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2 Auswahl der regionalen Analyseebene

5.1 Beeinflussende Faktoren

5.1.4 Angebotsinduzierte Nachfrage

Die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen muss nicht immer nachfra-geseitig gesteuert werden, wie die bislang vorgestellten Einflussfaktoren vermu-ten lassen. Eine Variante der in der Gesundheitsökonomie vieldiskutiervermu-ten Form der angebotsseitigen Einflussfaktoren ist die angebotsinduzierte Nachfrage.

Im Gesundheitssystem sind relevante Informationen z. B. zum Gesundheits-status, Diagnosen, Therapiemöglichkeiten und notwendigen Behandlungen meist asymmetrisch zwischen den beiden beteiligten Parteien Arzt und Patient verteilt.

Während der Patient die Wissenshoheit über sein persönliches Befinden, seine Präferenzen und Wünsche hat, besitzt der Arzt das medizinische Fachwissen und Erfahrungswerte zu Diagnosen und Behandlung. Aufgrund dieser Asymmetrie ist es denkbar, dass die realisierte Nachfrage der Patienten nicht immer dem Op-timum entspricht, das bei völliger Informationsgleichheit bestehen könnte (vgl.

Schneider und Ulrich 2008).

Schon aufgrund seiner beratenden Funktion kann der Arzt in großem Maße die Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen seiner Patienten beeinflussen (vgl. Guggisberg und Spycher 2005). Vom Phänomen der „angebotsinduzierten Nachfrage“ spricht man allerdings nur dann, wenn der Patient eine Leistung bei vollständiger Informiertheit über den eigenen Gesundheitszustand und die The-rapiemöglichkeiten ohne den Rat des Arztes nicht in Anspruch genommen hätte (vgl. Cassel & Wilke 2001) und der Arzt seine eigenen (ökonomischen) Interes-sen über die seiner Patienten stellt und mehr Leistungen initiiert, als medizinisch notwendig wären (vgl. Thode, Bergmann et al. 2004). Damit angebotsinduzierte Nachfrage überhaupt möglich sein kann, müssen laut Kern (2002) verschiedene Bedingungen erfüllt sein:

• Der Patient muss einen Erstkontakt initiieren; erst wenn der Patient Kontakt zu einem Arzt hat, kann dieser die Inanspruchnahme weiterer Versorgungs-leistungen veranlassen.

• Beim Patienten müssen Informationsunsicherheiten bestehen. Bei vollständiger Kenntnis zu Diagnose- und Therapiemöglichkeiten durch den Patienten ist eine medizinisch nicht notwendige Ausweitung von Leistungen unwahrscheinlich.

• Der Arzt muss ein Einkommensinteresse verfolgen, das über die „objektive“

Masse (wobei eine Definition davon problematisch ist) hinausgeht.

• Die Vergütungsform muss Leistungsausweitungen honorieren. Insbesondere wirkt die Einzelleistungsvergütung eher mengenexpansiv, die Pauschalvergü-tung eher mengenreduzierend.

• Es besteht Therapiefreiheit und Therapiealternativen sind im individuellen Fall möglich.

• Der Arzt hat ein Behandlungsmonopol. Nach Diagnosestellung führt dersel-be Arzt die initiierten Leistungen durch – der Patient wechselt den Leistungs-anbieter nicht.

So häufig wie die angebotsinduzierte Nachfrage in der gesundheitsökonomi-schen und gesundheitspolitigesundheitsökonomi-schen Diskussion als problematisches Phänomen

besprochen wird, so sehr überrascht, dass die (internationale) empirische Evi-denz bezüglich der Existenz von Angebotsinduzierung, ihrer Einflussfaktoren und Auswirkungen keineswegs eindeutig ist.

