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Comics versus Graphic Novels

Im Dokument Visuelle Medien im DaF-Unterricht (Seite 128-134)

1 Was ist ein Comic?

5 Comics versus Graphic Novels

Abb. 14: Titelblatt des sechsten „Was sind Graphic Novels?“-Folders (2011) von Sascha Hommer und die erste Seite des Comics von Arne Bellstorf. ( graphic-novel.info 24.10.2011, zit. 20.12.2013).

Die erste Ausgabe dieser Folder-Reihe entstand 2008 als Ergebnis der Zusammen-arbeit der Verlage Avant, Carlsen, Edition 52, Fischer und Reprodukt (Giesa 2008). Seitdem werden sie als „Orientierungshilfe“ mit Titel-Empfehlungen der beteiligten Verlage in Comic- und Buchhandlungen ausgelegt. Zusammen mit dem Folder soll auch ihre Website www.graphic-novel.info „Graphic Novels/Comics einem uninformierten aber interessierten Lese- u. Buchhändlerpublikum näher bringen.“ (Ebd.). Neben Hinweisen auf Neuerscheinungen, Veranstaltungen und Medienberichten werden dem „Buchhandel/Vertrieb“ dort verkaufsfördernde Maßnahmen vorgeschlagen, z.B. diese:

Es gibt mehrere Möglichkeiten, Graphic Novels in der Buchhandlung zu präsentieren. Am Besten ist es, ein eigenes Regal für Graphic Novels und verwandte andere Comics zu installieren. [...] Graphic Novels lassen sich vor allem auch an Nicht-ComicleserInnen verkaufen, ein einfaches Einsortieren in die Comicabteilung kann deshalb kontraproduktiv sein. („Warum soll ich in der Comicabteilung schauen, ich lese keine Comics!“).33

Entsprechend kennzeichneten die Verlage ihre zuvor als „Comics“ angebotenen Bildgeschichten durch „Graphic Novel“-Aufkleber, dann Aufdrucke, und verkauf-ten diese laut VerlagssprecherInnen durch die neue Bezeichnung viel besser.34 Die Marketing-Aktion35 führte zu Trittbrettfahrern, d.h. auch andere Verlage bieten seit dem Comics als „Graphic Novel“ an.

Auf der Graphic Novel-Website wird der Begriff auf die Comic-Zeichner-Legende Will Eisner zurückgeführt, der, so die AutorInnen, „damit herausstellen [wollte], dass sein Comic als Literatur verstanden werden soll und die Geschichten sich explizit an ein erwachsenes Lesepublikum richten.“36 Entsprechend steht in den Foldern, Graphic Novels wären Comics, die sich „eher an Erwachsene rich-ten“.37 Doch im Oktober 2008 verkündete ein Text auf der Graphic Novel-Website: „Vermehrt erscheinen Graphic Novels, die sich nicht primär an ein er-wachsenes Lesepublikum richten“,38 gefolgt von einigen Titeln.39 Ein Widerspruch, der die Verlage nicht zu kümmern braucht, denn ihre Werbung soll und muss kei-ne konkreten Bedeutungsinhalte liefern, sondern verkaufsfördernde Vorstellungen:

„Eine eindeutige comicwissenschaftliche Definition der Graphic Novel gibt es bis heute nicht. Die Meinungen in der Fachpresse gehen auseinander. Schon der un-glückliche Oberbegriff ‚Comic‘ (denn ‚komisch‘ sind nun wahrlich nicht alle Co-mics) ist nicht einheitlich definiert und trotzdem hat ein jeder eine Vorstellung davon, was ein Comic ist.“40

Eine Vorstellung davon? Graphic Novel ist keine urheberrechtlich geschützte Bezeichnung. Jeder Verlag kann seine Comics als Graphic Novels anbieten. Und

