns und seine Leistung wird insbesondere darin gesehen, dass er „im Verständnis des Gesetzes“ auf den „heiligen, nicht hinterfragbaren göttlichen Willen() Gottes“48 ver-weist, „die letzte Verantwortlichkeit des Menschen vor Gott“49 ein-schärft und insbesondere auf „die Verbindung zwischen Glauben und sozialem Handeln“50 aufmerksam macht. Die sittliche Bedeutung des Islam wird hervorgehoben und gewürdigt, während die religiöse Be-deutung deutlich relativiert wird, insofern durch das Heilswerk Jesu Christi die religiösen Grundideen des Islam im Prinzip als überwunden gelten.

d. Der Prophet Mohammed als Abschluss der göttlichen Offenba-rungsgeschichte (Reinhard Leuze)

Der Münchener Systematiker Reinhard Leuze hat jüngst vorgeschlagen, die Geschichte der Selbstoffenbarung des einen Gottes erst bei Moham-med enden zu lassen und christlicherseits MohamMoham-med als Propheten des einen Gottes anzuerkennen: „Erst wenn wir Mohammed als Propheten des einen Gottes, der auch unser Gott ist, anerkennen, erst wenn wir die-se Religion [d.h. den Islam] auf die Offenbarung diedie-ses Gottes zurück-führen, den wir aus den biblischen Schriften kennen, schaffen wir eine Grundlage, von der aus die [...] Polemik“51 ihr Ende finden kann.

45 Religionen, Religiosität und christlicher Glaube. Eine Studie, hg. von der Ge-schäftsstelle der Arnoldshainer Konferenz und dem Lutherischen Kirchenamt Hannover, Gütersloh ²1991, 125ff.

46 A.a.O. 126.

47 Ebd.

48 A.a.O. 54.

49 Ebd.

50 Ebd.

51 REINHARD LEUZE: Christentum und Islam, Tübingen 1994, 359.

Das Problem in Leuzes Ansatz besteht darin, dass seine These vom Ende der Offenbarungsgeschichte bei Mohammed bloße Versicherung bleibt.52 Selbst wenn man christlicherseits Mohammed als Propheten des einen Gott anerkennt und man sich mit Muslimen einig weiß im Gehor-sam gegenüber dem 1. Gebot, so bleibt für Christen problematisch die enge Verbindung des Prophetenamtes, wie Mohammed es selbst ver-standen hat, mit seiner Position in der islamischen Gemeinschaft und der politischen Führung, die er für sich und seine Nachfolger beansprucht und durchgesetzt hat. Denn für Christen ist bleibend wichtig (insbeson-dere in der modernen Welt), dass der Glaube sich gerade nicht durch politische Macht verwirklicht, sondern in der Nachfolge des von den re-ligiösen und politischen Institutionen erniedrigten Jesus Christus. Die christliche Religion sucht von vorn herein die Differenzierung von Reli-gion und politischer Ordnung, so dass sich vom eigenen Offenbarungs-verständnis her die historische Person des Mohammed schwerlich als Träger der göttlichen Offenbarung anerkennen lässt.

Man sieht, dass man sich auf einen der muslimischen Deutung des Christentums vergleichbar klaren Einschätzung dem Islam gegenüber nicht hat verständigen können. Deutlich ist, dass eine gewisse Ver-wandtschaft stets erspürt wurde, dass aber gleichzeitig die Fremdheit wahrgenommen und dem Bedürfnis nach Abgrenzung entschlossen ent-sprochen wurde. Befriedigend sind alle diese Modelle nicht (und keines hat sich durchsetzen können) und daher möchte ich diesen Vortragsteil abschließen mit einer kurzen Würdigung der …

e. (Die) Erklärung „Nostra aetate“ über das Verhältnis der römisch-katholischen Kirche zu den nichtchristlichen Religionen des Zweiten Vatikanischen Konzils

