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Technische Implementierungen biomimetischer Formbildung Bekannte technische Implementierungen evolutionärer Formbildung über-tragen insbesondere die Abfolge von Schritten der zufälligen Variation und der Selektion auf technische Entwicklungsprozesse. Oben erwähnt wurden mittels Selektionsmechanismen optimierte Zweiphasendüsen und neuronale Netze. An diesen Beispielen ist aus biologischer Perspektive genau derjenige Aspekt ungewöhnlich, der für die Technik eine Selbstverständlichkeit dar-stellt: dass das Optimierungsziel vorgegeben ist. Selegiert wird nach Kriterien der Erfüllung vorgegebener Spezifikationen, die in den genannten Fällen den Wirkungsgrad oder hervorzubringende Bewegungsmuster betreffen mögen.

Für die gewünschten Leistungen können, wie die Beispiele zeigen, mittels des evolutionären Mechanismus unerwartete Lösungen gefunden werden. Derart spezifische Vorgaben sind jedoch in der Evolution der Lebewesen kaum je zu finden. Ob ein Organismus in einer bestimmten Umwelt besser überlebt, in-dem er sich schneller fortbewegt, oder inin-dem er sich besser tarnt, ist offen.

Beides wären mögliche Resultate des evolutionären Wandels eines von einem Fressfeind bedrohten Tieres. Jede verbesserte Passung in die Umwelt wird

fi-Evolution und Entwicklung – universelle Konzepte?

xiert und ggf. weiter verstärkt, unabhängig davon, auf welche Weise sie her-vorgebracht wird. Das Ergebnis der Evolution ist damit typischerweise – mit Ausnahme von Fällen der Orthogenese – offen.

Technische Entwicklung hingegen versucht in der Regel, eine vorgegebene Funktion unter Erfüllung vorgegebener Rahmenbedingungen zu optimieren.

Soll der Brennstoffverbrauch eines Motors oder eines Strahltriebwerks mini-miert werden, ist die Verkleinerung des Motors mit einer damit verbundenen Verringerung der Leistung häufig keine Option. Die Bewertung ist auf eine zu-vor festgelegte Funktion beschränkt. Das Ergebnis der Selektion ist anders als im biologischen Fall nicht offen, sondern vorgegeben und somit auch vorher-sagbar. Würde Nicht-Vorhersagbarkeit als Charakteristikum der Evolution gelten, wie beispielsweise in der evolutionären Ökonomik (siehe Kapitel 7), so könnte die technische Realisierung des Selektionsprozesses nicht als Evolu-tion gelten. Vielmehr wäre es ein Prozess umbauender und wiederverwerten-der Ontogenese. Diese Klassifikation wäre ggf. noch in einer weiteren Hinsicht passend: Anders als im Evolutionsprozess werden in der Technikentwicklung nicht notwendigerweise immer wieder neue Exemplare aus neuem Material hergestellt. Gerade das Beispiel der Düse zeigt, dass modifizierte Wiederver-wendung der Komponenten durchaus eine Option ist: Die Düse wird in Schei-ben geschnitten und die Abfolge immer derselSchei-ben ScheiSchei-ben wird abgeändert.

Die bestehende Düse wird modifiziert, nicht aus neuem Material Kopien her-gestellt.

Der Prozess biomimetischer Technikentwicklung kann nicht nur in diesem Fall nicht eindeutig als einem Evolutions- oder aber einem biologischen Ent-wicklungsprozess analog beschrieben werden. Er vereint auf unproblemati-sche Weise Züge beider Prozessarten. Ich möchte deshalb mein bereits mehr-fach angeklungenes Plädoyer dafür, statt auf übergeordnete Prozesse besser auf die biologischen Mechanismen zurückzugehen, nochmals explizit ma-chen: Die Mechanismen biologischer Phylogenese und Ontogenese sind viel-fältig und ihre Reduktion auf zwei einheitliche Klassen wäre in hohem Maße simplifizierend. Der Reichtum möglicher Anregungen technischer Entwick-lungsprozesse durch biologische Mechanismen würde vergeben. Auch ist es für die technische Implementierung nicht erforderlich, einen konkreten bio-logischen Prozess genau nachzuvollziehen. Vielversprechender – und in allen genannten Beispielen realisiert – ist ein Ansatz, der biologische Mechanismen aufgreift und diese, ggf. in neuer Kombination, flexibel einsetzt und modifi-ziert.