33 Vgl. www.graphic-novel.info/ ?page_id=3414.

34 U.a. auf Podiumsgesprächen verschiedener Comic-Tagungen und -Festivals.

35 Verlagsvertreter zur Graphic Novel 2008: „Für Carlsen stand laut Ralf Keiser eindeutig eine ‚Mar-ketingüberlegung‘ im Vordergrund, als man sich dort für den Begriff der Graphic Novel entschied.“

„Auch der Verlagsleiter von Reprodukt, Dirk Rehm, sieht in der Graphic Novel hauptsächlich ein

‚Marketingtool, um eine neue Leserschaft zu finden‘.“

36 Erste Schritte. Was sind Graphic Novels? http://www.graphic-novel.info/?page_id=3032.

37 Folder Ausgabe 3 (2009) bis 5 (2010), jeweils Seite 4. Im Folder Ausgabe 1 (2008) und 2 (2009) steht jeweils auf Seite 2: „Graphic Novels sind Comics mit Themen, die sich nicht mehr nur an Kin-der und Jugendliche, sonKin-dern an erwachsene Leser richten.“

38 „Der Krieg der Knöpfe” als Comicadaption 2008.

39 Auch im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur spricht man von Graphic Novels für Kinder.

Beispiel Felix Giesa: „Die kinderliterarische Graphic Novel und der kinderliterarische Comic profilie-ren sich ästhetisch anspruchsvoll und inhaltlich wie thematisch am Kind ausgerichtet erfolgreich neben dem erzählenden Kinderbuch.“ Giesa 2012: 15.

40 Erste Schritte. Was sind Graphic Novels? http://www.graphic-novel.info/?page_id=3032.

das ist der Fall bei Comics, die sich an Erwachsene und/oder Kinder und Jugend-liche richten, eine durchgehende Geschichte oder eine Sammlung von Kurz- oder Fortsetzungsgeschichten beinhalten, aus allen Genres kommen (von utopischen Fantasy-Comics mit SuperheldInnen bis hin zu geschichtsorientierten Auto-/Bio-graphien und faktenorientierten Sachcomics), weniger oder gleichviel oder mehr Seiten als die klassischen Comic-Alben á la „Tim und Struppi“ umfassen, mit Soft- oder Hardcover ausgestattet sind. Offensichtlich gibt es kein substanzielles verbin-dendes „Sein“, keinen gemeinsamen Nenner aller dieser selbsternannten Graphic Novels. Einzig Hefte, Comics mit Klammerbindung, sind meines Wissens wohl noch nicht als Graphic Novels angepriesen worden.41

Sprachliche Bezeichnungen und Beschreibungen gehören zu den üblichen werblichen Gestaltungsmaßahmen der Produkt-Positionierung. In den 1980er Jah-ren verkündete die Firma Marlboro, ihre Zigarette habe den „Geschmack von Freiheit und Abenteuer“. Wie oder nach was „schmeckt“ Freiheit und Abenteuer konkret? Natürlich haben Freiheit und Abenteuer keinen Geschmack. Die Aufgabe der Werbung war es lediglich, positive Assoziationen zu wecken, die zum Kauf der Marlboro-Zigaretten führen sollten. Dirk Rehm: „Der Begriff hat sich erstaunlich schnell durchgesetzt – innerhalb von wenigen Jahren. Das Label ‚Graphic Novel‘

ist für Verlage das unverbrauchte Etikett, das ihnen die Chance bietet, den Comic zurück in den Buchhandel zu bringen.“ (Rehm 2012: 201).

Die Marketing-Aktion war so erfolgreich, dass schließlich auch die (Fach-) Presse über bzw. von Graphic Novels schrieb. Doch Werbung und Journalismus haben unterschiedliche Aufgaben und Regeln. Was in der Werbung legitim ist, kann im Journalismus illegitim sein. In den Landespressegesetzen „wird der Presse eine ‚öffentliche Aufgabe‘ zugesprochen, ‚wenn sie in Angelegenheiten von öffent-lichem Interesse Nachrichten beschafft und verbreitet, Stellung nimmt, Kritik übt oder auf andere Weise an der Meinungsbildung mitwirkt‘.“ (Noelle-Neumann, Schulz, Wilke 1994: 67). Zur Erfüllung dieser Aufgabe hat die Presse Sonderrechte.