Dort heißt es: „Mit Wertschätzung betrachtet die Kirche auch die Mus-lime, die den einzigen Gott anbeten, den lebendigen und für sich seien-den, barmherzigen und allmächtigen, den Schöpfer Himmels und der Erde, der zu den Menschen gesprochen hat, dessen auch verborgenen Ratschlüssen mit ganzem Herzen sich zu unterwerfen sie bemüht sind, so wie Abraham sich Gott unterworfen hat, auf den sich der islamische Glaube gerne bezieht. Jesus, den sie freilich nicht als Gott anerkennen,

52 Vgl. VON SCHELIHA: Der Islam im Kontext der christlichen Religion (wie Fußnote 16), 46-51.

verehren sie doch als Propheten, und sie ehren seine jungfräuliche Mut-ter Maria und rufen sie manchmal auch andächtig an. Überdies erwarten sie den Tag des Gerichts, da Gott allen Menschen vergilt, nachdem sie auferweckt sind. Deshalb legen sie auf ein sittliches Leben Wert und verehren Gott besonders durch Gebet, Almosen und Fasten. ….“53

Man sieht an dieser Erklärung, dass sich die katholische Kirche nicht auf theologische Raster einlässt, sondern die Gemeinsamkeiten akzen-tuiert, ohne die Unterschiede unter den Tisch fallen zu lassen. Die mo-notheistische Gottesidee, der Schöpfungsglaube, die Frömmigkeit, die Bedeutung Jesu und seiner Mutter, der Gerichtsglaube und die sittliche Lebenspraxis werden positiv gewürdigt, wobei im Blick auf Maria kon-fessionelle Interessen leitend sind. Als Hauptdifferenz wird die Christo-logie benannt, die freilich von so großem Gewicht ist, dass sie die Ge-meinsamkeiten überlagert. Beachtlich ist, dass Abraham als gemeinsame Bezugsgröße benannt wird, wobei die vorsichtige Formulierung des Konzilstextes ins Auge fällt („auf den der islamische Glaube sich gerne beruft“). Man kann daran erkennen, dass für Christen nicht die Genealo-gie entscheidend ist, sondern Abrahams Vorbild im Glauben, das darin besteht, im Vertrauen auf Gott Risiken einzugehen, ihm zu folgen, wenn es gilt, menschliche Erwartungen und Traditionen abzustreifen und neue Wege einzuschlagen. Damit kann aus christlicher Perspektive gesagt werden, dass die gemeinsame Berufung auf Abraham ambivalent bleibt.

Einerseits bündeln sich in ihm gemeinsame Traditionen, die bis zu ei-nem gewissen Grade auch mobilisiert werden können. Zugleich kann an Abraham aber auch der Unterschied der Glaubensweisen festgemacht werden, so dass die gegenwärtig beliebte Berufung auf die „abrahamiti-sche Ökumene“ mit Vorsicht zu gebrauchen ist.

Zu beachten ist, was in dieser Erklärung nicht erwähnt wird, nämlich die prophetische Sendung des Mohammed, der keine religiöse Dignität zugewiesen wird. Ebenso ist zu bemerken, dass die vom Konzil gewür-digte „Sittlichkeit“ nicht näher erläutert wird. Dahinter verbirgt sich eine in dem Dokument zwar nicht erwähnte, in den Konzilsberatungen deut-lich herausgestellte Kritik an der Polygamie im Besonderen und dem ko-ranischen Familienrecht im Allgemeinen.

53 Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, hg. von H. DENZINGER, Freiburg i.Br. ³1991, 1247.

Die Hauptgemeinsamkeiten von Christentum und Islam identifiziert auch das Konzil im methodischen Bereich, nämlich in der religionstheo-retisch fruchtbar gemachten Anthropologie: „Die Menschen erwarten von den verschiedenen Religionen Antwort auf die ungelösten Rätsel des menschlichen Daseins, die heute wie von je die Herzen der Men-schen im Tiefsten bewegen: Was ist der Mensch? Was ist Sinn und Ziel unseres Lebens? Was ist das Gute, was die Sünde? Woher kommt das Leid, und welchen Sinn hat es? Was ist der Weg zum wahren Glück? ...

