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d) Historische und theologische Bedeutung

Im Dokument Summa theologica Halensis Teilband I (Seite 38-43)

Die Summa Halensis ist vor allem dadurch bedeutsam geworden, dass hier erstmals konzeptionelle Entscheidungen gefällt und terminologische Präzisierungen vollzogen wurden, die für die weitere Entwicklung der Theologie- und Philosophiegeschichte grundlegend waren.134 Dabei war Augustin auch für die Verfasser der Summa Halen-sis die Autorität schlechthin. Sein Programm einer christlichen Bildung wurde von den spezifischen Interessen der Scholastik her rezipiert und interpretiert. Die „theolo-gische Abzweckung der profanen Bildung“135, die Augustin mit seinem Werk ‚Über die christliche Lehre‘ (De doctrina christiana) initiierte, bestimmt auch den Gesetzestrak-tat der Summa Halensis, insofern weltliche Aspekte der Wahrnehmung von

Wirklich-134 Vgl. Leppin, Theologie im Mittelalter, 102  ff.

135 Leinsle, Einführung in die scholastische Theologie, 24.

keit, zumal juristische Zusammenhänge, in einen theologischen Kontext eingebettet und nach theologischen Kriterien beurteilt werden. Die Analyse dieser komplexen Synthese von Theologie und profaner Bildung ist deshalb von großem theologie- und kulturgeschichtlichem Interesse, weil sich darin einerseits Grundstrukturen scho-lastischen Denkens widerspiegeln und zugleich bestimmende Merkmale von Kultur und Gesellschaft dieser Zeit deutlich werden.136 War es Augustins primäres Ziel, die profane Bildung theologisch fruchtbar zu machen, um damit die Auslegung der Bibel zu fördern, so ist die Verknüpfung von systematischer Theologie und Schriftausle-gung, wie sie im Sentenzenwerk des Petrus Lombardus begründet wurde, auch für den Gesetzestraktat der Summa Halensis noch maßgebend. Die biblisch-theologische Fundierung und Entfaltung der Gesetzeslehre nimmt hier – neben und zusammen mit der Rezeption Augustins – breiten Raum ein, so dass der Gesetzestraktat auch einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der Bibelauslegung darstellt. Dabei sind nicht nur die inhaltlichen Akzentsetzungen und die exegetische Methode, die hier Anwendung findet, zu beachten, sondern auch der produktive Umgang mit den Glossen, insbe-sondere mit der Glossa ordinaria. Die Summa Halensis folgt der Kapiteleinteilung der biblischen Bücher, wie sie Stephen Langton (um 1150–1228) zu Beginn des 13. Jahr-hunderts begründet hatte.137

Das Gesetzesverständnis der Summa Halensis weist in der Verhältnisbestimmung der einzelnen Ausprägungen des Gesetzes – als ewiges Gesetz, Naturgesetz, mosai-sches Gesetz und evangelimosai-sches Gesetz – eine innere Geschlossenheit auf, die durch die Verknüpfung von Metaphysik und Heilsgeschichte theologisch und philosophisch vertieft wird.138 Ihr spezifisches Profil erhält die geschichtstheologische Konzeption der Gesetzeslehre durch ihre teleologische Struktur, die in der Ausrichtung auf Gott als das letzte Ziel der Schöpfung ebenso zur Geltung kommt wie in der Fokussierung auf das ‚Neue Gesetz‘, in dem die im Gesetz verdichtete Heilsordnung und Heilsge-schichte vollendet wird.

Ist der Zusammenhang von Theologie und Recht für den Gesetzestraktat der Summa Halensis grundlegend, so entspricht das der Scholastik insgesamt in ihrer Doppelstruktur als theologische Lehre und als Rechtssystem, denn ihre Grundinten-tion war es, in einer Zeit, die von weitreichenden Veränderungen geprägt war, ver-bindliche Regeln sowohl des Glaubens als auch des sozialen Zusammenlebens in der

136 Vgl. Basse, Der Traktat ‚De legibus et praeceptis‘ der ‚Summa Halensis‘ und sein kulturgeschicht-licher Kontext, 298  ff.

137 Die Verseinteilung stammt hingegen erst aus dem 16. Jahrhundert (vgl. Schenker, Kapitelein-teilung/Verseinteilung in der Bibel, 798  f); zur schnelleren Orientierung werden die Versangaben, wie sie sich in der kritischen Edition des lateinischen Textes finden, auch in der vorliegenden Über-setzung mit aufgeführt. Zur Geschichte der Bibelkorrektorien des 13. Jahrhunderts vgl. Denifle, Die Handschriften der Bibel-Correctorien des 13. Jahrhunderts, 263  ff; Dahan, La critique textuelle dans les correctoires de la Bible du XIIIe siècle, 365  ff.

