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Comics versus Mangas

Im Dokument Visuelle Medien im DaF-Unterricht (Seite 120-128)

1 Was ist ein Comic?

4 Comics versus Mangas

Abb. 11: Drei der vier Bilder des Papyrus des Hunefer (1300 v. Chr.) zeigen seinen Weg ins Jenseits. Die Texte über den Köpfen müssen in Richtung zum Mund des jeweils Sprechenden hin gelesen werden und erinnern an Sprechblasen. (Sackmann 2006/ 2009 und Sackmann 2009: 7; für die s/w-Abb. modifiziert)

Protagonis-ten und die Thematisierung gesellschaftlicher Antihelden (ebd. 236). Neben die vermehrte Verwendung von Energielinien zur Steigerung der Dynamik der Ge-schichten trat „eine weitere Darstellungsform, die sich zu einem entscheidenden Markenzeichen des modernen Manga entwickeln sollte: die subjektive Energielinie, die anstelle der eigentlichen Hintergrunddarstellung tritt und Bewegung somit nicht mehr objektiv in Relation zu einem statischen Hintergrund setzt, sondern aus der Sicht des dargestellten Handlungsträgers subjektiv erfahrbar macht [...].“ Laut-malereien wurden „nun in erster Linie als Bestandteile der bildlichen Ebene wahr-genommen“. [...]

Lange (filmische) Sequenzen von Rahmen, die in vielen Fällen gänzlich oh-ne eioh-nen Mitteilungstext auskommen, dieoh-nen zur Beschreibung komplexer Vorgänge und fangen durch die Konzentration auf einzelne Handlungsau-genblicke [...] oder durch die Verwendung einer fließenden Kameraführung [...] verschiedene Aspekte einer einzelnen Szene ein, wodurch erstmalig der Eindruck einer überwiegend bilddominanten epischen Erzählweise vermit-telt wird. (Ebd. 239f.).

Ab den 1960er Jahren entstanden Geschichten für Jungen, Jugendliche und Er-wachsene, die die „beiden etablierten Erzählformen sutôrî manga und gekiga“ mitei-nander verbanden (Köhn 2005: 244).

Die Dominanz überwiegend aktionsbetonter Geschichten führte zur Aus-bildung einer Vielzahl unterschiedlicher Genres. Neben zahlreichen Histo-riendramen [...] oder Mysterygeschichten [...] bestimmten bald schon tempo-reiche SF- und Horrorgeschichten [...] das Geschehen. (Ebd.: 245). Auffällig bei all diesen Geschichten ist die Verwendung einer weitgehend klassischen Rahmengestaltung unter Einsatz der aus dem gekiga entlehnten Elemente zur Dramaturgiesteigerung [...]. (Ebd.: 246). Selbst in reinen Gag- und Nonsensgeschichten [...], die durch groteske Übertreibung und Verzerrung gerade die vertraute Wirklichkeitserfahrung und Wertvorstellung der Leser ad absurdum führen wollten, hatten sich die Darstellungskonventionen der fusionierten Erzählformen sutôrî manga und gekiga soweit durchsetzen kön-nen, daß nicht mehr der Inhalt die Form bestimmte, sondern das Medium [...] für die Gestaltung der Geschichte allein verantwortlich war [...]. (Ebd.:

246f.).

Den Comics für Jungen (shōnen manga) und für junge Männer folgten gegen Ende der 1960er Jahre die sogenannten Mädchencomics (shōjo manga, ebd.: 247).

Im Gegensatz zu ihren männlichen „Vorgängern“ thematisierte die junge Zeichnerinnengeneration zum ersten Mal das psychische Innenleben der Trägerinnen der shōjo-Kultur. Im Mittelpunkt stand hierbei meist die Adoles-zenzphase der Protagonistinnen, die als seelisches Moratorium empfunden wird, eine Zeit also, in der das völlige Verschließen vor der Außenwelt einen

wesentlichen Teil des unausweichlichen Reifungs- und Selbstfindungspro-zesses darstellt. [...] Im Gegensatz zu einer aktionsbetonten, von einem Höhepunkt zum anderen unaufhaltsam weitereilenden Handlung, die im Falle der Geschichten für Jungen und Jugendliche gerade auf den Einsatz dynamiksteigernder narrativer Elemente setzte, mußten nun für die Innen-schau der Protagonistinnen, die häufig zu einem völligen Stillstand des Handlungsverlaufs in einer Szene führte, neue konventionalisierte Gestal-tungsmittel gefunden werden, um das Dynamikdefizit während des Lese-prozesses durch psychologische Tiefe zu kompensieren. (Ebd.: 251).

