MATTHIAS GERDTS
Mathematik II
Universit¨
at der Bundeswehr M¨
unchen
Herbsttrimester 2020
Addresse des Autors:
Matthias Gerdts
Institut f¨ur Angewandte Mathematik und Wissenschaftliches Rechnen Universit¨at der Bundeswehr M¨unchen
Werner-Heisenberg-Weg 39 85577 Neubiberg
E-Mail: matthias.gerdts@unibw.de WWW: www.unibw.de/ingmathe
Vorl¨aufige Version: 7. August 2020 Copyright c 2020 by Matthias Gerdts
Inhaltsverzeichnis
1 Differential- und Integralrechnung 5
1.1 Folgen und Grenzwerte . . . 5
1.2 Stetigkeit . . . 13
1.3 Differenzierbarkeit . . . 15
1.4 Integralrechnung . . . 21
1.4.1 Partialbruchzerlegung . . . 28
1.4.2 Fl¨ache eines Kreises . . . 31
1.4.3 Umfang eines Kreises, Oberfl¨ache einer Kugel, Volumen einer Kugel 32 2 Reihen, Potenzreihen, Taylorreihen 33 2.1 Reihen . . . 33
2.1.1 Vergleichstests . . . 38
2.1.2 Alternierende Reihen . . . 39
2.1.3 Absolute Konvergenz . . . 41
2.2 Potenzreihen . . . 44
2.2.1 Darstellung von Funktionen durch Potenzreihen . . . 46
2.3 Taylor-Reihen und Satz von Taylor . . . 49
3 Differentialgleichungen 54 3.1 Klassifikation . . . 58
3.2 Lineare Differentialgleichungen n-ter Ordnung . . . 62
3.2.1 Homogene lineare Differentialgleichung mit konstanten Koeffizienten 64 3.2.2 Bestimmung einer Partikul¨arl¨osung . . . 69
3.3 Lineare Differentialgleichungssysteme 1. Ordnung . . . 77
3.3.1 Homogene lineare Differentialgleichungssysteme 1. Ordnung . . . . 80
3.3.2 Bestimmung einer Partikul¨arl¨osung f¨ur inhomogene lineare Diffe-rentialgleichungssysteme . . . 88
3.4 Differentialgleichungen 1. Ordnung . . . 90
3.4.1 Lineare Differentialgleichungen mit variablen Koeffizienten . . . 92
3.4.2 Trennbare Differentialgleichungen . . . 95
3.5 Existenz- und Eindeutigkeit . . . 101
3.6 Die Laplace-Transformation . . . 105 ii
3.6.1 Anwendung der Laplace-Transformation auf Anfangswertprobleme bei linearen Differentialgleichungen mit konstanten Koeffizienten . . 109 3.6.2 Tabellen zur Laplacetransformation . . . 113 4 Trigonometrische Approximation und Fourierreihen 116 4.1 Fourierreihen . . . 116 4.2 Berechnung der Fourier-Reihe . . . 121 4.3 Komplexe Darstellung . . . 125
Vorwort
Diese Vorlesung basiert auf Vorlesungen von Prof. Dr. Marti, Prof. Dr. Gwinner, Prof. Dr. Pesch und Prof. Dr. Apel, welche zuvor an der Universit¨at der Bundeswehr M¨unchen und der Universit¨at Bayreuth gehalten wurden. Sie vermittelt Grundlagen der Analysis und richtet sich an Studierende im ersten Trimester in den Bachelor-Studieng¨angen Luft-und Raumfahrttechnik (LRT), Bauingenieurwesen Luft-und Umweltwissenschaften (BAU) Luft-und Elektrotechnik und Informationstechnik (EIT).
Die Vorlesung baut auf den Mathematikkenntnissen im Abitur auf und hat zum Ziel, grundlegende Konzepte und Methoden der Analysis zur mathematischen Beschreibung naturwissenschaftlich-technischer Prozesse zu vermitteln und zu eigenst¨andigem logischen Denken anzuregen.
