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Der Vergleich der verschiedenen Internetbibliotheken der lateinischen Literatur

Im Dokument Antikerezeption im Internet (Seite 160-164)

Teil III: Medienformate

Kapitel 5: Bibliotheken der antiken Literatur im Internet

5.5. Der Vergleich der verschiedenen Internetbibliotheken der lateinischen Literatur

Vergleicht man die größten Online-Bibliotheken, so springt zuerst ins Auge, dass LLT und BTL nicht frei zugänglich sind.

Einzelne Lücken der LLT fallen nicht besonders ins Gewicht. Die Herausgeber haben die beiden Epito­

men des Valerius Maximus von Iulius Paris und Ianuarius Nepotianus ausgelassen. Ebenfalls nicht auf­

findbar war ein arianischer Sermo, der seine Überlieferung dem Umstand verdankt, dass Augustinus ihm eine Entgegnung widmet, der er den kritisierten arianischen Traktat voranstellt.142 Wer den arianischen Sermo im Internet lesen möchte, ist auf die Website Sant‘Agostino angewiesen143.

Die LLT trifft nur im Bereich der Patristik auf ernsthafte Konkurrenz im freien Internet. Die beiden In ­ ternetprojekte Sant‘Agostino und Dokumentacatholicaomnia bieten umfangreiche Textsammlun­

gen.144

Unter den freien Online-Bibliotheken führt nur PHI die Fragmente des Lucilius. Sucht man hingegen einzelne Sätze aus den Fragmenten des Lucilius via Google, so erzielt man viele Treffer, wenn es sich bei dem Zitat um einen bekannten Satz handelt, etwa „o curas hominum ! o quantum est in rebus inane"145 , das in vielen Spruchsammlungen im Internet zitiert wird. Hingegen ein Fragment, das keine eingängige Aussage enthält wie das frg. Nr. 12: „praetextae ac tunicae Lydorum, opus sordidulum omne“146 wird von Google z.B. in eingescannten Büchern gefunden, in denen es zitiert wird,147 aber nicht als Teil einer Lucilius-Ausgabe, wie es sie von anderen Schriftstellern zuhauf gibt. Andere Such­

maschinen, die nicht auf GB verlinken (yahoo.de und bing.com),148 fanden diesen Satz im Herbst 2008

140 URL: < http://penelope.uchicago.edu/Thayer/E/Roman/Texts/ >.

141 < http://individual.utoronto.ca/pking/resources.html >.

142 Aurelius Augustinus: Contra Sermonem Arrianorum. Praecedit Sermo Arrianorum, ed. Max Josef Suda, Wien 2000 (CSEL 92)

143 URL am 16.8.2011: < http://augustinus.it/ > bzw. für Augustinus‘ Werke

< http://augustinus.it/latino/index.htm >.

144 URLs: < http://www.augustinus.it > bzw. < http://www.documentacatholicaomnia.eu >.

145 frg. Vers 9, ed. Marx 1904 (O die Sorgen der Menschen! Wie viel Eitles gibt es in ihren Angelegenheiten!)

146 (Die Praetexten [Komödien] und die Tuniken der Lydier, dies ganze dreckige Werk) !Lucil. 12, ed Marx 1904, = Non.14,536.

147 John C.Bramble: Persius and the Programmatic Satire: A Study in Form and Imagery, Cambridge 1974, S. 25;

URL des Buches bei GB: < http://books.google.de/books?id=yK4Her2Ht_IC >.

148 Ob die Firma Google ihren Konkurrenten (der Firma Microsoft als Eigentümer der Suchmaschine Bing und der Firma Yahoo) den Zugang zur Datenbank GB verwehrt oder ob diese von sich aus ihre Kunden nicht auf die Google-Website weiterleiten möchten, konnte ich nicht feststellen.

gar nicht, im Januar 2011 in einer von Archive.org eingescannten und in hohem Maße von Scanfeh­

lern entstellten Edition aus dem Jahr 1908149 sowie als Teil eines so genannten ‚Readers‘, also einer Textsammlung, die zur Vorbereitung eines Universitätsseminars diente.150 Diesen Sammlungen von Lucilius-Fragmenten ist gemeinsam, dass sie nicht systematisch erschließbar sind, d.h. dass sie nicht in eine Online-Bibliothek der lateinischen Literatur integriert sind. Hinter dieser Lücke in den freien Online-Bibliotheken steht sicher kein System. Man kann hier allenfalls eine gewisse Kanonbildung er­

kennen, an der der Schulunterricht einen erheblichen Anteil haben dürfte. An einer vollständigen und systematisch erschließbaren Sammlung aller Fragmente des Lucilius besteht nur ein wissenschaftli­

ches Interesse, von dem die freien Online-Bibliotheken nicht geleitet werden. Warum Google die PHI-Edition nicht findet, bleibt rätselhaft; andere Lucilius-Zitate wurden leicht gefunden.

