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Bücher einer Ausstellung

Ein Ausstellungskonzept als Einblick in die Bibliothek des Jüdischen Museums Wien

2. Bücher einer Ausstellung

Skizzen für ein Ausstellungskonzept zur Geschichte der Bibliothek des Jüdischen Museums Wien

Die schon erwähnten »Phantomschmerzen« beziehen sich auf die Tatsa-che, dass sich heute nur noch eine Inkunabel und fünf Handschriften aus dem Bestand der alten IKG-Bibliothek, zudem nur noch ein kleines Fragment des Standortkatalogs, in der Bibliothek befinden. Wie lässt sich nun diese Biblio-thek und unser heutiger Umgang mit diesen Phantomschmerzen, mit den sowohl gestohlenen als auch in gewisser Weise »adoptieren« Büchern, in einer Ausstellung darstellen? Wie stellt man eine Bibliothek dar, die vielmehr etwas wie eine »Ansammlung« denn eine »Sammlung« bzw. das Gegenteil der »totalen Bibliothek«, die Jorge Luis Borges in Die Bibliothek von Babel11 beschrieben und Umberto Eco in Der Name der Rose12 aufgegriffen hat, ist?

Das hier flüchtig skizzierte Konzept setzt sich aus wenigen Stationen zu-sammen, die jeweils aus nur einem Objekt, einer Objektgruppe oder einer Installation bestehen und wiederum zu drei größeren Kapiteln zusammenge-fasst werden:

1. Die alte und die neue Bibliothek 2. Lostlibraries

3. Über die Herkunft einer Ansammlung 2.1. Die alte und die neue Bibliothek

Die Exposition der Ausstellung Die alte und die neue Bibliothek umfasst nur eine Station und soll den Unterschied zwischen der heutigen Bibliothek des Jüdischen Museums Wien und der alten IKG-Bibliothek durch einen minimalistischen Buchvergleich symbolisieren. Die Station lautet:

2.1.1. Die beiden Bibliotheken der 37.000 Bände

In diesem Ausstellungsraum sehen wir zwei Vitrinen mit jeweils 37 Bän-den in einem Regal. Sie symbolisieren die irritierend ähnliche Bestandsgröße der beiden Bibliotheken. Während Moses Rath den Bestand der alten IKG-Bibliothek 1945 retrospektiv mit insgesamt knapp 37.000 Bänden13 angab, kommen wir heute im Jüdischen Museum ebenfalls auf eine ähnliche Zahl.

Die von der IKG an uns per Dauerleihgabe überantworteten Bände machen dabei ca. 26.250 aus, dabei sind sie jedoch alles andere als identisch mit dem

11 Jorge Luis Borges: Die Bibliothek von Babel. In: Ders.: Fiktionen. Frankfurt/M.:

Fischer 1994, S. 67–76.

12 Umberto Eco: Der Name der Rose. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1986.

13 33.800 Bände und 3.000 Zeitschriften-Bände. Vgl. Zechner: Die Bibliothek der Israelitischen Kultusgemeinde (Anm. 9).

Bestand der alten Bibliothek der Kultusgemeinde von vor 1938. Gerade hochgerechnete fünf Prozent des Altbestandes, das errechneten Elisabet Torggler und Domagoj Akrap, befinden sich heute noch in unserer Biblio-thek.14

Abb. 34: Die Aufgabe des Judentums

14 Diese Rechnung ergab ein Vergleich zwischen dem Fragment des noch erhaltenen Standortkataloges der Bibliothek aus der Zeit vor 1938 mit den darin verzeichne-ten Büchern, die sich heute noch in der Bibliothek des Jüdischen Museums befin-den. Die Hochrechnung ist daher ungenau und gibt nur einen ersten Anhaltspunkt.