Diese sind an besondere Pflichten gebunden, wie die Sorgfaltspflicht, „die Journa-listen anhält, alle Nachrichten vor ihrer Verbreitung mit der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt auf Wahrheit, Inhalt und Herkunft zu überprüfen.“ (Ebd.). In der Praxis müssten Werbetexte kritisch hinterfragt und Marketing-Labels als das vorgestellt werden, was sie sind. Ein Blick in die (Fach-)Presse zeigt, das im Ge-genteil die Bezeichnung Graphic Novel auch dort ein buntes Eigenleben führt.

Im gleichen Jahr, als die „Was sind Graphic Novels?“-Folder zum ersten Mal verteilt wurden, nahm sich Klaus Schikowski im Comic-Fachmagazin „Comixene“

der Graphic Novel an. Er schrieb: „Die Graphic Novel ist auch kein (sic!) neue Kunstform, die gleichberechtigt neben dem Alten steht – sie ist und bleibt ein Genre.“ (Schikowski 2008: 20). Er diskutierte die verschiedenen Graphic Novel-Auffassungen und kam zum Ergebnis, „was heute in Deutschland gemeinhin unter einer Graphic Novel verstanden wird, ist im Grunde genommen unter dem Titel

41 Wie gesagt, Sammelausgaben allerdings schon.

Comic-Roman schon seit vielen Jahren bekannt.“ (Ebd.: 22). Angesichts der Viel-falt an Themen und Erscheinungsformen „wird es allerdings auch ein wenig prob-lematisch mit dem Begriff der Graphic Novel und für Außenstehende beinah un-durchschaubar.“ (Ebd.: 23). Bis zum Schluss blieb die Frage offen: „Doch wie lässt sich die Spreu vom Weizen trennen? Wie ist zu erkennen, ob es sich denn tatsäch-lich um eine Graphic Novel handelt? Muss man es überhaupt? Vielleicht liegt es auch einfach im Auge des Betrachters, ob der jeweilige Band dem Anspruch einer Graphic Novel genügt.“ (Ebd.).

Vier Jahre darauf thematisierte die „Comixene“ das Für und Wider des Gat-tungsbegriffs „Graphic Novel“. Martin Jurgeit vertrat die Pro-Seite:

Der Begriff konnte sich lange nicht durchsetzen, ist schwammig, wird hier-zulande oft falsch verstanden – aber geschenkt. In einer konzertierten Akti-on gelang es den Verlagen, die Graphic Novel als etwas völlig Neues bei Zielgruppen zu etablieren, die zuvor nie in einen Comic geschaut hätten.

(Jurgeit 2012: 40).

Während für Martin Jurgeit im Ergebnis „der Zweck – gerade im vorliegenden Fall – ausdrücklich die Mittel heiligt“ (ebd.), argumentierte Thomas Hausmanninger als Vertreter der Kontra-Seite:

Das Etikett „Graphic Novel“ ist lediglich ein Marketing-Instrument. Hinter dem Begriff hat sich nie ein klar zu umschreibendes Phänomen verborgen.

Schon Will Eisners Bemerkungen in Comics and Sequential Art sind diffus und machen lediglich deutlich, dass er mit dem Begriff „Graphic Novel“ ein erwachsenes Publikum gewinnen möchte. Auch dort dient er so letztlich dem Marketing. Das Marketing bedingt jedoch eine problematische Spal-tung zwischen Comics und Graphic Novels. Es zielt auf den Zugewinn von Publikum, das keine oder kaum Comics liest, und will neben dem Buchhan-del dazu auch das Feuilleton erobern. Dazu bedient es sich einer weitgehend überholten beziehungsweise nur noch wenig in gesellschaftlichen Groß-gruppen (Milieus) greifbaren Zweiteilung der Kultur: der Differenzierung zwischen „Hochkultur“ und „Trivialität“ oder „Massenkultur“. (Hausmann-inger 2012: 40, Abb. 15).