Die Vorlesung behandelt folgende Inhalte:
• Konvergenz von Zahlenfolgen und -Reihen, H¨aufungspunkte, Konvergenzkriterien, absolute Konvergenz bei Reihen
• Auffrischung der Differential- und Integralrechnung in einer reellen Variablen, Mit-telwerts¨atze; Substitution, partielle Integration
• Funktionenfolgen und -reihen, gleichm¨aßige Konvergenz, Vertauschung von Grenz-prozessen: gliedweise Differentiation und Integration
• Potenzreihen, Konvergenzradius, Cauchy-Produkt, Taylor-Polynome und -Reihen • Gew¨ohnliche Differentialgleichungen (DGLen): Grundbegriffe, Typen von DGLen;
analytisch l¨osbare Klassen. DGLen 1. Ordnung: separierbare, homogene, lineare, Bernoullische und Riccatische DGLen; analytisch l¨osbare DLGen 2. Ordnung; Po-tenzreihenansatz
• ¨Uberblick ¨uber Existenz- und Eindeutigkeitss¨atze (Lipschitz-Bedingung) und ele-mentare N¨aherungsmethoden: Eulersches Polygonzugverfahren, Verfahren von Picard-Lindel¨of (sukzessive Approximation)
• Systeme linearer Differentialgleichungen: Matrixexponentialfunktion, Systeme linea-rer Differentialgleichungen mit konstanten Koeffizienten. Lineare Differentialglei-chungen h¨oherer Ordnung
• Ausblick: Laplace- und Fourier-Transformation 1
2
Als Erg¨anzung stehen zum Selbststudium folgende Hilfsmittel zur Verf¨ugung, um Wissen aufzufrischen oder etwaige Wissensl¨ucken zu schließen:
(a) Vorkurs Mathematik: Skript zur Auffrischung von Schulkenntnissen von Prof. Dr. Gerdts.
(b) Mathematik – Vorwissen und Selbststudium: Skript von Prof. Dr. Apel. Allgemeine Tipps und Hinweise:
• Mathematische Inhalte erschließen sich nicht von selbst und in den seltensten F¨allen durch gelegentliches ¨Uberfliegen des Vorlesungsskriptes, sondern sie erfordern ein aktives Mitarbeiten und viel ¨Ubung.
Arbeiten Sie deshalb die Vorlesungen (und ¨Ubungen) nach!
Zum Verst¨andnis des Stoffes ist es sehr wichtig, die ¨Ubungsaufgaben regelm¨aßig und selbstst¨andig zu bearbeiten. Sp¨atestens in der Klausur, aber insbesondere auch im weiteren Verlauf des Studiums, ist eine gewisse Routine im L¨osen von Auf-gaben notwendig. Diese erlangt man nur durch eigenst¨andiges L¨osen von Aufgaben. • Gehen Sie den Vorlesungsstoff und ¨Ubungsaufgaben mit Kommilitonen durch. Er-kl¨aren und diskutieren Sie Definitionen und S¨atze in eigenen Worten! Fragen Sie auch die ¨Ubungsleiter und den Leiter der Veranstaltung bei Unklarheiten.
• Es ist keine gute Idee, sich erst kurz vor der Klausur mit dem Vorlesungsstoff zu besch¨aftigen. Dann ist es zu sp¨at und es bleibt nichts h¨angen. Die Inhalte der Vor-lesung tauchen an verschiedenen Stellen im Studium immer wieder auf und werden dann als bekannt vorausgesetzt.
• Wichtige Informationen zur Vorlesung, wie z.B. Ansprechpartner, ¨Ubungsaufgaben und Zusatzmaterial, finden sich auf der WWW-Seite
https://www.unibw.de/ingmathe/teaching/hoehere-mathematik-i-und-ii Diese Seite wird laufend aktualisiert, so dass sie regelm¨aßig besucht werden sollte. Literatur:
• Burg, K., Haf, H. and Wille, F.: H¨ohere Mathematik f¨ur Ingenieure. Band I: Analy-sis, Band III: Gew¨ohnliche Differentialgleichungen. Teubner, Stuttgart, 1985-2011. • Boyce, W. E., D. R. Elementary Dierential Equations and Boundary Value
3
• Meyberg, K. and Vachenauer, P. H¨ohere Mathematik I-II . Springer, Berlin-Heidelberg-New York, 2nd edition, 1993.
• Papula, L. Mathematik f¨ur Ingenieure und Naturwissenschaftler. Band 1-3, View-eg+Teubner, Wiesbaden, 2008.
• Walter, W. Gew¨ohnliche Dierentialgleichungen. Springer, Berlin-Heidelberg-New York, 4th edition, 1990.