Die Grenzen zwischen biomimetischer Technikentwicklung und Bionik sind fließend. In Letzterer werden Lösungen funktionaler Probleme aus dem Be-reich der belebten Natur auf die Technik übertragen. Dies wird jedoch in aller Regel nicht ohne Modifikation der biologischen Lösung erfolgen können:

Technische Materialien unterscheiden sich von biologischen, Umskalierun-gen möUmskalierun-gen erforderlich sein, ebenso AnpassunUmskalierun-gen aufgrund einer Verschie-bung der Funktionalität in Fällen, in denen die Biologie nur die Lösung eines

verwandten Problems bereithält. Die in derart zahlreichen Hinsichten ggf. er-forderliche Anpassung könnte wiederum mittels biomimetischer Mechanis-men erfolgen, die phylogenetischen und ontogenetischen Prozessen abge-schaut sind. Aber auch wo rein technische Optimierungsprozesse implemen-tiert werden, wird eben nicht die vollständige biologische Lösung unverändert übertragen. Bestimmte Aspekte werden herausgegriffen, andere – z. B. die konkrete Materialität – ersetzt oder verändert. Nicht die ganze biologische Lö-sung und nicht ihr ganzer Kontext werden übernommen. Wie in der Bionik nur der grundsätzliche Lösungsansatz für die technische Anwendung nutzbar gemacht wird, wird in biomimetischen Entwicklungsprozessen nicht der ge-samte biologische Formbildungsprozess nachgebildet, sondern nur dessen Mechanismus.

Allgemeine Evolutionstheorie

»Die« Evolutionstheorie wird häufig auf Bereiche außerhalb der Biologie an-gewendet oder eine solche Anwendung zumindest diskutiert. So ist von der Evolution der Technik bzw. materieller Kultur die Rede, beispielsweise stein-zeitlicher Pfeilspitzen, mittelalterlicher Rüstungen oder neustein-zeitlicher Eisen-bahnwaggons; von der Evolution wissenschaftlicher Theorien (Popper 1995) oder allgemeiner von Ideen oder kleinster bedeutungstragender Einheiten, der Meme (Dawkins 1976); allgemeiner: von kultureller Evolution. Dabei muss jedoch beachtet werden, dass nicht jede Beschreibung einer als Stamm-baum darstellbaren Abfolge als Evolutionsprozess erhellend ist – nicht ein-mal, wenn die Veränderung in derselben Weise formal beschrieben werden kann wie in einem biologischen Evolutionsprozess. Die Annahme eines uni-versal Darwinism (Dawkins 1998) bzw. einer allgemeinen oder verallgemei-nerten Evolutionstheorie (Schurz 2011) stützt sich auf solche durchaus star-ken Strukturanalogien. Die abstrakte Beschreibung der Erblichkeit und Ver-änderlichkeit von Merkmalen kultureller Entitäten lässt dabei nicht auf einen bestimmten zu Grunde liegenden Mechanismus schließen. Sie beschreibt mo-dellhaft die Oberflächenmerkmale eines Prozesses. Ob dem Prozess aber Me-chanismen zugrunde liegen, die denen biologischer Evolution entsprechen, kann auf diese Weise nicht geklärt werden. Im Fall der Meme ist nicht einmal klar, ob es solche Einheiten überhaupt gibt oder ob es sich hierbei um bloße Postulate des Modells handelt (Kronfeldner 2011). Erst der Nachweis solcher Entitäten und der Aufweis eines zugehörigen kausalen Evolutionsmechanis-mus könnte eine valide evolutionäre Erklärung für den beobachteten Form-bildungsprozess bieten. In der Plausibilisierung eines solchen Mechanismus für die biologische Evolution liegt wie erwähnt eines von Darwins größten Ver-diensten. Er führt eine ungeheure Fülle von Beobachtungen und Vergleichen mit Züchtungsprozessen an, um empirische Belege für den von ihm postulier-ten Mechanismus zu liefern (Darwin 1988). Diese Plausibilisierung, die inzwi-schen sehr differenziert weiter ausgearbeitet wurde, gilt jedoch nur für den Bereich, der empirisch untersucht wurde, für die Biologie. Sie hat für andere

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Bereiche keine Relevanz und kann insbesondere nicht die Geltung »der« Evo-lutionstheorie für andere als die überprüften Bereiche sichern. Das könnten allein empirische Belege jeweils aus diesen Bereichen leisten.

Da die kausalen Mechanismen evolutiver Prozesse durch überlagerte Prozesse verdeckt sein können, wäre umgekehrt eine fehlende Passung zwischen struk-turellen Aussagen einer allgemeinen Evolutionstheorie und technischen oder kulturellen Prozessen kein hinreichender Grund, die Abwesenheit evolutionä-rer Mechanismen anzunehmen. Dies ist für den Ansatz einer biomimetischen Technikentwicklung letztlich ermutigend, denn es zeigt, dass für die Übertrag-barkeit von Evolutionsprozessen auf Prozesse technischer Entwicklung die Geltung der Evolutionstheorie für den Bereich der Technik und Kultur nicht entscheidend ist. Es geht allein um die Übertragung konkreter Evolutionsme-chanismen auf die Technik.