Allerdings verhält es sich bei einigen wenigen Schriftstellern auch umgekehrt: Reposianus, der Verfas­

ser eines hexametrischen Gedichts mit dem Titel De concubitu Martis et Veneris151 ist nur in der LL aufgeführt. Die von López-Muñoz / López-Gay Lucio-Villegas152 aufgestellte Behauptung, dass der Textbestand der freien Online-Bibliotheken der lateinischen Literatur keinem System folgt und damit auch keinen Kanon bildet, sondern sich aus willkürlichen Entscheidungen ergibt, hat jedoch auch eini­

ges für sich.

Konzentriert man sich strikt auf die Frage, ob es mindestens einen Fall gibt, in dem es möglich ist, un­

ter Verwendung aller verfügbaren Online-Bibliotheken die philologisch notwendigen Informationen zusammenzutragen, um ein Bild von einer wichtigen und schwierigen Textpassage zu gewinnen, so kann man diese Frage bejahen. Ich habe diese Frage am Beispiel von Cicero ad Att. 12, 52 überprüft.

Der letzte Satz dieses Briefes stellt nicht nur das Verständnis vor einige Probleme, sondern er enthält auch Schwierigkeiten der Textkritik. Ich habe diese Textstelle ausgesucht, weil ich in dem Kapitel die­

ser Arbeit, in dem ich an einem Beispiel die Rezeption eines Autors im Internet überprüfe,153 feststel­

le, dass die Selbsteinschätzung, die Cicero hier von seinen philosophischen Werken gibt, einigen Nachhall in der Cicero-Rezeption gefunden hat.

Sucht man die fragliche Passage in der LL oder der Perseus-Bibliothek, so findet man diesen Satz:

149 URL am 2.1.2011:

< http://www.archive.org/stream/untersuchungenzu00cichuoft/untersuchungenzu00cichuoft_djvu.txt >.

150 Universität Zürich, Ulrich Eigler, URL am 2.1.2011:

< www.klphs.uzh.ch/static/veranstaltungen/HS_2007/reader_1873.pdf >.

151HLL 547; vgl. den Eintrag Reposianus, DNP (Bd. 10, Sp. 924, Stuttgart / Weimar 2001 ; Autor: Edward Courtney).

152 López-Muñoz / López-Gay Lucio-Villegas 2005, S. 349.

153 Vgl. unten Kap. 13, S. 298.

verba tantum adfero quibus abundo."154

Der Leser, der nur diesen Text zur Verfügung hat, ist in einer misslichen Lage, denn der Satz „qui talia a conscribis“ ist unübersetzbar, weil die Präposition a bzw. ab vor einer finiten Verbform agramma­

tisch ist. Der Text, den die freien Bibliotheken anbieten, enthält auch keinen Hinweis darauf, dass hier ein textkritisches Problem vorliegt. Wie zu erwarten, ist der Leser bei den wissenschaftlichen Biblio­

theken besser aufgehoben. Hier bekommt man bei der PHI-Bibliothek, bei der LLT und der BTL den Text der Teubner-Edition,155 die folgende Version des Satzes bietet:

dices + qui alia quae scribis +.

Immerhin weiß man also, dass Übersetzungsprobleme an der Textverderbnis liegen, und man kann nun diese Übersetzung versuchen:

Über die lateinische Sprache sei unbesorgt. Du wirst sagen: ‚Wie ist es mit den anderen Dingen, die du schreibst?‘. Es sind Abschriften, sie entstehen mit geringerem Aufwand. Ich bringe nur die Worte herbei, an denen ich Überfluss habe.

Welche anderen Lesarten des Textes es gibt, kann man aber nicht herausfinden, da ja weder die LLT noch die BTL den textkritischen Apparat enthalten. Wer mit GB und der ‚Search inside‘-Funktion des Internetbuchhändlers Amazon arbeiten kann, findet allerdings auch diese Informationen sowie Kom­

mentare zu dieser Textstelle, sofern er weiß, wonach er suchen muss.156

Google Books ist zunächst eine Enttäuschung, wie der folgende Screen Print zeigt, aus dem ersichtlich ist, dass Helmut Kastens Edition dort nicht verfügbar ist.

154 Eigene Übersetzung: „Sei wegen der ‚Lateinischen Sprache‘ unbesorgt. Du wirst sagen: [unübersetzbar; siehe Erläuterung im Fließtext]. Es sind Abschriften; sie entstehen mit geringem Aufwand. Ich bringe nur die Wörter hinzu, die ich im Überfluss habe.“ Quelle der Online-Texte: LL URL am 2.1.2011:

< http://www.thelatinlibrary.com/cicero/att12.shtml#52 >. Die Perseus-Bibliothek bietet den gleichen Text (URL am 2.1.2011:

< http://www.perseus.tufts.edu/hopper/text?doc=Cic.+Att.+12.52.2&fromdoc=Perseus:text:1999.02.0008 >), der auch in ungezählten anderen freien Internetbibliotheken repliziert wird. Während die Latin Library auf der Credits-Seite nur Quellenangaben zu den Büchern 1 bis 6 angibt, und zwar „from E.O. Winstedt, Letters to Atticus, Books I-VI (Harvard University Press, 1912)“, nennt Perseus als Herausgeber des Texts nur „L.C.Purser“.