Stilbildend wurden

die sehr feminin wirkenden, großgewachsenen schlanken und wohlpropor-tionierten Figuren mit ihren langen Beinen, wallenden, sich ornamentartig verschlingenden Haaren und den übergroßen runden Augen mit ihren lan-gen Wimpern, in denen Sternchen oder weiße Punkte als Ausdruck der psy-chischen Befindlichkeit glitzern. [...] Unterstrichen wird die jeweilige Ge-mütsverfassung zudem noch durch teilweise unmotiviert wirkende Hinter-grundornamentik im Blumendekor, die im Wechselspiel mit den Augen als Spiegelbild des Charakters bzw. der Seele ikonographisch kodiert sind [...].

(Ebd.: 252).

Das Motiv der Homoerotik bildete in den Mädchencomics ein eigenes Subgenre (shōnen-ai):

Aber es geht dabei nicht in erster Linie um eine Enttabuisierung von Sexua-lität und schon gar nicht HomosexuaSexua-lität, sondern um eine Auflösung der Geschlechterdifferenz in eine Androgynität, die den Figuren wie der Leserin erlaubt, sich im anderen narzißstisch [sic!] zu spiegeln. Der Körper dient vor allem als Metapher der Innerlichkeit, und über die erotische Begegnung der Knaben wird im Medium des Manga mit neuen Modellen für zwischen-menschliche Beziehungen experimentiert. [...] Die unterschwellige Erotik, die sich hinter der Fassade des Bildungsromans verbirgt, sollte in den acht-ziger Jahren dann Ansatzpunkte für die pornographischen Parodien der Fanzine-Szene und für den weiblichen Soft-Porno à la Ladies’ Comic [eroti-sche Comics für Frauen] bieten. (Berndt 1998: 40).

Abb. 12: Der japanische Comic „Nihon keizai nyūmon“ wurde 1989 unter dem Titel

„Japan GmbH. Eine Einführung in die japanische Wirtschaft“ vom Bonner Rentrop Verlag herausgegeben und gilt als eine der ersten Manga-Übersetzungen in Deutschland.

In den 1980er und 1990er kam es zu einer weiteren Modifikation, „die bis in die heutige Zeit weitgehend ihre Gültigkeit bewahrt hat,“ denn eine „neue Generation von Zeichnern entzog sich mit ihren Werken bewußt der gängigen Dar-stellungspraxis,“ beeinflusst u.a. durch „die zunehmende Vernetzung weiter Berei-che der visuellen Kultur“ (Animationsfilme, Computerspiele, interaktive Manga im Internet, Köhn 2005: 256f.). Mit dem Erfolg des Comics „Nihon keizai nyūmon“

von Shōtarō Ishinomori, der 1986 im Verlag einer Wirtschaftszeitung erschien,

„entwickelte sich der fiktionale Sach- bzw. Bildungs-Comic zu einem neuen

Subgenre“ (Abb. 12; Berndt 1998: 57). Zusätzlich bereichert eine aktive Fanzine-Szene den Manga-Markt:

In kleinen Zirkeln werden auf nichtkommerzielle Weise Manga gezeichnet, gedruckt und ausgetauscht. [...] Die „Dōjinshi“-Manga unterteilen sich in zwei Gruppen: Originalschöpfungen einerseits und Parodien anderseits. [...]

Der „Lolikon“, der Kinder- wie Mädchenmanga parodierte, entstand in die-ser Szene, und in seinem Gefolge stabilisierte sich dort um 1991 der „Schö-ne-Mädchen-Comic“ [Bishōjo Comic] [...]. (Ebd.: 56).

„Ero manga/ero gekiga“:

Der erotisch-pornographische Comic – welcher Spielart auch immer – über-nimmt seit den siebziger Jahren das Image des Unkonventionellen, das zu-vor dem Manga insgesamt, besonders aber dem „Gekiga“ eignete. Mit seiner Betonung des Schmutzigen konterkariert er die Sauberkeit der sozio-kulturellen Ordnung und schafft eine unsinnige Gegenwelt zum Leistungs-druck in Firma, Schule und Familie. Folglich waren derartige Manga seit den späten sechziger Jahren immer wieder Eingriffen durch die Zensur ausge-setzt. (Berndt 1998: 54-56).

