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2 HYPERKINETISCHE STÖRUNGEN – THEORETISCHER UND EMPIRI

2.2 DAS KRANKHEITSBILD DER HYPERKINETISCHEN STÖRUNGEN

2.2.6 Diagnostische Methoden

Das hyperkinetische Syndrom ist eine klinische Diagnose, für die es keinen spezifischen Test gibt, sondern die in eine umfassende multimodale Verhaltens- und Psychodiagnostik eingebet-tet ist. Diese umfaßt sowohl die klinische Exploration des Patienten, der Eltern und des Lehrers oder des Kindergartenerziehers durch z.B. Fragebögen als auch das direkte Eltern- und Leh-rerurteil und die direkte Einschätzung des Kindes/des Jugendlichen.

Die bei dieser Diagnose auftretenden, oben aufgeführten Definitionsprobleme setzen sich in der Diagnosestellung fort. Weiterhin kommt die Schwierigkeit der Verknüpfung und Gewichtung der unterschiedlichen Fragebogenergebnisse und Verhaltenseinschätzungen hinzu, da sich die verschiedenen Beobachter oft nicht einig sind und ein ungleiches Bezugssystem als Grundlage für ihre Einschätzungen aufweisen.

2.2.6.1 Anamnese

Die Grundlage der Diagnostik sind die Anamnese und Exploration der Eltern und des Kin-des/Jugendlichen, in der familiäre Bedingungen, Vorkommen von HKS oder anderer Psychopa-thologien oder Erkrankungen in der Familie, oppositionelles oder anderweitig auffälliges Verhal-ten, Beeinträchtigungen der intellektuellen Leistungsfähigkeit und Lernschwierigkeiten erhoben werden. Auch eine Schwangerschaftsanamnese und Informationen über den Geburtsverlauf des betroffenen Kindes sowie eine ausführliche Medikamentenanamnese des Kindes ein-schließlich nur apothekenpflichtiger Präparate sollten dazugehören. Am besten bedient man sich standardisierter Krankengeschichtenformulare, damit nichts vergessen wird und das Ganze recht zügig abgehandelt werden kann (Taylor MA, 1997).

2.2.6.2 Diagnostische Systeme

Zwei in Deutschland weit verbreitete diagnostische Systeme stellen das von Döpfner und Lehmkuhl 1998 entwickelte und 2000 neu aufgelegte Diagnostik-System für psychiatrische Störungen im Kindes- und Jugendalter (DISYPS-KJ) sowie das Diagnostische Interview bei psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter (Kinder-DIPS) von Unnewehr, Schneider und Margraf (2. Aufl. 1998) dar. Sie wurden als diagnostische Verfahren, die sich an den beiden internationalen Leitlinien ICD-10 und DSM-IV orientieren und leicht zu handhaben sein sollten, erarbeitet, so daß auf Aspekte wie Praktikabilität und Durchführungsökonomie großen Wert gelegt wurde. In beiden diagnostischen Systemen wird der auch von den Leitlinien der Deut-schen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie geforderten Einbeziehung mehrerer Informationsquellen und Beurteiler durch Fremd- und Selbstbeurteilungsfragebögen Rechnung getragen.

So bestehen die Instrumente des DISYPS-KJ zum HKS aus der Diagnose-Checkliste für hyper-kinetische Störungen (DCL-HKS), Fremdbeurteilungsbögen für Eltern, Lehrer oder Erzieher (FBB-HKS) und den von Kindern und Jugendlichen im Alter von 11-18 Jahren eingeholten Selbstbeurteilungsbögen (SBB-HKS).

(Im Kindergartenalter bietet sich laut Döpfner 2000 der Verhaltensbeurteilungsbogen für Vor-schulkinder (VBV 3-6) an oder der Elternfragebogen für Klein- und VorVor-schulkinder (Arbeitsgrup-pe Deutsche Child Behavior Checklist, 2000a,b), die eine große Breite von Verhaltensauffällig-keiten sowohl im Urteil der Eltern als auch im Urteil der Erzieherin erheben.)

