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Demografischer Wandel und Wohnen im Alter

I. THEORETISCHER TEIL

2 Gemeinschaftliches Wohnen

2.3 Gemeinschaftliches Wohnen seit 1960

2.3.3 Gemeinschaftliches Wohnen im gesellschaftlichen Wandel

2.3.3.1 Demografischer Wandel und Wohnen im Alter

Die maßgeblichen Faktoren der Bevölkerungsentwicklung, die zum demogra-fischen Wandel beitragen, sind Fertilität, Mortalität und Wanderungen. Im Zentrum stehen dabei vor allem die beiden ersten Prozesse, während Migra-tionsbewegungen deren Trend noch abschwächen könnten. Die Enquête-Kommission ‚Demografischer Wandel‘ des Deutschen Bundestages kam 2002 zu folgendem abschließenden Urteil (Deutscher Bundestag 2002: 33):

Die Fertilität wird auf einem niedrigen Niveau verharren, die Lebenserwartung zunehmen (…). Selbst bei weiterhin kontinuierlich erfolgenden Zuwanderungen sind der Bevölke-rungsrückgang und die Verschiebung der Altersstruktur nicht aufzuhalten, sondern allen-falls abzumildern. Immer weniger junge Menschen stehen immer mehr älteren Menschen gegenüber, und das Durchschnittsalter der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter sowie das der Bevölkerung insgesamt werden deutlich zunehmen.

Es gibt folglich zwei grundlegende Veränderungen der Bevölkerungsstruktur:

eine durch sinkende Fertilitätsraten bedingte absolute Abnahme der Bevölke-rungszahl sowie ein aus erhöhter Lebenserwartung resultierender Zuwachs der älteren Bevölkerung (Stat. BA 2011). Demnach wird in den nächsten Jahrzehnten den Prognosen zufolge die Zahl älterer Menschen prozentual wie auch absolut ansteigen. In Deutschland wird es insgesamt einen Rückgang der Bevölkerung von derzeit 82 Millionen auf etwa 77 Millionen Menschen im Jahr 2030 geben (Stat. BA 2011: 21). Insbesondere die Zahl der Hochaltrigen (über 80 Jahre) wird zukünftig deutlich steigen (Cicho-las/Ströker 2009: 10; Lehr 2013: 146). Auch wenn die Zahl der ‚jungen Al-ten‘ zwischen 60 und 80 Jahren laut der Prognosen nicht in diesem Maße ansteigen soll, werden sie mit etwa einem Viertel der Gesamtbevölkerung den Hauptanteil an der älteren Bevölkerungsgruppe ausmachen (Kremer-Preiß/Stolarz 2003: 5). Demgegenüber sind in den jüngeren Altersgruppen unter 60 Jahre ausschließlich Rückgänge zu verzeichnen, am stärksten bei der erwerbsfähigen Altersgruppe der 40- bis 60-Jährigen (Kremer-Preiß/Stolarz 2003: 199ff.; Stat. BA 2011: 23f.).

Die bevorstehenden prognostizierten Entwicklungen werden gravierende Auswirkungen auf die sozialen Sicherungssysteme, die Leistungskapazitäten informeller sozialer Netzwerke sowie die Versorgung älterer Menschen ha-ben. Das Risiko der Pflegebedürftigkeit steigt erheblich mit zunehmendem Alter, von knapp vier Prozent bei den 60- bis 80-Jährigen auf 20 Prozent bei den 80- bis 85-Jährigen, 36 Prozent bei den 85- bis 90-Jährigen und fast 60 Prozent bei den über 90-Jährigen (Eichener 2004: 6). Frauen sind dabei stär-ker hilfe- und pflegebedürftig als Männer (Menning 2006: 4; Thieme 2008:

203). Dem zukünftig steigenden Bedarf an Betreuungs- und Pflegeleistungen stehen gleichzeitig sinkende Unterstützungspotentiale im familialen Bereich gegenüber (WBfF 2012: 38f.; Weltzien 2004: 14). Derzeit werden 60 bis 70 Prozent der Pflegebedürftigen in der Familie gepflegt (Lehr 2013: 146), dabei vornehmlich durch weibliche Familienangehörige. Dieses familiale Hilfenetz wird aufgrund sinkender Fertilitätsraten, einer damit verknüpften wachsenden Zahl kinderloser älterer Menschen und einer zunehmenden Erwerbstätigkeit von Frauen in Zukunft nicht mehr in dem Ausmaß wie bislang verfügbar sein (Kremer-Preiß/Stolarz 2003: 7; Voges 2008: 17; WBfF 2012: 36). Um die Versorgungslücke zu schließen, müsste die professionelle Pflege in einem für das soziale Wohlfahrtssystem nicht bewältigbaren Maß ausgeweitet werden.

So müsste das Angebot an Pflegeplätzen bis 2050 mehr als verdoppelt wer-den (Kremer-Preiß/Stolarz 2003: 6). Gleichzeitig verringern sich die staatli-chen Einnahmen aufgrund der sinkenden Zahl erwerbsfähiger Personen (Schulte 2009: 17).