138 Vgl. Gössmann, Metaphysik und Heilsgeschichte, 282.

christlichen Gemeinschaft festzulegen.139 Immer stärker rückte eine naturrechtliche Begründung und Explikation ethischer sowie gesellschaftstheoretischer Fragen in den Vordergrund.

Besondere Beachtung verdienen die materialethischen Ausführungen der Summa Halensis, die rein quantitativ einen Großteil des Gesetzestraktates ausma-chen, aber bisher nicht im Fokus der wissenschaftlichen Forschung standen.140 Die Summa Halensis unterscheidet sich von den anderen mittelalterlichen Auslegungen des mosaischen Gesetzes dadurch, dass sie an der Geltung auch der Rechtssatzun-gen und z.  T. auch der Zeremonialgesetze als Gebote für Christen festhält, während die mittelalterlichen Theologen ansonsten die Geltung der Rechtssetzungen nur nach Maßgabe ihrer Übereinstimmung mit der natürlichen Vernunft annahmen und die Zeremonialgesetze grundsätzlich für nicht mehr verbindlich erklärten.141 Die Summa Halensis erörtert ausführlich die biblischen Rechtssatzungen über das Gerichtswe-sen (Personen im Gericht, Prozessverfahren, Urteilsspruch), die Rechtssatzungen zur Wahrung der Gerechtigkeit (Eigentumsrecht, Haftungsrecht u.  a.) und die Rechts-satzungen über den Zehnten, die Erstlingsfrüchte und die Opfergaben (Steuer- und Abgabenrecht). Den Nutzen dieser Rechtssatzungen begründet die Summa Halensis in Anknüpfung an Wilhelm von Auvergne durch den Rekurs auf den einflussreichen jüdischen Theologen Moses Maimonides, so dass sich in historischer Hinsicht inter-essante Verbindungen zum christlich-jüdischen Dialog dieser Zeit ergeben.142 Hierbei erweist sich der kulturgeschichtliche Ansatz, die Korrelation von religiöser Selbst- und Fremdwahrnehmung im Blick auf die Genese sozialer und individueller Iden-tität herauszuarbeiten,143 als produktiv. Das gilt auch für das Frauenbild der Summa Halensis, das überwiegend traditionell-patriarchalische Züge aufweist, wenngleich an einzelnen Stellen durchaus die Auffassung vertreten wird, dass der Frau eine gewisse Eigenständigkeit zugesprochen werden müsse. Für die weitere Erforschung des kirchen- und kulturgeschichtlichen Kontextes ist interessant, dass die religiöse

139 Vgl. Southern, Scholastic Humanism and the Unification of Europe, Bd. 1, 15  ff.

140 Wenn im Blick auf Thomas von Aquin mit „Staunen“ festgestellt wurde, „mit welcher Akribie sich Thomas in die Gesetzgebung des Alten Testaments vertieft hat“ (Kühn, Via caritatis, 185), so zeigt sich, dass die entsprechenden Vorarbeiten der Summa Halensis nicht hinreichend Beachtung gefunden haben.

141 Vgl. Pesch, Kommentar zu Thomas von Aquin: Das Gesetz, 496  ff.

142 Vgl. Guttmann, Alexandre de Hales et le judaisme, 229  ff; ders., Die Scholastik des dreizehn-ten Jahrhunderts in ihren Beziehungen zum Judenthum und zur jüdischen Literatur, 41  ff; ders., Der Einfluss der maimonidischen Philosophie auf das christliche Abendland, 147  ff; Benin, Maimonides and Scholasticism, 43; Dienstag, Eschatology in English Christian Thought and Scholarship, 252  f;

Hasselhoff, Dicit Rabbi Moyses, 66  ff;

143 Vgl. Esch, Anschauung und Begriff, 281  ff; Melville, Die Wahrheit des Eigenen und die Wirklich-keit des Fremden, 79  ff.

Frauenbewegung um 1200144 von den Autoren der Summa Halensis insbesondere im Blick auf das umstrittene Thema prophetischer Gabe wahrgenommen wurde.