„Da nach dem Wortlaut des betreffenden Gesetzes keine Geschlechtsteile von erwachsenen Menschen gezeigt werden durften, war es kein Problem, wenn sich ein junges Schulmädchen, das vor der Pubertät steht und noch keine Scham-behaarung hat, mit einem Tentakel von einem Roboter/Außerirdischen/Dämon vergnügt (‚tentacle porn‘).“ (Weiß; Wüllner 2011: 118). „Schulmädchen in Matro-senuniform“ sind das „Aushängeschild für ein weit verbreitetes Phänomen:

Lolicon. Dieser ist wiederum die Kurzform für ‚Lolitakomplex‘ (nach Vladimir Nabokovs Roman ‚Lolita‘) und einer der Hauptgründe, warum Manga und Anime beim westlichen Publikum unter Generalverdacht des pornografischen Materials stehen.“ (Ebd., vgl. Berndt 1998: 52). „Besonders einfallsreich ist allerdings das Auslassen von grafischen Details an bestimmten Körperstellen oder das symbo-lische Verdecken selbiger [z.B. mit Gemüse, Obst oder Blumen].“ (Weiß; Wüllner 2011: 117, vgl. Berndt 1998: 54).

Ein weiterer Trick, „um der gesetzlichen Einschränkung aus dem Weg zu ge-hen“, ist die hochgerutschte oder quasi durchsichtige Unterwäsche,

die ohnehin schon einen sexuellen Reiz auf männliche Japaner ausübt und in manchen Fällen so gut wie gar nichts mehr verdeckt. Unterwäsche wird erst seit der Öffnung des Landes zur westlichen Welt (USA) getragen, da es meist unüblich war, außer einem Fundoshi (Lendenschurz) unter Kimonos Unterwäsche zu tragen. [...] Der sinnliche Reiz von Unterwäsche steht in ei-ner sich fortführenden Linie von Motiven in Manga. Stichwort Panty Shots:

In Manga wird häufig ganz nebenbei bei einem kurzen Lüftchen oder in

ähnlichen Situationen der Slip eines Mädchen unter seinem hochfliegenden Rock gezeigt. (Weiß, Wüllner 2011: 117).

Manche männlichen Figuren bekommen dabei Nasenbluten, in japanischen Manga und Anime (Zeichentrickfilme) das Zeichen für sexuelle Erregung, das sich bis zur Blutfontäne steigern kann (Abb. 13).28

Um das Befinden von Figuren und ihre Gefühle sichtbar zu machen, ver-wenden Mangazeichner eine eigene Symbolsprache, die sich vom westlichen Zeichencode unterscheidet und mit einem besonderen Zeichenmodus „Su-per-Deformed“ (SD) hervorgehoben wird. Die stilisierte Mimik der Figuren erinnert dabei an die asiatische Form der Emoticons. (Brunner 2010: 107).

Wenn japanische Manga und Anime vom Ausland übernommen werden, kann es ebenfalls zur Zensur kommen. Ein Beispiel aus den USA vom Ende der 1990er Jahre: Die Serie Pokémon sollte in Japan auch für ein älteres Publikum attraktiv sein. Und so zeigten die weiblichen Figuren mitunter viel Haut und Oberweite. In den USA wurden für die Manga-Veröffentlichung „kurze Röcke verlängert, große Brüste verkleinert und Dialogpassagen verändert, um die Serie einer jüngeren Ziel-gruppe anzupassen“ (Brunner 2010: 86, vgl. a. Schmidt 2006). Für die US-Anime-Version wurden u.a. Bikini-Szenen herausgeschnitten (Kurisuteian 2009). Von Fall zu Fall greifen deutsche Verlage und Sender nicht auf das japanische Originalmate-rial, sondern auf US-Vorlagen zurück. Daher können auch die deutschen Überset-zungen jene Zensuren enthalten. Zudem retuschier(t)en deutsche Verlage in eini-gen Fällen Hakenkreuze aus Angst vor strafrechtlicher Verfolgung und um Miss-verständnissen vorzubeugen, auch solche ohne NS-Bezug (Palandt 2010: 244-248;

vgl. Schmidt 2006, Brunner 2010: 89).

28 Weitere typische japanische Zustandszeichen sind z.B. ein großer Tropfen auf der Stirn für Verle-genheit, ein Kreuz auf der Stirn für Wut, Spiralaugen für Erschöpfung.

Abb. 13: Nasenbluten als Zeichen sexueller Erregung, hier zum Beispiel in der Übersetzung der japanischen Comic-Serie „Dragon Ball“ (japanische Leserichtung:

von rechts nach links, Toriyama 1997: 56-57).