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Termine
Vorlesungsplan Mathematik I und II:
Datum Zeit [Minuten] Inhalt 01.10.2020 90 05.10.2020 90 06.10.2020 90 07.10.2020 90 08.10.2020 90 12.10.2020 90 13.10.2020 90 14.10.2020 90 15.10.2020 90 19.10.2020 90 20.10.2020 90 21.10.2020 90 22.10.2020 90 26.10.2020 90 27.10.2020 90 28.10.2020 90 29.10.2020 90 02.11.2020 90 03.11.2020 90 04.11.2020 90 05.11.2020 90 09.11.2020 90 Mathematik II 10.11.2020 90 11.11.2020 90 12.11.2020 90 16.11.2020 90 17.11.2020 90 18.11.2020 90 Klausur Mathematik I 19.11.2020 90 23.11.2020 90 24.11.2020 90 25.11.2020 90 26.11.2020 90 30.11.2020 90 01.12.2020 90 02.12.2020 90 03.12.2020 90 07.12.2020 90 08.12.2020 90 09.12.2020 90 10.12.2020 90 14.12.2020 90 15.12.2020 90
Kapitel 1
Differential- und Integralrechnung
Stetigkeit, Differenzierbarkeit und Integrale von Funktionen sind fundamentale Konstruk-te, die in vielen Anwendungen ben¨otigt werden.
1.1
Folgen und Grenzwerte
Folgen (und sp¨ater auch Reihen) spielen in der Mathematik eine große Rolle bei der Ap-proximation von Zahlen bzw. Funktionen. Oftmals ist es nicht m¨oglich, eine Zahl oder Funktion exakt zu berechnen, so dass nur eine n¨aherungsweise Berechnung m¨oglich ist. Nat¨urlich stellt sich dann sofort die Frage nach der Qualit¨at der Approximation, also nach dem Approximationsfehler. Die Berechnung von Approximationen tritt sowohl bei kom-plizierten Problemen auf, z.B. bei der approximativen L¨osung einer Differentialgleichung, aber auch bereits bei elementaren Aufgaben, z.B. wenn √2, exp(1), sin(x) oder cos(x) etwa mit dem Taschenrechner berechnet werden sollen. H¨aufig werden Approximationen durch Folgen (oder Reihen) realisiert.
Beispiel 1.1.1 (Approximation von e durch eine Folge rationaler Zahlen) F¨ur n = 1, 2, 3, . . . berechnen wir die rationalen Zahlen
qn:=
n + 1 n
n
und betrachten den Grenzwert dieser Zahlen, wenn n gegen ∞ strebt. Dabei berechnen wir den Fehler |e − qn| und erhalten folgendes Resultat:
n= 1 q=( (n+1)/n )^n=2.0000000000000000 |e-q|=0.71828182845904509 n= 50001 q=( (n+1)/n )^n=2.7182546466954589 |e-q|=2.71817635861815177E-005 n= 100001 q=( (n+1)/n )^n=2.7182682372960314 |e-q|=1.35911630136931194E-005 n= 150001 q=( (n+1)/n )^n=2.7182727676168201 |e-q|=9.06084222496161829E-006 n= 200001 q=( (n+1)/n )^n=2.7182750327899656 |e-q|=6.79566907946238530E-006 n= 250001 q=( (n+1)/n )^n=2.7182763918939261 |e-q|=5.43656511897694372E-006 n= 300001 q=( (n+1)/n )^n=2.7182772980279597 |e-q|=4.53043108539219475E-006 n= 350001 q=( (n+1)/n )^n=2.7182779452901307 |e-q|=3.88316891442030965E-006 n= 400001 q=( (n+1)/n )^n=2.7182784305914462 |e-q|=3.39786759884219691E-006 n= 450001 q=( (n+1)/n )^n=2.7182788082049290 |e-q|=3.02025411613726646E-006 n= 500001 q=( (n+1)/n )^n=2.7182791099925683 |e-q|=2.71846647681428522E-006 n= 550001 q=( (n+1)/n )^n=2.7182793573507089 |e-q|=2.47110833617725234E-006 n= 600001 q=( (n+1)/n )^n=2.7182795632507282 |e-q|=2.26520831692056390E-006 n= 650001 q=( (n+1)/n )^n=2.7182797374714349 |e-q|=2.09098761017045831E-006 n= 700001 q=( (n+1)/n )^n=2.7182798866882623 |e-q|=1.94177078283175319E-006 n= 750001 q=( (n+1)/n )^n=2.7182800163738392 |e-q|=1.81208520588782562E-006 n= 800001 q=( (n+1)/n )^n=2.7182801293447376 |e-q|=1.69911430747404779E-006 5
6 KAPITEL 1. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG
n= 850001 q=( (n+1)/n )^n=2.7182802291241082 |e-q|=1.59933493693031892E-006 n= 900001 q=( (n+1)/n )^n=2.7182803183170865 |e-q|=1.51014195859389133E-006 n= 950001 q=( (n+1)/n )^n=2.7182803980580688 |e-q|=1.43040097633218011E-006 n=1000001 q=( (n+1)/n )^n=2.7182804695455025 |e-q|=1.35891354258177444E-006 Die Folge der Zahlen q1, q2, q3, . . . n¨ahert sich offenbar der Zahl e an, allerdings sehr
langsam. Wir schreiben hierf¨ur auch lim
n→∞qn= e.