Nehmen die Dekalogauslegungen im Gesetzestraktat der Summa Halensis einen großen Raum ein, so rückt damit eine Thematik in den Blick, die in der neueren Forschung zum späten Mittelalter und zur frühen Neuzeit an Relevanz gewonnen hat. In der Zusammenschau bildungsgeschichtlicher sowie mentalitäts- und sozial-geschichtlicher Perspektiven ist die Bedeutung der Dekalogauslegungen für die Glaubensvermittlung und die Frömmigkeitspraxis aufgezeigt worden.145 Diese Ent-wicklung wurzelte in den kirchlichen und theologischen EntEnt-wicklungen des 12. und 13. Jahrhunderts sowie den daraus resultierenden Entscheidungen des Vierten Late-rankonzils von 1215. Die Funktionalisierung der Dekalogauslegung für die Instruk-tion der Gläubigen im Rahmen der Beichte, wie sie dann im 14. und 15. Jahrhundert vorherrschte146, ist im Gesetzestraktat der Summa Halensis noch nicht erkennbar, wenngleich auffällt, dass die bedeutende Beichtsumme des Raimund von Peñafort,147 die kurz vorher entstanden ist, hier ausgiebig rezipiert wurde148. Über seine konzep-tionelle Bedeutung hinaus ist der Gesetzestraktat der Summa Halensis aber auch deshalb interessant, weil seine Auslegung des Dekalogs konkrete Bezüge zur Lebens- und Glaubenswelt aufweist, die für die Kultur- und Sozialgeschichte dieser Zeit auf-schlussreich sind. Exemplarisch deutlich wird das zum einen an der Erörterung der Frage, welche Arbeiten am Sonntag erlaubt sind,149 sodann bei den politischen und gesellschaftlichen Implikationen der Ehrerbietung gegenüber den Eltern wie auch den weltlichen und kirchlichen Autoritäten150 oder auch den eingehenden Refle xio-nen zur Problematik des Suizids.151 Auf die ausführliche Dekalogauslegung folgt eine

‚Kurze Erklärung der Gebote zur Unterweisung der Einfachen‘.152 Sie lässt im Ver-gleich mit den vorangegangenen Ausführungen ein Gespür für unterschiedliche An-forderungen an theologische Sprech- und Argumentationsweisen erkennen und ist in bildungsgeschichtlicher Perspektive aufschlussreich für die Katechese als spezifische Form der Glaubensvermittlung.

144 Vgl. Grundmann, Religiöse Bewegungen im Mittelalter, 170  ff; Degler-Spengler, Die religiöse Frauenbewegung des Mittelalters, 75–88.

145 Vgl. Bange, Soziale Prägungen von Dekalogerklärungen in den Niederlanden im späten Mittel-alter, 253  ff; Bast, Honor your fathers, 1  ff; Dinzelbacher, Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum, 99.

146 Vgl. Basse, Luthers frühe Dekalogpredigten in ihrer historischen und theologischen Bedeutung, 6  ff; ders., Von den Reformkonzilien bis zum Vorabend der Reformation, 164  ff.

147 Vgl. Raimund von Peñafort, Summa de paenitentia, ed. X. Ochoa (Universa Bibliotheca iuris 1), Rom 1976; Goering, The Internal Forum and the Literature of Penance and Confession, 419.

148 Vgl. Summa Halensis III, Prolegomena (ed. Bd. IV/1, 114).

149 Vgl. ebd., Nr. 335–337 (ed. Bd. IV/2, 502a–504b; in dieser Ausgabe S. 696–703).

150 Vgl. ebd., Nr. 347–350 (ed. Bd. IV/2, 515a–519b; in dieser Ausgabe S. 740–757).

151 Vgl. ebd., Nr. 353 (ed. Bd. IV/2, 522a–524b; in dieser Ausgabe S. 762–773).

152 Vgl. ebd., Nr. 395–410 (ed. Bd. IV/2, 587–598; in dieser Ausgabe S. 1000–1045).

Die systematisch-theologische Bedeutung des Gesetzestraktates der Summa Halensis besteht darin, dass hier eine Gesamtkonzeption theologischer Rede vom Gesetz begründet und entfaltet wird, die in vielfältiger Hinsicht dazu anregt, über die theologische(n) Funktion(en) des Gesetzes sowie den Zusammenhang von Theo-logie und Recht zu reflektieren.153 Das gilt im besonderen Maße angesichts des ge-genwärtigen theologischen Diskurses über die Bedeutung der Tora für die christliche Theologie,154 insofern der Gesetzestraktat der Summa Halensis hierzu einen theo-logiegeschichtlich wie systematisch-theologisch interessanten Beitrag liefert. Dass die Begriffe ‚Gesetz‘ und ‚Evangelium‘ im Gesetzestraktat nicht als unterschiedliche theologische Kategorien verwendet werden, sondern für die beiden Ausprägungen des geschriebenen Gesetzes im Alten und Neuen Testament stehen und deshalb dezi-diert von einem „evangelischen Gesetz“155 gesprochen werden kann, in dem der Ge-setzestrakt seinen Abschluss und zugleich theologischen Kulminationspunkt findet, bietet zudem aus der Perspektive reformatorischer Theologie den Ansatz, über das Verhältnis und die Unterscheidung von ‚Gesetz und Evangelium‘156 einerseits sowie von ‚Recht und Rechtfertigung‘157 andererseits in einen kritischen Dialog zu treten.