Was ist jenes letzte und unsagbare Geheimnis unserer Existenz, aus dem wir kommen und wohin wir gehen?“54 Das vatikanische Konzil themati-siert also die nichtchristlichen Religionen unter Einschluss des Islam aus einer existenziellen Perspektive, nimmt damit alle Religionen als Ant-wort auf die existenziellen Fragen des Menschseins positiv auf und geht somit von einer existenziellen Solidarität aller Religionen aus. Damit werden exklusivistische Verwerfungen ebenso ausgeschlossen wie in-klusive Binnendifferenzierungen ermöglicht werden.

Auch hier zeichnet sich also ab, dass das in Christentum und Islam ausgeprägte Bewusstsein, als Religionen bestimmte Antworten auf die Fragen des Menschseins zu geben, dasjenige gemeinsame Fundament ist, auf dem je eigene Gebäude errichtet sind, die bei aller selbständigen Statik auch gemeinsame Pfeiler haben. Auf diesem religiösen Funda-ment des Menschseins gibt es zwar noch mehr Gebäude. Aber die Ge-bäude der Christen und der Muslime stehen nahe beieinander und sind, wenn ihre Bewohner sich auf der Straße begegnen, zur wechselseitigen Öffnung ihrer Tore verpflichtet. Daher gibt es, wie ich nun im letzten Teil meines Vortrages ausführen möchte, aus fünf verschiedenen Grün-den zum christlich-muslimischen Dialog keine Alternative.

V. Warum es zu einem offenen Dialog mit den Muslimen in Deutschland und Europa keine Alternative gibt …

1. … aus historischen Gründen

Die historischen Verbindungen begründen, wie das bei Verwandten nun einmal so ist, zwischen Christentum und Islam eine gewisse Nähe, die in den jeweiligen Traditionen eigentlich auch immer bewusst war. Ich

54 A.a.O. 489.

selbst habe einmal vorgeschlagen, den Islam als ein Stück marginali-sierter Geschichte der christlichen Religion zu verstehen. Danach wäre er aufzufassen als Wiedergänger des in der frühen Christentumsge-schichte versunkenen Judenchristentums. In dieser religionsgeschichtli-chen Perspektive begegnen wir dem Islam als einer verwandten Religi-on.55

Zum historischen Bewusstsein gehört auch, dass wir uns klar ma-chen, dass wir es bei beiden Religionen mit „offenen Systemen“ zu tun haben, die in ihrer Geschichte vielfältigen Veränderungen ausgesetzt waren und sind und die sich, je für sich und gemeinsam, auf die neuen historischen Lagen eingestellt haben und sich immer wieder einstellen.

Für den Dialog ‚vor Ort’ gilt daher, dass wir den Islam als das betrach-ten, als der er uns entgegentritt: in Gestalt der Muslime, die in unserer Stadt, in der Region, in Deutschland und in Europa leben. Auch hier gilt:

wir müssen die vielfältigen Inkulturationsprozesse, die das Christentum durchlaufen hat und noch immer durchläuft, auch dem Islam zugestehen.

Ebenso wenig, wie wir als lutherische Christen in Deutschland mit dem biblischen Fundamentalismus der sog. Wiedergeborenen Christen in Amerika oder mit dem wiedererstarkten Nationalismus der serbischen Orthodoxie identifiziert werden wollen, ebenso wenig sollten wir Mus-lime in Deutschland mit Selbstmordanschlägen im Nahen Osten oder mit arabischen Reitermilizen im Sudan gleichsetzen.