Definition 1.1.2 (Folge)
Eine Folge ist eine geordnete Liste von unendlich vielen (reellen) Zahlen a1, a2, a3, . . . , an, . . . ,
wobei a1 das erste Folgenglied, a2 das zweite Folgenglied und an das n-te Folgenglied
bezeichnet. Wir bezeichnen die Folge mit {an} oder {an}∞n=1.
Bemerkung 1.1.3
(a) Ohne Beschr¨ankung der Allgemeinheit nehmen wir an, dass die Folge mit dem Index n = 1 beginnt. Zudem beschr¨anken wir uns auf reelle Zahlenfolgen mit an ∈ R f¨ur
alle n ∈ N.
(b) Eine Folge kann auch als Abbildung f : N −→ R mit n 7→ f (n) =: an betrachtet
werden.
Beispiel 1.1.4
Folgen k¨onnen auf verschiedene Arten definiert werden.
(a) Das n-te Folgenglied ist durch eine explizite Formel gegeben, z.B. an := n n + 1, {an} ∞ n=1 := n n + 1 ∞ n=1 = 1 2, 2 3, 3 4, . . . , n n + 1, . . .
Die Folge kann durch plotten der Folgenglieder an auf der Zahlengeraden (links)
1.1. FOLGEN UND GRENZWERTE 7 0 0.1 0.2 0.3 0.4 0.5 0.6 0.7 0.8 0.9 1 1.1 0 0.2 0.4 0.6 0.8 1 5 10 15 20 25 30 35 40 an = n/ (n + 1) n an= n/(n + 1)
Ein Blick auf die Bilder zeigt, dass die Folge sich dem Wert 1 f¨ur wachsende n ann¨ahert. Wir sagen, die Folge konvergiert gegen den Grenzwert 1.
(b) Die Folge ist durch eine Rekursion gegeben, z.B. definiert die Folge a1 := 1, a2 := 1, an := an−1+ an−2, n ≥ 3.
die bekannte Fibonacci-Folge
{an}∞n=1 = {1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34, . . .} ,
welche vom italienischen Mathematiker Fibonacci im 13. Jahrhundert verwendet wurde, um die Vermehrung von Kaninchen zu beschreiben.
0 100000 200000 300000 400000 500000 600000 700000 800000 900000 0 5 10 15 20 25 30 a1 = a2 = 1 , an = an − 1 + an − 2 , n ≥ 3 n
Die Fibonacci-Folge strebt offenbar gegen ∞ mit wachsendem n. Wir sagen, die Folge divergiert gegen unendlich.
Wir formalisieren die intuitiven Begriffe Konvergenz, Grenzwert und Divergenz.
c
8 KAPITEL 1. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG
Definition 1.1.5 (Grenzwert, Konvergenz, Divergenz)
(a) Eine Folge {an} hat den Grenzwert L, in Zeichen
lim
n→∞an= L oder an n→∞
−→ L oder an −→ L,
falls es f¨ur jedes ε > 0 eine Zahl N (ε) gibt mit
|an− L| < ε ∀n > N (ε).
(b) Falls der Grenzwert lim
n→∞an existiert (als reelle Zahl), heißt die Folge {an}
konver-gent. Andernfalls heißt die Folge diverkonver-gent. (c) Die Folge {an} divergiert gegen ∞, in Zeichen
lim
n→∞an= ∞,
falls es f¨ur jedes M > 0 eine Zahl N gibt mit
an> M ∀n > N.