Japanische Comics werden entgegen der westlichen Seitenreihenfolge quasi von

„hinten“ nach „vorne“ und von rechts oben nach links unten gelesen. Um den westlichen Lesegewohnheiten zu entsprechen wurden und werden bei machen Manga-Übersetzungen die Seiten gespiegelt. Sofern die Bilder nicht korrigiert wer-den, kann das entsprechende Konsequenzen nach sich ziehen. Ein Beispiel: Titel-gebend für Osamu Tezukas mehrbändige Manga-Reihe „Adolf“29 sind drei Figuren mit diesem Vornamen: zwei japanische Jungen, der eine Sohn jüdischer Eltern, der andere der eines Nazi-Karrierediplomaten, sowie Adolf Hitler. In der gespiegelten US-Version (Tezuka 1995-1996) werden die linken statt die rechten Arme zum

29 Erstveröffentlichung 1983. Sammelbände: Tezuka 1985.

Hitlergruß gehoben und die Hakenkreuzarmbinden am rechten statt am linken Arm getragen (von wenigen Bildausnahmen abgesehen). Auch die deutsche Fas-sung (Tezuka 2005-2007) wird von vorne nach hinten, von links oben nach rechts unten gelesen, aber durch entsprechende Bearbeitung konnten Fehler dieser Art vermieden werden.

Angesichts all dieser Umstände wird deutlich: Wer sich näher mit japanischen Comics beschäftigen will, kann sich nicht auf die Übersetzungen verlassen, son-dern muss sie mit den Originalveröffentlichungen vergleichen. Wobei die Print-veröffentlichungen nicht immer für sich alleine stehen: „Realistisch betrachtet, ist der Manga als ganzes in erster Linie eine Industrie.“ (Berndt 1998: 5). Die Produk-tion in Japan geht Jahr für Jahr in die Milliarden, von Magazinen bis hin zu Publi-kationen vom Umfang eines Telefonbuchs. Doch „Manga und Anime bilden einen Medienverbund, der wiederum Teil einer Vermarktungskette ist. Ein Großteil der Gewinne wird nicht mit gedruckten Mangageschichten oder Anime-Produktionen, sondern durch Merchandise-Artikel und Lizenzprodukte erwirtschaftet.“ (Brunner 2010: 77-78). Hierzulande hatte diese „Industrie“ kulturelle Auswirkungen:

In Deutschland interessieren sich viele Manga-Fans nicht nur für Anime und Manga. Viele setzen sich ebenfalls intensiv mit der japanischen Kultur auseinander. [...] Im Jugendkulturellen Bereich lässt sich derzeit eine regel-rechte Japan-Mode ausmachen. Japanische Musik (J-Pop und Visual Kei), japanisches Essen (z.B. Sushi), Cosplay [costume play], Karaoke [...], japani-sche Computerspiele [...], japanijapani-sche Mode [...], etc. [...]. (Brunner 2010: 95).

Zurück zum Ausgangspunkt. Im Gegensatz zum japanischen Manga-Begriff über-setzen viele FachautorInnen, auf den westlichen Kulturraum Bezug nehmend, Manga schlicht als japanische Comics, und machen es sich dabei zu einfach:

Da sich inzwischen aber auch in anderen Ländern Zeichner am japanischen Manga-Vorbild orientieren, ist das Kriterium der Herkunft nicht mehr aus-sagekräftig genug. In der Folge werden auch jene Werke als „Manga“ be-zeichnet, die der japanischen Zeichentradition stilistisch zugeordnet werden können – unabhängig von Produktionsort oder Herkunft des Zeichners.

Die Bezeichnung als „Manga“ hängt also im westlichen Raum derzeit mit der Zuordnung eines Werkes zur japanischen Zeichentradition zusammen, wobei diese Zuordnung eine subjektive ist, denn die Stilistik von Manga ist breit gefächert und überschneidet sich mit der Stilistik anderer Comic-Traditionen. (Brunner 2010: 12).

So oder so sind Comics gemeint. Daher täuschen die Buch- und Veranstaltungsti-tel „Comics und Mangas“ eine Abgrenzung zwischen zwei Kunstformen vor, die in Wirklichkeit eine sind: Comic. „Für Comics, zu denen auch Manga aller Art zäh-len, hat sich inzwischen auch in Japan der Anglizismus eingebürgert. Paradoxer-weise halten die Europäer an dem Wort Manga fest.“ (Koyama-Richard 2008: 7).

Im Dokument Visuelle Medien im DaF-Unterricht (Seite 120-128)