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Der Begriff des Lebensstils bei Pierre Bourdieu

2.2 Milieu- und Lebensstilforschung

2.1.7 Der Begriff des Lebensstils bei Pierre Bourdieu

Kaum ein Theoretiker hat die Lebensstildiskussion jedoch so nachhaltig beeinflusst wie Pierre Bourdieu (1930 – 2001). Mit seinen umfassenden Untersuchungen über die Aufteilung der französischen Gesellschaft in den 1960er Jahren kam er zu dem Ergebnis, dass unter dem Einfluss äußerer, objektiver Strukturen sich im Individuum ein System von Dispositionen unbewussten Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmustern herausbildet, das Bourdieu als „Habitus“ bezeichnet.2

Sein Ansatz beruht auf drei Theoriestücken – der Kapitaltheorie, die ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital unterscheidet; der Klassentheorie, die Klassen nach Volumen und Struktur der o.g. drei Kapitalarten differenziert; und die Theorie der Distinktion, die den Umgang mit Kunst und Kultur sowie Bildungstiteln und Geschmacksausprägungen untersucht.3 Dabei vergleicht er die ästhetischen Unterschiede zwischen Klassen (Arbeiterschaft, Klein- und Großbürgertum) und die ästhetischen Unterschiede innerhalb der herrschenden Klasse. Dabei sichtbar werdende Unterschiede kultureller Praktiken lassen sich aus der sozialen Herkunft und dem vorhandenen Bildungskapital erklären.

1 vgl. Weber, M.: 1981, S. 347 ff.

2 vgl. Bourdieu, P.: 1997, 7. Auflage

3 vgl. Müller, H. P.: 1989, S. 63

Ausgangspunkt dieses Ansatzes bildet die Frage nach den Mechanismen, die den Geschmack von Statusgruppen konstituieren. Bourdieu versucht die Marxsche Dimension der objektiven Stellung (Klasse) und die Webersche Dimension der vergemeinschafteten Lebensführung (Stand) analytisch zu verbinden. Der Mechanismus des Habitus verknüpft die Strukturebene mit der Handlungsebene und Lebensstile können als kulturelle Praxis des klassenspezifischen Habitus angesehen werden.

Bourdieu unterscheidet auf der strukturellen Ebene drei Kapitalsorten, ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital; sie stellen strukturelle Handlungsressourcen dar. Dabei wird unter ökonomischem Kapital geldwerter Besitz verstanden, während kulturelles Kapital in drei Erscheinungsformen vorkommt: inkorporiertes (kognitiv: Kompetenz; ästhetisch: Geschmack), objektiviertes (Wissen) und institutionalisiertes (Bildung) Kulturkapital. "Das Sozialkapital ist die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens und Anerkennens verbunden sind: oder, anders ausgedrückt, es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen.“1 Innerhalb seiner Untersuchung konzentriert sich Bourdieu allerdings nahezu ausschließlich auf das kulturelle und ökonomische Kapital. Die drei Kapitalarten sind untereinander transferierbar und akkumulierbar, so dass eine spezifische Kapitalstruktur (Zusammensetzung) und ein spezifisches Kapitalvolumen (Quantität) entstehen. "Das Kapitalgesamtvolumen und die jeweilige Kapitalstruktur bilden den Ausgangspunkt der Konstruktion der Klassenlagen im sozialen Raum."2

Die Verortung im mehrdimensionalen Raum der sozialen Positionen findet horizontal über den Gegensatz von kulturellem und ökonomischen Kapital und vertikal über das Kapitalvolumen statt. Daraus resultieren dann drei Klassen, die herrschende, mittlere und untere Klasse.

1 Bourdieu, P.: 1983, S. 190 f.

2 Klocke, A.: 1993, S. 81

Ein Schlüsselbegriff bei Bourdieu ist der Habitus als System von Dispositionen, die in der Alltagswelt als Denk-, Wahrnehmungs- und Beurteilungsschemata auftreten und als Klassenethos zum Ausdruck kommen.

Die Konstitution des Habitus erfolgt durch die soziale Struktur, konkret der sozialen Lage und der Stellung innerhalb der Sozialstruktur (klassenspezifische Disposition, strukturierte Praxis). Diese Denk- Wahrnehmungs- und Beurteilungsschemata generieren strukturell angepasste Praxisformen, die zur Reproduktion objektiver Strukturen beitragen (strukturierende Praxis).

"Die Leistung des Habitus liegt in der Verwandlung potentieller Distinktion, die der jeweiligen Verteilung von Umfang und Struktur des Kapitals zugrunde liegt, in vollzogene, distinktive Praxis auf symbolischer Ebene, oder anders ausgedrückt der Konvertierung ökonomischen oder kulturelles Kapital in symbolisches Kapital."1

Bourdieu geht weiterhin von einem Zusammenhang zwischen der Klassenzugehörigkeit und den Wahrnehmungen und dem Handeln des Individuums aus. Er bezeichnet dies als Klassenhabitus. Der Habitus wird durch die Klassenlage, d.h. durch den Beruf, Berufsrolle, kulturelles Kapital und durch die soziale Stellung, die Herkunft, das Geschlecht und die ethnische Zugehörigkeit bestimmt.2

Mit dem „Gelenkstück“ des Habitus werden also klassenspezifische Lebensbedingungen in den Raum der Lebensstile überführt. Geschmack, Kultur und Lebensstil sind nach Bourdieu der symbolische Ausdruck von Klassenzugehörigkeit.3 Sie bezeichnen die symbolischen Formen der bürgerlichen Klassenstruktur. Da sich der Habitus aus der sozialen Lage erschließt und zu je eigenen Lebensstilen führt, lässt sich folgendes Schema konstruieren:

1 Georg, W.: 1998, S. 70

2 vgl. Bourdieu, P.: 1997, S. 277 f.