Eine analoge Definition gilt f¨ur die Divergenz gegen −∞.
(d) L heißt H¨aufungspunkt der Folge {an}, falls es f¨ur jedes ε > 0 und f¨ur jedes
N ∈ N eine Zahl n ≥ N gibt mit
|an− L| < ε.
Das Kriterium in Teil (a) von Definition 1.1.5 besagt, dass f¨ur eine konvergente Folge lediglich endlich viele Folgenglieder nicht in einer ε-Umgebung des Grenzwerts L f¨ur be-liebig kleines ε > 0 liegen. Die Notation N (ε) deutet an, dass die Anzahl der Folgenglieder, die nicht in einer ε-Umgebung liegen, von ε abh¨angt. Im allgemeinen gilt: Je kleiner ε ist, desto gr¨oßer ist N (ε).
1.1. FOLGEN UND GRENZWERTE 9 n < N (ε) N (ε) n > N (ε) L L + ε L − ε an
Von einem H¨aufungspunkt spricht man hingegen, wenn unendlich viele Folgenglieder in einer ε-Umgebung des H¨aufungspunktes liegen. Ein Grenzwert ist damit stets auch ein H¨aufungspunkt, aber nicht umgekehrt, da bei einem H¨aufungspunkt unendlich viele Fol-genglieder außerhalb einer ε-Umgebung liegen k¨onnen.
Beispiel 1.1.6 (a) Es gilt lim n→∞ 1 + 1 n n = e. (b) Es gilt lim n→∞ n √ n = 1.
(c) Die Folge {(−1)n} besitzt die H¨aufungspunkte −1 und 1. Sie ist nicht konvergent. (d) Die Folge {an} mit
an =
(
1, falls n gerade,
1
n, sonst
besitzt die H¨aufungspunkte 1 und 0. Sie ist nicht konvergent.
Wir fassen einige n¨utzliche Rechenregeln f¨ur Folgen zusammen, welche es erlauben, den Grenzwertprozess und die arithmetischen Operationen +, −, ·, / zu vertauschen.
Satz 1.1.7 (Rechenregeln)
Seien {an} und {bn} konvergente Folgen und c eine Konstante. Dann gelten die folgenden
c
10 KAPITEL 1. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG Rechenregeln: lim n→∞(an± bn) = n→∞lim an± limn→∞bn, lim n→∞(c · an) = c · limn→∞an, lim n→∞(an· bn) = n→∞lim an· limn→∞bn, lim n→∞ an bn = lim n→∞an lim n→∞bn , falls lim n→∞bn6= 0, lim n→∞c = c.
Beweis: Wir beweisen nur die dritte und vierte Aussage. Da {an} und {bn} konvergent
sind mit Grenzwerten a bzw. b, gibt es f¨ur gegebenes ε > 0 Zahlen N1, N2 und N3 mit
|an− a| < ε 2· 1 1 + |b|, ∀n ≥ N1, |bn− b| < ε 2· 1 1 + |a|, ∀n ≥ N2, |bn| = |bn− b + b| ≤ |bn− b| + |b| < 1 + |b|, ∀n ≥ N3.
F¨ur n ≥ max{N1, N2, N3} folgt daraus
|anbn− ab| = |anbn− abn+ abn− ab| ≤ |an− a||bn| + |a||bn− b| < ε 2· 1 1 + |b|(1 + |b|) + |a| ε 2· 1 1 + |a| < ε 2+ ε 2 = ε.
Die vierte Aussage folgt aus der dritten Aussage, da {1/bn} gegen 1/b konvergiert,
vor-ausgesetzt es gilt b 6= 0. Beispiel 1.1.8 Es gilt lim n→∞ 2n2+ 1 n2− 3n + 6 = limn→∞ 2 + n12 1 − 3n+n62 = 2 + 0 1 − 0 + 0 = 2.
1.1. FOLGEN UND GRENZWERTE 11
Satz 1.1.9 (Einschließungssatz) Falls an ≤ bn ≤ cn und lim
n→∞an= limn→∞cn = L, dann gilt limn→∞bn= L.
Beweis: Sei ε > 0 beliebig. Wegen an −→ L und cn −→ L gibt es eine Zahl N (ε) mit
|an− L| < ε und |cn− L| < ε f¨ur alle n ≥ N (ε). Dann gilt
−ε < an− L ≤ bn− L ≤ cn− L < ε ⇒ |bn− L| < ε.