155 ed. D.R. Shackleton Bailey, 1987. Diese Information erhält der Nutzer bei der LLT in der ‘Memento’-Infor­

mation, bei der BTL am linken Bildschirmrand.

156 Wer die beim Telemachos-Projekt beheimatete und von Dan Drescher erstellte Bibliographie zu Ciceros Briefen kennt bzw. findet (URL am 2.1.2011:

< http://www.telemachos.hu-berlin.de/materialien/bibl_cic_epist.htm >), erhält dort eine Übersicht über alle Textausgaben, die heranzuziehen sind.

Atticus-Briefe / Epistulae ad Atticum, ed. Helmut Kasten, Düsseldorf-Zürich 1998.

Wohl aber findet man die Ausgabe von D.R. Shackleton Bailey,157 aus der man für die fragliche Passa­

ge diese Konjektur des Herausgebers entnehmen kann: ‚Quid ad illa quae scribis?‘, die auch der Über ­ setzung zugrunde gelegt wird („What’s that compared to your writings?“).158 Der textkritische Apparat macht hingegen deutlich, dass die im Text selbst zugrunde gelegte Lesart von der Mehrheit der Hand­

schriften unterstützt wird, während eine Minderheit ‚qui talia conscribis‘ bietet.

Bei Amazon ist dann aber die von Helmut Kasten besorgte Edition der Atticus-Briefe abrufbar, und zwar so, dass die Seiten mit den jeweiligen textkritischen Anmerkungen und mit den Kommentaren auf den Bildschirm gerufen werden können. Helmut Kasten bietet diese Lesart an: ‚qui alia taliaque scribis?‘, die er so übersetzt. „Wo du anderes und so Bedeutsames schreibst?“159 Die beiden hier ge­

nannten Ausgaben bieten im Kommentarteil auch jeweils Vermutungen darüber an, was mit ‚Lingua Latina‘ gemeint sein könnte; ob es sich hier um das Werk Varros oder um eine von Cicero selbst ge­

plante Schrift handelte, lässt sich nicht mehr klären.

So kann diese exemplarische Untersuchung mit einer positiven Antwort auf die eingangs gestellte Fra­

ge abgeschlossen werden, freilich unter der Einschränkung, dass nur derjenige fündig wird, der mit den von Google und Amazon angebotenen Exzerpten zu arbeiten bereit ist. Ferner muss man es als äußerst unwahrscheinlich bezeichnen, dass jemand herausfindet, welche Werke zu konsultieren sind, der nie eine der aktuellen, wissenschaftlich edierten Editionen in der Hand hatte. Nur wer sich bereits vor der Internetrecherche in dem Fachgebiet auskennt, über das er Informationen sucht, hat auch

157 D.R. Shackleton Bailey: Cicero’s Letters to Atticus, Vol 5 (Bücher 11-13) (Cambrigde Classical Texts and Commentaries 7) Cambridge 1966; URL bei GB:

< http://books.google.com/books?id=fcurWFgaTXcC > (2.1.2011). Vgl. auch ders.: Towards a Text of Cicero 'Ad Atticum', Cambridge 1960, S. 61 f.

158 Shackleton Bailey 1966, S. 161. Der Übersetzer hat mit einem eingeklammerten Fragezeichen anzeigt, dass diese Übersetzung auf einer Konjektur beruht.

159 Cicero, Atticus-Briefe / Epistulae ad Atticum, ed. und übers. Helmut Kasten, Düsseldorf-Zürich 1998, S. 823.

Helmut Kasten liest ‚securi est animi‘. Damit hat er, ausweislich des textkritischen Apparats, ältere Handschrif­

ten auf seiner Seite, und zudem ist dies die lectio difficilior. Beim Online-Buchhändler Amazon kann man diese Ausgabe am 8.12.2012 unter dieser URL auszugsweise lesen:

< http://www.amazon.de/gp/reader/3760815189/ >.

eine Chance, auf kompliziertere Fragen im Internet eine Antwort zu finden; die philologische Arbeit kann im Jahr 2012 noch nicht auf die analogen, herkömmlichen Bibliotheken verzichten, aber diese beispielhafte Recherche hat gezeigt, dass zumindest die technischen Voraussetzungen gegeben sind, die auch eine Recherche in den textkritischen Apparaten ermöglichen würde, sofern die Medienkon­

zerne Google und Amazon ihre Datenbanken mit elektronischen Büchern zugänglich machen würden.

Im Dokument Antikerezeption im Internet (Seite 160-164)