Neben den jeweils 37 Büchern zeigen die beiden Vitrinen auch jeweils ei-nen aufgeschlageei-nen Band. Diese beiden Bände charakterisieren die prinzipi-elle Sammlungsrichtung der beiden Bibliotheken. Für die alte IKG-Bibliothek habe ich Die Aufgabe des Judentums15 von Lion Feuchtwanger und Arnold Zweig aus dem Jahr 1933 ausgesucht, denn auch wenn die alte IKG-Bibliothek zahlreiche wertvolle historische Schätze wie Inkunabeln und Handschriften besaß, strich Bernhard Wachstein besonders den Bestand seit der Aufklärung und die Gegenwartsbezogenheit der alten IKG-Bibliothek heraus. 1906 schrieb er:

Ein Ausgangspunkt für eine praktisch orientierende Übersicht des Bü-cherbestandes der Gemeindebibliothek kann gewonnen werden, wenn man von den Bewegungen und Bestrebungen des ausgehenden XVIII.

und XIX. Jahrhunderts ausgeht, die ja auch die Existenzberechtigung moderner jüdischer Bibliotheken in sich enthalten. Das alte Schrifttum wird also nicht Ausgangspunkt, sondern Endstation sein.16

Abb. 35: Rundstempel der Bibliothek der Israelitischen Kultusgemeinde

15 Lion Feuchtwanger, Arnold Zweig: Die Aufgabe des Judentums. Paris: Verlag des Europäischen Merkur 1933. Bibliothek des JMW, MA 1605 – Ex. 2, Sammlung IKG.

16 Wachstein: Die Bibliothek der jüdischen Gemeinde in Wien (Anm. 6), S. 705.

Abb. 36: Stempel des Sicherheits-Hauptamtes

Wachstein wollte in seiner Bibliothek ein radikal aufgeklärtes und zu-kunftsgerichtetes Judentum vermitteln. Dafür steht die 1933 im Exil in Paris herausgegebene Schrift von Zweig und Feuchtwanger. Dieses Buch stammt aus dem IKG-Altbestand, wie sich an den Rundstempeln der »Cultusgemein-de« erkennen lässt (Abb. 35), und wurde möglicherweise wegen seiner Ak-tualität von der Bibliothek des »Sicherheits-Hauptamtes« der SS in Berlin abgestempelt (Abb. 36). Es erzählt also genau die zuvor kurz erwähnte Ver-schleppung der Bücher von Wien nach Berlin.

Auch für die heutige Bibliothek des Jüdischen Museums gilt, dass die neuen Publikationen im Mittelpunkt stehen. Doch die Mehrzahl dieser neuen Publikationen zum jüdischen Wien und ehemaligen Österreich, die wir

schwerpunktmäßig sammeln, spiegeln zwar das momentane Interesse wider, beziehen sich aber inhaltlich meist auf die Vergangenheit: auf die Zeit vor der Schoa, auf die Zeit während der Schoa, auf die Auswirkungen der Schoa.

Ein Buch, das die heutige Sammlungsrichtung gut symbolisiert, wäre bei-spielsweise Der Raub der Bücher17 von Evelyn Adunka. Es erschien 2002 im Czernin Verlag und bedeutete für Wien einen großen Schritt hin zu einem kritischeren Bewusstsein im Umgang mit der Geschichte der hiesigen Biblio-theken.

2.2. Lostlibraries

Nach dieser ersten Installation, die in der Filmdramaturgie einem set up entsprechen würde, wird auf die gestohlenen Bibliotheken eingegangen, deren angesammelte Überreste in unserer Museumsbibliothek heute den Schatten ihrer einstigen Größe repräsentieren. Die wichtigste davon ist die einstige Bibliothek der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (IKG-Bibliothek), doch finden sich da auch Bestände der Bibliothek der Israeli-tisch-Theologischen Lehranstalt und kleinerer Institutionen und Vereine.18 Um die Leere aber in ihrem vollen Umfang zu verstehen, die der nationalso-zialistische Bücherraub in den Wiener jüdischen Bibliotheken hinterlassen hat, ist es zudem wichtig, neben den geraubten Beständen die geraubten Bi-bliothekskataloge zu thematisieren. Insbesondere der gestohlene Katalog der IKG-Bibliothek ist ein Synonym für das Wissen, das zerschlagen wurde und dessen Wert in keinster Weise beziffert werden kann.