Als angebotsinduzierte Nachfrage wurde in den ersten empirischen Studien zu diesem Phänomen in Deutschland häufig ein positiver Zusammenhang zwischen Arztdichte und Inanspruchnahmehäufigkeit definiert: Stieg die Inanspruchnah-me mit zunehInanspruchnah-mender Arztdichte, wurde davon ausgegangen, dass durch stei-gende (ökonomische) Konkurrenz die Ärzte einen Teil ihrer Nachfrage selbst generierten, um ein persönliches wirtschaftliches Ziel erreichen zu können. Die Ergebnisse waren dabei höchst unterschiedlich und zum Teil widersprüchlich. So konnten einige Autoren die These der angebotsinduzierten Nachfrage zumindest in Teilen bestätigen (vgl. Borchert 1980, Krämer 1981, Breyer 1984), während andere Studien ergebnislos bleiben und die These weder widerlegen noch nach-weisen können (vgl. Adam 1983).

Laut Labelle et al. (1994) ist bei der Definition der angebotsinduzierten Nach-frage zwischen positiver Arztinduzierung, die den Gesundheitszustand des Patienten verbessern kann, und negativer Arztinduzierung, die zu keiner Verbes-serung oder im schlechtesten Fall zur Verschlechterung des Gesundheitszustands des Patienten führt, zu unterscheiden. Der reine Zusammenhang zwischen Arzt-dichte und Inanspruchnahme ist laut den Autoren wenig relevant, wenn nicht das Behandlungsergebnis berücksichtigt wird. Auch Guggisberg und Spycher (2005) kritisieren, dass die Erklärungsmodelle zur arztinduzierten Nachfrage die Qualität der ärztlichen Leistungen als homogen betrachten.

So kann der positive Zusammenhang zwischen Arztdichte und Inanspruch-nahmehäufigkeit auch durch einen bestehenden Nachfrageüberhang in einer Region entstehen, der erst nach der Niederlassung zusätzlicher Ärzte gedeckt wer-den kann. Ebenso kann die Niederlassungsentscheidung eines Arztes auch durch den regionalen Versorgungsbedarf beeinflusst sein, so dass er sich bevorzugt in Regionen niederlässt, wo die Morbiditätslast hoch und eine erhöhte Nachfrage zu erwarten ist. Ein positiver Zusammenhang würde dann nicht notwendigerweise Angebotsinduzierung, sondern auch bedarfsorientierte Verteilung der Leistungs-erbringer bedeuten, die ja durchaus erwünscht ist. Außerdem ist denkbar, dass sich durch eine erhöhte Arztdichte die patientengesteuerte Nachfrage erhöht, wenn die Opportunitätskosten für Anreise und Wartezeiten sinken.

Aus diesem Grund unterscheiden die neueren Studien häufig zwischen dem Erstkontakt, von dem angenommen wird, dass er vollständig durch eine autono-me Patientenentscheidung zu Stande kommt, und den Folgekontakten, bei de-nen der Arzt die Häufigkeit der weiteren Arztbesuche und ärztlichen Leistungen mitbestimmt. Besteht ein positiver Zusammenhang zwischen Arztdichte und

Folgekontakten, aber kein Zusammenhang zwischen Arztdichte und Erstkontak-ten, dann kann von einer Angebotsinduzierung ausgegangen werden (vgl. Cassel

& Wilke 2001). Mit sogenannten Hürdenmodellen bestätigten Pohlmeier und Ulrich (1995) auf Grundlage von Daten des Sozioökonomischen Panels (SOEP) des Jahres 1985 diese Hypothese für Deutschland. Sie fanden keinen Zusammen-hang zwischen Arztdichte nach Bundesland und der Häufigkeit der Erstkontakte, zeigten aber einen signifikanten positiven Zusammenhang mit der Häufigkeit der Folgekontakte. Allerdings konnten diese Effekte nur für die Inanspruchnah-me von AllgeInanspruchnah-meinInanspruchnah-medizinern, nicht aber von Fachärzten gezeigt werden.