Von den Prozessen des demografischen Wandels sind Frauen in höherem Maße betroffen als Männer (Backes/Clemens 2013: 91ff.; Bamler 2009:

530f.; Blitzko-Hoener/Weiser 2012; Voges 2008: 20f.). So erreicht die Alleinlebendenquote von Frauen ab 75 Jahre „mit 63 Prozent das 2,6-fache Niveau des entsprechenden Vergleichswertes für Männer dieses Alters“

(MBV 2008: 7; s. auch Häußermann 2009: 14; Lehr 2013: 153; Thomas 2012: 215). Die Gründe sind biologischer und sozialer Art: Sie liegen in der höheren Lebenserwartung von Frauen sowie darin, dass Frauen bislang eher ältere Männer geheiratet haben und seltener als Männer im Alter nochmals heiraten (Blitzko-Hoener/Weiser 2012: 121f.; Henckmann 1999: 21f.). Die Lebenserwartung von Männern wird Prognosen zufolge in den nächsten Jahren steigen, aber nicht das Niveau der Frauen erreichen (Kremer-Preiß/Stolarz 2003: 202). So zeigen sich Differenzen im Alterungsprozess zwischen den Geschlechtern. Frauen leiden „eher an degenerativen Krankhei-ten. Diese führen zwar nicht zum Tod, aber schränken sie in ihrer Lebensfüh-rung ein. Männer dagegen sind oder fühlen sich länger gesund und sterben dann eher an plötzlichen Krankheiten, wie z.B. Hirnschlag oder Herzinfarkt“

(Henckmann 1999: 22). Den Frauen scheint bewusst zu sein, dass sie im Alter eher allein leben werden. So engagieren sie sich erheblich mehr als Männer in der Planung gemeinschaftlicher Wohnkonzepte.

Bei den älteren Menschen vollzieht sich derzeit ein Generationenwandel (BMVBS 2011: 54f.; Höpflinger 2009: 30f.). So tritt in den nächsten Jahren mit den Babyboomern14 eine Generation in die Altersphase, die durch andere gesellschaftliche Prozesse geprägt wurde als ihre Eltern. Bildungsexpansion, Wertepluralisierung, Emanzipation von Frauen und Erfahrungen mit gemein-schaftlichem Wohnen aus der eigenen Studentenzeit sind nur einige Wand-lungsprozesse bzw. Erfahrungen, die einen Effekt auf die Einstellung zum eigenen Altern und zum Wohnen im Alter haben können. So kann von einer aktiveren, mobileren Rentnergeneration ausgegangen werden, die auch ge-meinschaftlichen Wohnformen offener gegenübersteht (Höpflinger 2009:

31ff.). „Studien quantifizieren diesen Typus der ‚neuen Alten‘ zurzeit auf einen Anteil von 25 % der Altersgruppe der 55- bis 70-Jährigen“ (BMVBS 2011: 55). Zudem sind ältere Menschen heute im Gegensatz zu früheren Kohorten vielfach gesünder und werden erst jenseits der 80 Jahre pflegebe-dürftig (Thomas 2012: 214; WBfF 2012: 36).

14 Für Deutschland zählen die Geburtsjahrgänge von Mitte der 1950er bis Mitte der 1960er Jahre zu den geburtenstarken Jahrgängen (Menning/Hoffmann 2009: 10).

Mester (2007: 112) stellt in diesem Kontext eine leichte Akzeptanzstei-gerung von Haus- und Wohngemeinschaften bei älteren Menschen fest. Krä-mer (2008: 343f.) unterstützt diese Einschätzung zwar tendenziell; er sieht nichtsdestotrotz gegenwärtig keinen Trend zu einer starken Pluralisierung altersgerechter Wohnformen, sondern prognostiziert, dass das Wohnen in der eigenen bisherigen Wohnung weiterhin sehr dominant bleiben wird, resultie-rend aus emotionalen Faktoren, der Bindung an das vertraute Quartier, wie auch rationalen Beweggründen (s. auch BMVBS 2011: 54; Krämer 2005: 51;

Voges 2008: 210). „So bieten langjährig bestehende Mietverträge beispiels-weise in der Regel eine Gewähr für günstige Mieten und für einen besonders ausgeprägten Kündigungsschutz; und bei älteren Wohnungseigentümern ist normalerweise die Finanzierungsphase bereits abgeschlossen, weshalb sie das Wohnen im Eigentum nun als Baustein der eigenen Altersvorsorge in die Tat umsetzen können“ (Krämer 2005: 48).