Moses Rath, Leiter der Bibliothek im Jahr 1938, schrieb retrospektiv über die hauptsächlich von Wachstein organisierte Katalogisierung: »[…] jedes Werk, jede Zeitschrift, sogar jede Abhandlung in einer Zeitschrift wurde nach 8–9 Gesichtspunkten ›beschrieben‹ und in die Katalog-Kartothek einge-reiht«.19 Und bereits 1932 hatte der Archivar der Kultusgemeinde, Saul Cha-jes (1884–1935), angemerkt:

Die Bibliothek der Wiener jüdischen Gemeinde ist jetzt nicht nur ein Mittelpunkt des geistigen jüdischen Lebens in Wien, sondern zu einem

17 Adunka: Der Raub der Bücher (Anm. 9).

18 Beispiele sind Bücher mit folgenden Stempeln: Akademische Verbindung Kadi-mah in Wien, Akademischer Verein »Gamala« Wien, Allg. Jüd. Arbeiter Biblio-thek Wien, Ältestenrat der Juden in Wien, ArbeiterbiblioBiblio-thek »B. Borochow« in Wien, Bet Hamed Hasside Bobow Wien, Beth ha-Midrasch Wien, Bibliothek des Spitals der Israelitischen Kultusgemeinde Wien – Wien XVIII. Währinger Gürtel 97, Eigentum des israelitischen Tempelvereins für den XIX. Bezirk, Verein »An-sche Dath wu zedek« – Wien XX. Traunfelsgasse 3, Zionisti»An-scher Jugendverband Wien Barak, Zentralstelle der Fürsorge für Kriegsflüchtlinge – Flüchtlingsbiblio-thek und Lesehalle, II Praterstr. 9.

19 Zechner: Die Bibliothek der Israelitischen Kultusgemeinde (Anm. 9), S. 83.

Zentrum der jüdischen Wissenschaft im Allgemeinen geworden. […]

Das System der Katalogisierung der Gemeinde-Bibliothek ist ein sol-ches, dass es als Muster für andere jüdische Bibliotheken gelte. Jeder Laie ist in der Lage sich in kürzester Zeit über alles fachgemäß zu orien-tieren. Wenn diese Kataloge einmal in Druck erscheinen werden, werden sie unserer Gemeinde Ehre verschaffen und der Wissenschaft einen gro-ßen Dienst erweisen.20

Doch vor 1938 wurde kaum noch etwas publiziert. Der wissenschaftliche Katalog, der aus 400.000 Karteikarten bestanden haben soll, wurde geraubt und tauchte nie wieder auf, weshalb er für eine heutige Bibliotheks-Ausstellung nicht mehr zur Verfügung steht. Ein existierendes Druckwerk hingegen, das eine Andeutung von den Beständen, den Katalogen und der Sammlungspolitik der alten IKG-Bibliothek gäbe, wären die Zuwachsver-zeichnisse der IKG-Bibliothek.21

20 Saul Chajes: Die Sammlungen der jüdischen Gemeinde in Wien. In: Jüdisches Jahrbuch für Österreich. Wien 5693 [1932/33], S. 116.

21 In unseren Beständen befinden sich die Verzeichnisse für die Jahre 1924–1935.

2.2.1. Zuwachsverzeichnisse der IKG-Bibliothek (1924–1935)

Abb. 37: Zuwachsverzeichnis 2, mit dem Buch »Juda verrecke«

Eine genauere Betrachtung der beiden noch vorhandenen Zuwachsver-zeichnis-Kompendien22 machte uns stutzig, denn in beiden Exemplaren fin-den sich mit rotem Buntstift ausgestrichene Werke von ähnlicher Thematik:

Zumeist sind es Werke, die die Not der Juden in Deutschland nach 1933 schildern, wie beispielsweise Juda verrecke. Ein Rabbiner im Konzentrati-onslager23 von Max Abraham aus dem Jahr 1934, oder The Persecution of the Jews in Germany,24 herausgegeben vom Joint Foreign Committee 1933.