2. … aus lebensweltlichen Gründen

Muslime stellen – das dürfte allen bekannt sein – gegenwärtig nach den Christen die zweitgrößte Religionsgruppe in Deutschland. Lebenswelt-lich sind Quartiere und Stadtteile in den großen Metropolen Deutsch-lands schon längst von einer interreligiösen Szene geprägt. Dort gibt es seit langem einen regen Austausch zwischen den Menschen der unter-schiedlichen Religionen, die bei weitem nicht immer die Ebene des Dialogs zwischen den Vertretern der religiösen Organisationen an-nimmt. Inzwischen gibt es auch eine namhafte Anzahl von ‚interreligiö-sen‘ Familien und Lebenspartnerschaften, so dass vor diesem Hinter-grund kein Weg an einem dialogischen Austausch zwischen Christen und Muslimen vorbeiführt. Die Aufgabe der religiösen Organisationen

55 Vgl. VON SCHELIHA: Der Islam im Kontext der christlichen Religion, 69-84.

besteht darin, die Menschen, die in solchen Lebenswelten leben, um rer selbst willen, zu unterstützen und ihnen im Blick auf den Aufbau ih-rer religiösen Identität, sei sie muslimisch, sei sie christlich oder sei sie auch, auch das kommt vor, synkretistisch, nicht alleine zu lassen.56 Es muss darum gehen, die Menschen darin zu unterstützen, das gemeinsa-me Grundanliegen der Religionen zu kultivieren. Das Kriterium, an dem sich der Dialog „vor Ort“ orientieren muss ist das Maß seiner Lebens-dienlichkeit für die Selbstbestimmung der an ihm beteiligten und von ihm betroffenen Menschen. Mit institutioneller Bevormundung, gar mit Sanktionen wird man die Menschen in die Religionsferne treiben. Inso-fern ist es für die Kirchengemeinden vor Ort und die ihnen übergeord-neten Gremien wichtig, solche Dialogangebote zu unterbreiten, die die Menschen mit ihren Sorgen, aber auch mit ihren Hoffnungen und Visio-nen ernst nehmen.

3. … aus Gründen gesellschaftlicher Verantwortung

Im Blick auf die gesellschaftliche Situation der Bundesrepublik Deutschland und des vereinten Europas tragen die christlichen Kirchen als Institutionen derjenigen Religion, die die europäische Geistesge-schichte über Jahrhunderte geprägt hat, eine besondere Verantwortung in den Zeiten einer pluralen Auffächerung der Religionskultur. Diese Ver-antwortung betrifft die Religionskultur selbst, insofern die Chance be-steht, ein tolerantes und von wechselseitigem Respekt geprägtes Mit-einander aufzubauen und zu verteidigen. Eine solche Religionskultur wird dann vorbildlich wirken auf religiöse Landschaften in anderen Weltgegenden, in denen man sich intolerant, feindlich und politisch ver-hetzt begegnet. Durch das Vorleben von wechselseitiger Toleranz und Respekt kann es gelingen, die Gedanken der europäischen Aufklärung, die die christliche Religion in ihr eigenes Selbstverständnis aufgenom-men hat, auch den Vertretern anderer Religionen, die diese Epoche noch nicht oder noch nicht ganz durchlaufen haben, nahe zu bringen und in ihrer Lebensdinlichkeit vorzustellen. Es gibt muslimischerseits Anzei-chen dafür, dass dieser Weg mitgegangen werden kann.

56 Vgl. zum Synkretismusproblem VON SCHELIHA: Der Islam im Kontext der christlichen Religion, 95-107, sowie ULRICH H.J. KÖRTNER: Synkretismus und Differenzwahrnehmung als Problem einer Theologie der Religionen, in:

Theologie der Religionen. Positionen und Perspektiven evangelischer Theologie, hg. von C. DANZ und U. H. J. KÖRTNER, Neukirchen-Vluyn 2004, 57-76.