3 vgl. Bourdieu, P.: 1997, S. 362 f.

Die Lage im sozialen Raum (Kapitalvolumen und -struktur) führt zur Ausbildung von (Klassen-) Habitusstrukturen (Geschmacks- und Kulturpräferenzen), die den Lebensstil (Alltagspraxis) bestimmen, der zugleich auf die Lage im sozialen Raum zurückwirkt und damit die Klassenzugehörigkeit reproduziert. Lebensstil ist von Bourdieu als symbolischer Ausdruck und aktives Moment der Klassenstruktur konzipiert und somit direkt im Gefüge sozialer Ungleichheit verankert. In den unterschiedlichen Lebensstilen drückt sich die allgemeine Dimension sozialer Ungleichheit aus, hinsichtlich der ökonomischen Lage und den Status-, Geltungs- und Machtaspekten.1

Die Lebensstile dienen dem menschlichen Streben nach symbolischer Abgrenzung, nach Distinktion, um den Aufstiegswillen der Gruppe, bzw. Klasse zu demonstrieren. In diesem Zusammenhang führt Bourdieu drei unterschiedliche Begrifflichkeiten ein – den Begriff des Notwendigkeitsgeschmackes, der Prätention und den der Distinktion.2

Als Notwendigkeitsgeschmack bezeichnet er die Stilisierung der unteren Klassen.3 Als Prätention die unternommenen Bemühungen der Mittelklasse sich stilistisch von den unteren Klassen abzuheben bzw. dem Stil der herrschenden Klasse nachzueifern.4 „…. Der Eintritt des Kleinbürgers in dieses Spiel der Distinktion und Unterscheidung demgegenüber nicht zuletzt durch die Furcht gekennzeichnet, anhand von Kleidung oder Mobiliar…sichere Hinweise auf den eigenen Geschmack zu liefern … und sich so der Klassifizierung auszusetzen.“5 Als Distinktion bezeichnet er das Abgrenzungsbemühen der herrschenden Klasse.6 Den Bourgeois kennzeichnet insgesamt ein vertrauter und ungezwungener Umgang mit Kultur und Bildung, der nach Bourdieu seinen Ursprung bereits in der familiären Erziehung hat.1

1 vgl. Bourdieu, P.: 1997, S. 277 ff.

2 vgl. Bourdieu, P.: 1997, S. 104 ff. und S. 405 ff.

3 vgl. Bourdieu, P.: 1997, S. 104 ff., S.291 und S. 587 ff.

4 vgl. Bourdieu, P.: 1997, S. 114 f. und S. 500 ff.

5 Bourdieu, P.: 1997, S. 107

6 vgl. Bourdieu, P.: 1997, S. 405 ff.

Mit dem Lebensstil signalisiert insbesondere die herrschende Klasse ihren Monopolanspruch auf knappe Güter und versucht diesen durch die Legitimierung ihres Stils zu verteidigen.2

Lebensstile im Sinne Bourdieus sind Ausdruck moderner Klassenverhältnisse in Konsumgesellschaften, in denen es weniger um persönliche Expression (Identitätssicherung), sondern vielmehr um Distinktion, die Abgrenzung eines Territoriums geht. Eine Klasse definiert sich über ihren Konsum als auch über ihre Stellung innerhalb der Produktionsverhältnisse. Die Stellung innerhalb des Klassifikationskampfes hängt von der Stellung innerhalb der Klassenkämpfe ab.3

1 vgl. Bourdieu, P.: 1997, S. 121

2 vgl. Bourdieu, P.: 1997, S. 106 f.

3 vgl. Bourdieu, P.: 1997, S. 405 ff.

Abbildung 4: Die Logik der Ableitung von Lebensstilen nach Bourdieu

Distinktion ist ein zentrales Element für die Untersuchung von Lebensstilen.

Soziale Klassen, Schichten und Gruppen unterscheiden sich nach Bourdieus Vorstellung nicht nur durch ihre wirtschaftliche Lage, sondern auch symbolisch durch die von den Klassenangehörigen gelebten Unterscheidungsmerkmalen, den so genannten „feinen Unterschieden“. Dies sind, durch Distinktionsmerkmale und distanzierte Handlungen, wie beispielsweise Manieren, Geschmack, Konsumverhalten usw., zum Ausdruck gebrachte Habitusformen. Diese Formen prägen weitgehend das Handeln der Individuen, die sich als Angehörige von sozialen Klassen und Gruppen von einander abzuheben versuchen. Bourdieu stellt darüber hinaus fest, dass die symbolisch-kulturellen und materiellen Güter ungleich verteilt sind. 1

Der Mensch versucht sich mit seiner Zugehörigkeit zu einer Gruppe von anderen zu unterscheiden. Der Besitz symbolischer Güter bringt entsprechende legitime Distinktionsmittel mit sich. Der Erfolg der Distinktion bedeutet letztendlich Erfolg im Klassenkampf und ist Mittel zur Sicherung der gesellschaftlichen Position.

Mit diesem komplexen Konzept stellt Bourdieu den Zusammenhang zwischen kultursoziologischen und klassentheoretischen Sozialstrukturen her und liefert damit ein herausragendes Basismodell für alle weiteren Lebensstil-diskussionen.