Das Kinder –DIPS von Margraf et al. dagegen stellt das erste deutschsprachige strukturierte Interview dar, das sowohl aus einer Elternversion als auch aus einer parallelen Kinderversion besteht. In beiden Versionen enthält es einen Interviewleitfaden, in dem sich die Interviewfragen und Anweisungen an den Interviewer befinden, und einen Protokollbogen, auf dem die Antwor-ten der PatienAntwor-ten notiert und die Diagnosen kodiert werden. Die Form eines strukturierAntwor-ten Interviews wurde hier gewählt, um einerseits in kurzer Zeit die für die Diagnosestellung wichtigs-ten Informationen erheben zu können, andererseits aber die Möglichkeit des gezielwichtigs-ten Nachfra-gens über die vorgegebenen Fragen hinaus zu belassen, so daß eine größere Flexibilität in der Methodik der Datenerhebung bestehen bleibt. Wichtig ist bei diesem diagnostischen System zudem, daß in die Kodierung der Antworten der Patienten das klinische Urteil des Interviewers mit eingeht, was dieses System auch für Praktiker akzeptabel machen soll.

Beide diagnostische Systeme – DISYPS-KJ und Kinder-DIPS – zeichnen sich durch zufrieden-stellende Reliabilität und Validität aus, was Untersuchungen zu ihrer psychometrischen Qualität zeigten. Für die Auswertung des DISYPS-KJ hat sogar eine Normierung des Fremdbeurtei-lungsbogens für hyperkinetische Störungen (FBB-HKS) anhand von Daten stattgefunden, die aus Elternurteilen einer Stichprobe 6-10 jähriger Kinder mit diesem Störungsbild gewonnen wurden.

2.2.6.3 Fragebögen

Fragebögen werden zur Diagnosestellung des HKS gerne verwendet, da durch sie das Verhal-ten der Kinder schnell und kosVerhal-tengünstig erfaßt werden kann und sie außerdem eine hohe Retest-Reliabilität aufweisen. Auch stellen sie eine situationsübergreifende Diagnostik dar, da durch sie Symptome erfaßt werden können, die sich unter Umständen – z.B. aufgrund der neuen unbekannten Situation für das Kind - in der klinischen Untersuchung nicht zeigen. Ein-schränkend muß jedoch erwähnt werden, daß Fragebogenergebnisse auf der subjektiven Einschätzung der ausfüllenden Person und nicht auf objektiven Verhaltensmessungen beruhen und ihre Rating-Skalen oft ungenau sprachlich verankert sind, indem subjektiv einzuschätzende Termini wie z.B. „etwas“ zappelig verwendet werden.

Um die relative Ausprägung von hyperkinetischen Verhaltensweisen eines Kindes in bezug zur Normgruppe dennoch einordnen zu können, ist für die Verwendung der Diagnostik dann die Erarbeitung von Vergleichsnormen erforderlich (Deimel, Schulte–Körne, Remschmidt 1997).

Von der Vielzahl der mittlerweile zur Verfügung stehenden Fragebögen werden zur

Erfassung von Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen gerne der ursprünglich von Achenbach und Edelbrock entwickelte Elternfragebogen über das Verhalten von Kindern /Jugendlichen (CBCL 4-18) (Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist, 1998a) und der davon abgeleitete Lehrerfragebogen über das Verhalten von Kindern/Jugendlichen (TRF) herangezogen. Diese beiden Fragebögen sind mittlerweile international weit verbreitet – sie wurden in mehr als 25 Sprachen übersetzt - und gehören zu den am besten validierten und normierten Fragebögen (Dulcan et al., 1997). Ab einem Alter von 11 Jahren kann auch der Fragebogen für Jugendliche YSR (Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist, 1998b) mit verwendet werden.

Diese Fragebögen, die alle sehr ähnlich aufgebaut sind, messen sowohl die soziale Kompetenz als auch klinisch relevante Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen. Die soziale Kompetenzskala beim CBCL z.B. besteht dabei aus 20 Items, die nach Art und Häufigkeit der Aktivitäten des Kindes, seinen sozialen Beziehungen und seinem Verhalten in der Schule fragen. Getrennt davon werden mit 118 Fragen zu Einzelsymptomen und problematischen Verhaltensweisen die jeweiligen Verhaltensprobleme erfaßt, und die Auswertung erfolgt durch das Aufaddieren aller Items zu einem Gesamtscore.