Es gibt darüber hinaus auch eine gemeinsame Verantwortung aller religiösen Organisationen gegenüber der Gesamtgesellschaft. Denn die Gesamtgesellschaft läuft unter dem Vorzeichen einer zunehmenden Ökonomisierung Gefahr, diese gesellschaftliche Wirklichkeit absolut zu setzen. Den Religionen, allen Religionen, ist es aber gemeinsam, gegen-über dieser vorfindlichen Wirklichkeit auf eine ‚höhere Wirklichkeit’ zu verweisen, von der her die wahre menschliche Bestimmung verstanden und angeeignet wird. Dass wir nicht in unseren innerweltlichen Vollzü-gen aufgehen, dazu rufen uns insbesondere die großen monotheistischen Religionen auf, weil in ihnen die Idee der Menschenwürde religiös ver-gegenwärtigt wird. Das begründet die gemeinsame Verantwortung aller Religionen für den Aufbau einer humanen Gesellschaft, deren konkrete Gestaltung wiederum Thema des Dialogs zwischen den Religionen sein kann und muss, weil der Begriff der Menschenwürde unterschiedlich ausgelegt wird.

4. … aus religionsrechtlichen Gründen

Den geeigneten religionsrechtlichen Rahmen für einen lebensweltlich geerdeten Dialog stellt die freiheitlich-demokratische Grundordnung dar, die in der Lage ist und sich darin bereits bewährt hat, die plurale Erwei-terung der deutschen und europäischen Religionskultur aufzunehmen und zu pazifizieren. Zur Inkulturation des Islam in unsere Lebenswelt gehört also auch sein Hineinwachsen in das deutsche Religionsrecht, das für diese Integration auch positive Angebote macht: der Religionsunter-richt nach Art. 7 Abs. 3 des Grundgesetzes etwa und die damit verbun-dene Möglichkeit, Lehrer für islamische Religionslehre, in späteren Zeiten vielleicht auch Imame an deutschen Universitäten auszubilden, die damit an den Standards der Wissenschaftskultur partizipieren wür-den.

Für diese volle Integration in die deutsche Religionskultur bringen Muslime negative und positive Voraussetzungen mit. Die negative Vor-aussetzung ist das Ideal einer wechselseitigen Überformung von Religi-on, Ethos und Moral, das mit der ‚klassischen Heilszeit‘ des Propheten und seiner Nachfolger verknüpft wird. Die positive Voraussetzung be-steht darin, dass man mit der koranischen Kategorie dīn einen Schlüssel-begriff hat, mit dem trotz des religiösen Überbietungsanspruchs einmal die faktische religiöse Vielfalt begriffen und mit theologischen

Argu-menten menschlicher Zwang von der Religion ferngehalten werden kann. Zwar bewegt sich der koranische Gebrauch des Wortes im Hori-zont der altprotestantischen Unterscheidung von religio vera und religio falsa. Er enthält aber das Potenzial zu einer liberalen Handhabung dieser Unterscheidung und dass diese Kategorie von Muslimen zunehmend in diesem liberalen Sinne interpretiert wird, kann man vielfach erkennen.

Denn faktisch hat der Begriff dīn schon viele Merkmale des modernen Religionsrechtes an sich gezogen (bis hinein in die Verfassungswerke des Iran und der Türkei), so dass er m.E. eine ins Außen- und Innenver-hältnis gleichermaßen abstrahlende liberale Re-Interpretation des Koran und der Scharia einzuleiten vermag.57

Wenn wir also dem in Europa oder in Deutschland sich inkulturie-renden Islam begegnen, dann können wir im Umgang mit den Muslimen unserer vom Christentum mitgeprägten Freiheitskultur zutrauen, dass sie durch Vorbild und Erfolg von sich aus einen Beitrag zur Liberalisierung des Islam in Europa leistet. Nicht Ausgrenzung, sondern Integration muss dafür der Weg sein.58

Es wäre aber eine trügerische Hoffnung, wenn man erwartete, dass sich diese innere Liberalisierung des Islam genau so vollziehen würde wie sich die Liberalisierung des Christentums – über Jahrhunderte

Es wäre aber eine trügerische Hoffnung, wenn man erwartete, dass sich diese innere Liberalisierung des Islam genau so vollziehen würde wie sich die Liberalisierung des Christentums – über Jahrhunderte

Im Dokument In guter Nachbarschaft (Seite 31-54)