Es finden sich aber auch Bücher darunter, die die Nähe von Judentum, Sozia-lismus bzw. der Sowjetunion thematisieren, wie Viktor Chajim Arlosoroffs Der Jüdische Volkssozialismus,25 Berlin 1919. Was diese Ausstreichungen bedeuten, ist nicht geklärt. Sie können ein Beweise-Sammeln und eine De-nunziation gegen die Sammlungstätigkeit der IKG sein, sie können aber auch eine nüchterne Dokumentation der Tatsache sein, dass gerade diese Bücher nach 1934 in der Wiener IKG-Bibliothek ausgeborgt, gelesen und nie wieder zurückgegeben wurden. In jedem Fall sind sie ein Zeugnis der bereits ange-sprochenen Gegenwartsbezogenheit des Sammlungskonzeptes dieser Biblio-thek und seiner intensiven Rezeption.

2.2.2. Der Verlust der wertvollen Schriften und ihr Verbleib

So heißt die zweite Station im Kapitel Lostlibraries. Wenn von der alten IKG-Bibliothek gesprochen wird, werden immer wieder 41 Inkunabeln und 625 Handschriften genannt, die die Bibliothek bis 1938 gesammelt und er-worben hat.26 Heute besitzt die IKG nur noch eine Inkunabel, nämlich ein Exemplar von Maimonides’ Mischne Tora, hergestellt bei Soncino im Jahre 1490,27 sowie fünf Handschriften. Eine dieser Handschriften28 ist eine

22 In den Jahren 1924 bis 1935 sind insgesamt sechs Zuwachsverzeichnisse für je-weils zwei Jahre erschienen.

23 Max Abraham: Juda verrecke. Ein Rabbiner im Konzentrationslager. Teplitz-Schönau 1934. Die alte Signatur lautet: M IX 1201, vgl. Zuwachsverzeichnis für die Jahre 1934 und 1935. Wien: Selbstverl. 1937, S. [3]. Bibliothek des JMW, RC 97 – Ex. 1, Sammlung IKG.

24 The Persecution of the Jews in Germany. Hg. vom Joint Foreign Committee of the Board of Deputies of British Jews and the Anglo-Jewish Association, April 1933.

Ergänzungshefte Mai, Juni. London. Die alte Signatur lautet: M IX 1106, vgl. Zu-wachsverzeichnis für die Jahre 1932 und 1933. Wien: Selbstverl. 1934, S. 40. Bi-bliothek des JMW, RC 97 – Ex. 1, Sammlung IKG.

25 Viktor Chajim Arlosoroff: Der jüdische Volkssozialismus. Berlin: Hazaïr 1919.

Die alte Signatur lautet: M IX 1239, vgl. Zuwachsverzeichnis für die Jahre 1934 und 1935, S. 5.

26 Zechner: Die Bibliothek der Israelitischen Kultusgemeinde (Anm. 9), S. 83.

27 Moses ben Maimon verfasste diese kodifizierte Wiederholung der Tora im Jahr 1180. JMW Archiv, Slg. IKG, Inv.-Nr. 15113. Gerson Soncino war einer der be-deutendsten hebräischen Drucker in Italien. Von seinen Pressen gingen in Soncino,

schrift aus dem 15. oder 16. Jahrhundert des Aruch des Nathan ben Jehiel,29 ein im 11. Jahrhundert verfasstes talmudisches Wörterbuch, das sich im Kata-log von Arthur Zacharias Schwarz30 unter der Nummer 69 findet.

Abb. 38: »Aruch« des Nathan ben Jehiel

Brescia, Bareo, Rimini, Fano, Pesaro, Ortona, Salonichi und Konstantinopel von 1488 bis 1532 die kostbarsten hebräischen Werke hervor. Vgl. Zeitschrift der Deutschen morgenländischen Gesellschaft, Bd. 11, Leipzig 1857, S. 573.

28 Die alte Signatur: Hs. II 11, vgl. Arthur Zacharias Schwarz: Die hebräischen Handschriften in Österreich (Ausserhalb der Nationalbibliothek in Wien). Leipzig:

Hiersemann 1931.

29 Nathan ben Jehiel kam ca. 1035 in Rom zur Welt und starb 1106.

30 Schwarz: Die hebräischen Handschriften der Nationalbibliothek in Wien (Anm.

28).