Andersen und Schwarze (1997) kommen hingegen mit späteren Erhebungs-wellen des SOEP (1987 und 1994) zu dem Ergebnis, dass die Kontaktfrequenz insbesondere positiv mit der Facharztdichte zusammenhängt und die Kontakt-wahrscheinlichkeit bei Allgemeinärzten und praktischen Ärzten mit steigendem Facharztanteil abnimmt. Eine Angebotsinduzierung im Sinne von mehr Folge-kontakten geht den Autoren zufolge eher von Fachärzten und weniger von All-gemeinärzten aus. Zudem legen die Ergebnisse die Schlussfolgerung nahe, dass bei hohem Versorgungsniveau die Effekte der Angebotsinduzierung zunehmend von Konkurrenzeffekten und Wettbewerbsintensität überlagert werden und der Arzt „nur noch mit steigenden Kosten und wachsendem Risiko auf die Mecha-nismen der Angebotsinduzierung ausweichen“ kann (Andersen und Schwarze 1997, S. 69). Eine Steigerung der Arztdichte führt demnach nicht beliebig zur Steigerung der Inanspruchnahme, sondern ab einer bestimmten Wettbewerbs-situation besteht sogar ein negativer Zusammenhang zwischen Arztdichte und Inanspruchnahmehäufigkeit.

Die Ergebnisse der Analysen von Cassel und Wilke (2001), die auf den SOEP- Datensätzen der Jahre 1984 bis 1997 beruhen, widersprechen den zuvor gefunde-nen Zusammenhängen: Zwar kann für einige Wellen ein positiver Zusammenhang zwischen Arztdichte (insbesondere Fachärzte und Zahnärzte) nach Bundeslän-dern und der Kontakthäufigkeit festgestellt werden, allerdings besteht gleichzeitig ein positiver Zusammenhang mit der Kontaktwahrscheinlichkeit (Erstkontakt), sodass nicht von angebotsinduzierter Nachfrage ausgegangen werden kann. Die Hypothese vom grundsätzlichen Bestehen von Angebotsinduzierung in der am-bulanten Versorgung wird daher von den Autoren der Studie abgelehnt.

Eine Erweiterung der Analysen in Deutschland auf Grundlage der Daten des SOEP des Jahres 2002 wurde von Jürges (2007) vorgenommen. Er unter-scheidet zwischen gesetzlich und privat Versicherten und instrumentiert die Variable der Arztdichte, indem er Einflussfaktoren auf die Niederlassungsent-scheidung von Ärzten, die nicht mit der Inanspruchnahme in Zusammenhang stehen, im Modell berücksichtigt. Der Zusammenhang zwischen Arztdichte und

Inanspruchnahme unterscheidet sich laut den Ergebnissen der Studie nach der Art der Versicherung: Während bei gesetzlich Versicherten ein positiver Effekt mit der Kontaktentscheidung (also dem Erstkontakt) besteht, kann dieser Zu-sammenhang für die privat Versicherten nicht gezeigt werden. Allerdings hat die Arztdichte bei Privatpatienten einen deutlichen positiven Einfluss auf die Inanspruchnahmehäufigkeit: Die Wahrscheinlichkeit eines Erstkontaktes ist bei Privatpatienten geringer, aber die Anzahl der Arztbesuche ist deutlich höher als bei gesetzlich Versicherten. Die Modelle mit und ohne Instrumentierung der Arztdichte unterscheiden sich dabei nicht signifikant. Der Autor vermutet, dass die höhere Preisvariabilität bei privat Versicherten (i. S. v. höhere Leistungsver-gütung nach Gebührenordnung für Ärzte GOÄ) bei den Ärzten stärkere Anreize für medizinisch nicht notwendige Leistungsausweitung schafft als bei gesetzlich Versicherten.

Für Deutschland ergeben die verfügbaren empirischen Studien der letzten Jah-re, die fast ausschließlich auf den Daten des Sozioökonomischen Panels beruhen, ebenso wie internationale Studien kein eindeutiges Ergebnis bezüglich der Exis-tenz oder des Ausmaßes von angebotsinduzierter Nachfrage in der ambulanten Versorgung. Die empirische Messung des Phänomens der angebotsinduzierten Nachfrage scheitert dabei oft an der Herausforderung latente Nachfrageüberhän-ge oder AnNachfrageüberhän-gebotsinduzierung mit positiven Nutzen für den Patienten heraus-zufiltern. Allerdings können Ineffizienzen aufgrund unnötiger, arztinduzierter Nachfrage auch nicht ausgeschlossen werden und bleiben daher Bestandteil der gesundheitsökonomischen Diskussion.

5.2 Ableitung der regionalen ambulanten Inanspruchnahme