Somit besteht die Möglichkeit der Bildung eines Summenwertes, der durch seine Höhe den Schweregrad der psychopathologischen Abweichung angibt. Weiterhin ist eine Profilauswertung durch die bei dem CBCL z.B. vorhandene HKS-Skala möglich (Remschmidt, Walter 1990).

Bei diesen Fragebögen, die alle aus über 100 einzeln zu beantwortenden Fragen bestehen, muß man allerdings achtgeben, die Bereitschaft der einzelnen an der Diagnostik beteiligten Personen nicht überzustrapazieren. Zudem sollte unbedingt darauf geachtet werden, daß die jeweiligen Personen ihre Bögen getrennt voneinander ausfüllen, um Störfaktoren zu vermeiden, und daß die Bögen den jeweiligen intellektuellen Fähigkeiten der Personen, die sie ausfüllen sollen, angepaßt sind.

Untersuchungen zu den Fragebogenverfahren zeigten – wie uns Dulcan et al. in ihrem Review 1997 mitteilen -, daß die Punktzahl von Fragebogenergebnissen von der ersten zur zweiten Fragebogenverteilung abfiel und danach bei einer regelmäßigen Administration wieder anstieg.

Ähnliche Beobachtungen machten Deimel, Schulte-Körne und Remschmidt 1997 bei dem Vergleich einiger Ergebnisse von Fragebogen-Studien: Dieser Effekt wurde von Werry und Sprague 1974 als „practice effect“ bezeichnet, als für die klinische Anwendung von Fragebögen als bedeutsam empfunden, und sie empfehlen zu seiner Umgehung eine „Aufwärmmessung“

etwa eine Woche vor der eigentlichen Messung. Auch scheint es einen Halo-Effekt zwischen dem HKS und der Wahrnehmung von Aggression zu geben. So ist es wahrscheinlich, daß ein sich dem Lehrer gegenüber aufmüpfig verhaltendes Kind als hyperaktiv oder unaufmerksam eingeschätzt wird – egal, welcher Unaufmerksamkeits- oder Hyperaktivitätsgrad von geschulten Beobachtern gemessen wird (Dulcan et al. 1997).

Einen weiteren sehr häufig bei hyperkinetischen Kindern verwendeten Fragebogen stellt die Conners Teacher Rating Scale (CTRS) dar, die von Conners speziell zur Erfassung von Medi-kamenteneffekten auf hyperkinetisches Verhalten entwickelt wurde. Die nach einigen Modifika-tionen heute meistbenutzte Fassung dieses Fragebogens von 1973 besteht aus 30 Items, aus denen faktorenanalytisch vier Skalen gewonnen wurden: Verhaltensprobleme, Unaufmerksam-keit-Passivität, Anspannung-Ängstlichkeit und Hyperaktivität. Hier werden diese Bereiche getrennt voneinander erfaßt, und der Bogen nimmt eine Zwischenstellung zwischen rein stö-rungsbezogenen Instrumenten und Fragebögen zur allgemeinen Erfassung psychiatrisch rele-vanter Symptome ein. Dabei ist unklar, wie spezifisch er die Skalen Hyperaktivität und Verhal-tensprobleme erfaßt.

Sehr gut belegt ist bei diesem Fragebogen seine Änderungssensitivität bei Medikamentenstu-dien mit hyperaktiven Kindern - seine Verwendung zur Diagnostik hingegen wird als problema-tisch angesehen, da keine adäquaten aktuellen Normen vorliegen. Aus diesem Grund sollten die Conners-Skalen die Diagnostik betreffend allenfalls als zusätzliche Informationsquelle innerhalb eines multimodalen Ansatzes verwendet werden.

Die in der CTRS und in einem von Conners entwickelten Elternfragebogen häufig angekreuzten Items wurden - ebenfalls 1973 – zu einer aus 10 Items bestehenden Kurzform (Abbreviated Conners Teacher Rating Scale) zusammengefaßt, so daß ein für Eltern und Lehrer gleicherma-ßen verwendbarer, zudem sehr kurzer Fragebogen entstand, in dem die im CTRS getrennt erfaßten Skalen nun gemeinsam evaluiert werden. Dieser ist durch seine Kürze sehr ökono-misch und wird gerne bei klinischen Studien mit Wiederholungsmessungen angewendet. Hier-bei sollte allerdings in jedem Falle die oben erwähnte „Aufwärmmessung“ durchgeführt werden (Deimel, Schulte-Körne, Remschmidt 1997).