Die Bezeichnung eignet sich auch nicht als Synonym für Comic-Roman oder Co-mic-Buch, weil sie dann falsche Voraussetzungen vortäuschen würde. Wie gesagt werden als Graphic Novels auch Sammelbände von Fortsetzungsgeschichten an-geboten, die vorab einzeln in Heften veröffentlicht wurden. Diese sogenannten Graphic Novels weisen aber eine ganz andere inhaltliche Struktur auf als bei einer Geschichte, die frei von den Bedingungen einer Fortsetzungsveröffentlichung (Sei-ten-Begrenzungen, Cliffhanger als Kaufanreiz für das Folgeheft, etc.) von Anfang an für die Veröffentlichung im Ganzen als Roman oder Buch geschaffen wurde.

Abb. 15: Parodie auf den „Was sind Graphic Novels?“-Folder: „Was sind Krakelko-miks?“-Folder von Armin Parr, Bob Hack, Bobrovic, Doomfried, Neffs und Zapf, der zum Comic-Salon Erlangen 2012 erschien (Parr 2012).

Tatsächlich scheinen Comics durch das Graphic Novel-Label eine höhere Wer-tigkeit zu bekommen und damit einen höheren Kaufanreiz und einen höheren Nachrichtenwert.42 Die Folge der inflationären, überwiegend unreflektierten Ver-wendung der Label-Bezeichnung in den Medien führte zu einem Chaos an Vorstel-lungen über Comics und Graphic Novels (siehe Kapitelanfang), und so zum

42 Einige sogenannte Graphic Novels wurden vor Einführung des Labels ja noch mit der Bezeich-nung Comic beworben und besprochen. Einige AutorInnen sind auf den kommerziell-erfolgreichen Zug aufgesprungen und veröffentlichten Sach- und Zeichen-Bücher über Comics als Bücher über Graphic Novels, mit dem Hinweis, dass man nicht genau sagen könne, was genau eine Graphic Novel wäre.

genteil von Aufklärung und Klarheit. Für Wissenschaft und Forschung, und damit auch für akademische Arbeiten gilt: „Begriffe sind Mittel, mit deren Hilfe wir das Chaos von Eindrücken sprachlich ordnen.“ (Friedrichs 1985: 73). Doch mittlerwei-le taucht die Label-Bezeichnung auch in akademischen Arbeiten als Synonym für Comics in allen möglichen Bezügen auf – offensichtlich von den KorrektorInnen und der wissenschaftlichen Öffentlichkeit unbeanstandet. Das Marketing-Label im Rang wissenschaftlicher Begrifflichkeiten? Ein Umstand, der die Notwendigkeit einer eigenständigen Comicwissenschaft um so eindringlicher deutlich macht.

Was ist also davon zu halten, wenn von „Comics und Graphic Novels“ die Rede ist? Seit ein paar Jahren kündigt der Fernsehsender Sat.1 im Fernsehpro-gramm und auf seiner Homepage43 seine Dienstagabend-Film-Highlights als

„FilmFilme“ an. Trotzdem gibt es im Filmhandel- und -verleih deswegen weder ein eigenes FilmFilm-Fach, noch ein neues FilmFilm-Genre und daher auch keine Abhandlung über dieses oder jenes im FilmFilm. Was in Bezug auf Filme undenk-bar ist, nämlich von „Filme und FilmFilme“ zu sprechen und zu schreiben, wenn es um Comics geht, ist es gang und gäbe. Im Bereich der Werbung mag die Ver-wendung des Marketing-Labels, wie andere verkaufsfördernde Maßnahmen auch, legitim sein. Kritik an der darüberhinausgehenden Verwendung gibt es, auch wenn sie sich bisher kaum Gehör schaffen konnte.

Im Dokument Visuelle Medien im DaF-Unterricht (Seite 128-134)