Dabei ist die Frage, inwiefern sich hier eher theologische Verbindungen zwischen der Summa Halensis und dem Gesetzesverständnis des Calvinismus158 als dem des Luthertums aufzeigen lassen, sowohl theologiegeschichtlich als auch systematisch-theologisch von Interesse.

Zu der Wirkungsgeschichte der Summa Halensis insgesamt und des Geset-zestraktates im Besonderen gehört nicht zuletzt deren Rezeption im Franziskaner-orden – v.  a. bei Odo Rigaldus und Bonaventura159 – sowie in den großen

scholasti-153 Vgl. Schuck, Recht, 92  ff; von Lüpke, Gesetz, 772  ff; Reuter, Recht, 1891  ff.

154 Vgl. Wohlmuth, Die Tora spricht die Sprache der Menschen, 36  ff; Crüsemann, Maßstab Tora, 11  ff.148  ff; Wengst, Christsein mit Tora und Evangelium, 160  ff.

155 Summa Halensis III, Inquisitio quarta (ed. Bd. IV/2, 837).

156 Zur evangelisch-theologischen Unterscheidung von Gesetz und Evangelium vgl. Schwöbel, Ge-setz und Evangelium, 862  ff; von Lüpke, GeGe-setz und Evangelium, 593  ff; Heckel, Martin Luthers Refor-mation und das Recht, 406  ff; zur kontroverstheologischen Relevanz dieser Unterscheidung im Blick auf die Lehre vom Gesetz vgl. Kühn, Via caritatis, 252  ff; Kandler, Evangelium als nova lex?, 70  ff.

157 Vgl. in rechtstheologischer Perspektive Dantine, Verantwortung für das Recht als Forderung des Glaubens, 244  ff; Müller, Evangeliumspredigt und Rechtsordnung, 78  ff; Honecker, Recht in der Kirche des Evangeliums, 15  ff; Heckel, Martin Luthers Reformation und das Recht, 49  ff.

158 Vgl. Strohm, Calvinismus und Recht. Weltanschaulich-konfessionelle Aspekte im Werk refor-mierter Juristen in der Frühen Neuzeit, Tübingen 2008. – Allerdings sind lange Zeit dominierende Beurteilungsschemata im Blick auf die politisch-theologische Kommunikation der Frühen Neuzeit von der neueren Forschung grundlegend relativiert worden (vgl. Schorn-Schütte, Gottes Wort und Menschenherrschaft, 17  ff).

159 Die Herausgeber des dritten Bandes der Summa Halensis haben inhaltliche Übereinstimmun-gen des Gesetzestraktates mit den Sentenzenkommentaren des Odo Rigaldus sowie Bonaventuras im Apparat vermerkt (vgl. Summa Halensis III Nr. 281, 283–285, 289, 292, 294, 297–298, 302, 308, 314–315, 318, 324, 455, 591–593, 597 [ed. Bd. IV/2, 421.430.434  f.443.449.451.454  f.457.465.475  f.481.489.665.918.

schen Summen des Albertus Magnus (um 1200–1280) und seines Schülers Thomas von Aquin (1224/25–1274).160 Nur wenn das besondere Profil des Gesetzestraktates der Summa Halensis im Kontext der zeitgenössischen Theologie wie auch im instituti-onengeschichtlich interessanten Zusammenhang der Geschichte der Pariser Univer-sität eingehend untersucht wird, gewinnt auch der Vergleich mit den Konzeptionen des Albertus Magnus und des Thomas von Aquin an historischer und theologischer Tiefenschärfe. Zugleich stellt sich angesichts der überragenden Rolle des Alexander von Hales in der älteren Franziskanerschule die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Rezeption des Gesetzestraktates in der Scholastik wie auch in der Le-benswirklichkeit der spätmittelalterlichen Gesellschaft.

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