Gemeinschaftswohnprojekte lassen sich in einem breiten Spektrum von teils neuen, teils herkömmlichen Wohnkonzepten für das Alter verorten (Krämer et al. 2005; Schulz-Nieswandt et al. 2012: 16). Einen guten Über-blick über die in den letzten Jahren enorm gewachsene Zahl unterschiedlichs-ter Formen des Wohnens im Alunterschiedlichs-ter bieten Kremer-Preiß und Stolarz (2003), die drei grundsätzliche Typen unterscheiden. Der erste Typ umfasst Mög-lichkeiten, bei denen der Wunsch, ‚so lange wie möglich zu Hause zu blei-ben‘, im Vordergrund steht, wie barrierefreie Wohnungen, Betreutes Wohnen zu Hause oder quartiersbezogene Wohn- und Betreuungskonzepte. Unter den zweiten Typ ‚Wohnsituation selbst verändern‘ fallen unter anderem selbstor-ganisierte, gemeinschaftliche Wohn- oder Hausgemeinschaften sowie Kon-zepte wie Betreutes Wohnen bzw. Servicewohnen, Wohnstifte und Senioren-residenzen. Folglich ist bei diesen Wohnformen nicht immer der Gemein-schaftsaspekt das Hauptmotiv, sondern der Wunsch, jedwede Mängel der bisherigen Wohnsituation durch einen Umzug zu beheben. In Wohnprojekten können ältere Menschen ihren eigenständigen Haushalt weiterführen und sind zugleich in eine verlässliche Gemeinschaft eingebunden, die im Bedarfsfall Hilfe leisten kann (KDA 2006: 26ff.; MBV 2006). Über die Kapazität der Gemeinschaft hinausgehende aufwendige Pflegeleistungen können durch Bündelung für mehrere Bewohner oder Integration von Pflege-WGs in das Wohnprojekt kostengünstiger realisiert werden als im konventionellen Woh-nungsbau. Die ersten beiden Wohntypen mit zumeist weniger umfassender externer Hilfe sind vor allem für die Altersgruppe zwischen 60 und 80 Jahren geeignet, folglich für die inzwischen verlängerte Phase zwischen ‚sozialer Alterung‘, dem Renteneintritt, und ‚biologischer Alterung‘ (Henckmann 1999: 19). Wohnprojekte sprechen dabei vor allem ältere Menschen an, die nach Gemeinschaft und zugleich Autonomie beim Wohnen, aber weniger

nach Versorgungssicherheit und Komfort suchen (Weltzien 2004: 115ff.).

Zum dritten Typ ‚Wohnsituation verändern, weil es nicht mehr anders geht‘

zählen konventionelle Alten- oder Pflegeheime und neuere betreute Wohn-gemeinschaften, beispielsweise für Demenzkranke. Der Bedarf an diesen Wohnformen mit umfassenden Betreuungs- und Pflegeleistungen wird pri-mär für die wachsende Zahl Hochaltriger in den nächsten Jahren kontinuier-lich ansteigen (BMVBS 2011: 53; Kremer-Preiß/Stolarz 2003: 211).

Am weitesten verbreitet ist das Verbleiben in der eigenen Wohnung, un-ter Umständen ermöglicht durch Maßnahmen der Wohnraumanpassung (BMFSFJ 1998: 94; BMVBS 2011: 27; Hildebrandt 2012: 195). So möchte ein Großteil der Menschen bis zum Lebensende in ihrer Wohnung bleiben (Çetinkaya et al. 2008: 10; Krämer et al. 2005: 152f.; Krämer 2008: 342;

Voges 2008: 210ff.). Daneben sind aber mehrere ältere Menschen umzugsbe-reit und suchen nach Wohnalternativen (BMFSFJ 1998: 201; BMVBS 2011:

54; Kremer-Preiß/Stolarz 2003: 8). Ihr Anteil liegt bei 31 Prozent der Mieter-haushalte und 22 Prozent der EigentümerMieter-haushalte, wobei die Bereitschaft zum Umzug mit steigendem Alter deutlich sinkt (BMVBS 2011: 55f.). Nur knapp die Hälfte der älteren Menschen zieht freiwillig um (BMFSFJ 1998:

199; Mester 2007: 114). In Deutschland sind ältere Menschen tendenziell recht stark in ihrem Quartier verwurzelt und stehen Umzügen oder sogar Fernwanderungen weniger offen gegenüber, verglichen mit einer stärker ausgeprägten Altersmigration in den USA (Mester 2007: 116).

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass neue außerfamiliale Netz-werke und informelle Unterstützungsstrukturen und damit auch gemein-schaftliche Wohnformen durch die prognostizierten gesellgemein-schaftlichen Ent-wicklungen wichtiger werden könnten. Zugleich stehen nachfolgende Rent-nergenerationen aufgrund eines Generationenwandels möglicherweise neuen Wohnkonzepten sowie einem Umzug im Alter offener gegenüber als vorhe-rige Generationen. Offen bleibt die Frage, inwieweit gemeinschaftliche Wohnprojekte auch als Wohnalternative für die stark steigende Zahl hochaltriger Menschen fungieren können, oder ob sie eher nur für die mittlere Altersgruppe zwischen 60 und 80 Jahren eine adäquate Option darstellt. Die-se Frage wird in der Diskussion nochmals aufgegriffen (Kap. 11.1.4).