2.2.6.4 Verhaltensbeobachtung

Eine weitere diagnostische Möglichkeit stellt die Verhaltensbeobachtung dar. Diese sollte nach Möglichkeit im Klassenraum – wo eine relativ standardisierte Situation herrscht - oder in einer

weniger strukturierten Umgebung wie auf dem Schulhof oder in einem Spielzimmer erfolgen.

Eine informelle klinische Beobachtung kann wichtige Hinweise auf das Verhalten des Kindes und den Reaktionsstil des jeweiligen Lehrers geben (Vitaro et al., 1995).

Versucht man allerdings, ein Kind, das zum ersten Mal in der Klinik vorgestellt wird, zu beobachten, so wird sich dieses – eingeschüchtert durch die neue, unbekannte Situation meist normal verhalten. Insgesamt gilt, je länger man ein Kind beobachtet, umso aussagefähiger werden die Angaben, die man treffen kann, da zufällige Schwankungen immer weniger ins Gewicht fallen. Verhaltensbeobachtungen sollten immer von vorher eingehend geschulten Beobachtern und mehreren Beobachtern pro Kind vorgenommen werden, damit sich Fehlerquellen weiter reduzieren. Auch werden gerne Videoaufzeichnungen von Kindern gemacht, da man das dort gezeigte Verhalten anschließend anhand verschiedener Kriterien auswerten kann. Gewonnene Daten können so jederzeit überprüft und von verschiedenen Beobachtern beurteilt werden (Barkeley, 1992).

Dabei ist eine Verhaltensvarianz zwischen verschiedenen Settings, z.B. in der Schule und bei den Großeltern, typisch für HKS; das auffällige Verhalten muß allerdings – wie bereits erwähnt – in mindestens zwei verschiedenen Settings gezeigt werden.

2.2.6.5 Medizinische Untersuchung

Eine vollständige medizinische Untersuchung sollte zur Diagnostik dazugehören, obwohl die Mehrzahl der Kinder normale Ergebnisse aufweisen wird. Wichtig ist es jedoch, Differentialdi-agnosen und andere Ursachen der beklagten Hyperaktivität und Unaufmerksamkeit auszu-schließen. Besonderes Augenmerk sollte daher auf Entwicklungs-, Hör- und Sehtest, Schilddrü-senfunktionstest (Über- oder Unterfunktion vorhanden?) und Unterernährung gelegt werden. Es können Sprachuntersuchungen, motorische und neurologische Untersuchungen sowie neuro-psychologische Tests dazugehören, wenn die vorherigen Ergebnisse dazu Anlaß geben. Auch eine Routine-Blutuntersuchung sollte gemacht werden (Dulcan et al., 1997; Taylor MA, 1997).

2.2.6.6 Apparative Verfahren

Es gibt eine ganze Reihe apparativer Verfahren (Langzeitmonitoring, Aktometer, Pedometer, sensitive Fußplatte und Stabilimeterstuhl), die entwickelt wurden, um Hyperaktivitätsmessungen zu machen, die allerdings laut Tryon und Pinto 1994 nur von begrenzter klinischer Nützlichkeit sind, da die Hyperaktivität an sich gar nicht die Quelle der am meisten beklagten Beeinträchti-gung sei. Normalerweise gehe es nicht um die Größe des Aktivitätslevels, sondern um die Situationsangepaßtheit des Verhaltens. Zudem gibt es eine ganze Reihe von Störvariablen, die sich auf die Aktivität der Kinder auswirken, wie z.B. der Ort der Untersuchung, die Anwesenheit vieler Personen oder der Eltern bei der Untersuchung, die Aufgabenstellung oder die Tageszeit, so daß die Ergebnisse oft sehr situationsabhängig sind und starken Schwankungen unterliegen.

Desweiteren gibt es CPTs (continuous performance tests), die generell als nicht sinnvoll ange-sehen werden, da sie über nur geringe Spezifität und Sensitivität verfügen. Zum Computer-EEG

als diagnostische Methode gibt es hingegen zu wenige Daten, die seinen Nutzen stützen (Dul-can et al., 1997).