Aus dem Einschließungssatz folgt wegen −|an| ≤ an ≤ |an| der folgende
Satz 1.1.10 Falls lim
n→∞|an| = 0, dann gilt limn→∞an = 0.
Definition 1.1.11 Eine Folge {an} heißt
(a) monoton wachsend, falls an ≤ an+1 f¨ur alle n ∈ N gilt;
(b) streng monoton wachsend, falls an< an+1 f¨ur alle n ∈ N gilt;
(c) monoton fallend, falls an≥ an+1 f¨ur alle n ∈ N gilt;
(d) streng monoton fallend, falls an > an+1 f¨ur alle n ∈ N gilt;
(e) monoton, falls sie monoton wachsend oder monoton fallend ist;
(f ) streng monoton, falls sie streng monoton wachsend oder streng monoton fallend ist;
(g) Nullfolge, falls sie gegen den Grenzwert 0 konvergiert.
Definition 1.1.12 Eine Folge {an} heißt
(a) beschr¨ankt von oben, falls es eine Zahl M gibt mit an≤ M f¨ur alle n ∈ N,
c
12 KAPITEL 1. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG
(b) beschr¨ankt von unten, falls es eine Zahl m gibt mit m ≤ an f¨ur alle n ∈ N,
(c) beschr¨ankt, falls sie beschr¨ankt von oben und beschr¨ankt von unten ist.
Satz 1.1.13 (Monotone Beschr¨anktheit) Jede beschr¨ankte, monotone Folge ist konvergent.
Bemerkung 1.1.14
Beachte, dass die Monotonieannahme in Satz 1.1.13 wesentlich ist! Die Folge {(−1)n} ist
beschr¨ankt, aber nicht monoton. Sie ist nicht konvergent. Beispiel 1.1.15
Die Folge {rn}∞
n=1 ist konvergent, falls −1 < r ≤ 1 und divergent f¨ur alle anderen Werte
von r. Es gilt lim n→∞r n= ( 0, falls − 1 < r < 1, 1, falls r = 1.
(i) Falls r = 1 gilt, folgt rn= 1n = 1 und deshalb lim rn= 1.
(ii) Falls r = −1 gilt, folgt r2k = 1 und r2k−1 = −1 f¨ur k ∈ N. Deshalb divergiert die
Folge.
(iii) Falls −1 < r < 1 gilt, folgt −|r|n = −|rn| ≤ rn ≤ |rn| = |r|n. Falls wir zeigen
k¨onnen, dass die Folgen {|r|n} und {−|r|n} gegen den Grenzwert 0 konvergieren,
dann folgt die Konvergenz der Folge {rn} gegen den Grenzwert 0 sofort mit dem
Einschließungssatz. Wegen 0 ≤ |r|n+1= |r| |{z} <1 ·|r|n< |r|n ≤ 1 und 0 ≥ −|r|n+1 = − |r| |{z} <1 ·|r|n > −|r|n≥ −1
sind die Folgen {±|r|n} monoton und beschr¨ankt. Nach dem Satz von der monotonen
Beschr¨anktheit konvergieren die Folgen {±|r|n}. Seien
L+ := lim n→∞|r| n, L− := lim n→∞−|r| n ⇒ L+ = −L− .
1.2. STETIGKEIT 13 Es gilt L+= lim n→∞|r| n+1 = lim n→∞|r| · |r| n = |r| · lim n→∞|r| n = |r| |{z} <1 ·L+.
Diese Gleichung ist nur f¨ur L+ = 0 erf¨ullt. Insgesamt zeigt dies lim rn = 0 f¨ur
−1 < r < 1.
(iv) F¨ur r > 1 setze r = 1 + x mit x > 0. Die bekannte Bernoulli-Ungleichung (1 + x)n≥ 1 + nx, ∀n ∈ N liefert rn= (1 + x)n≥ 1 + nx = 1 + n(r − 1)n→∞−→ ∞. F¨ur r < −1 gilt rn = ( |r|n, n gerade, −|r|n, n ungerade.
Wegen |r| > 1 wissen wir bereits, dass ±|r|n −→ ±∞. Deshalb gilt rn → ∞ f¨ur
n → ∞, n gerade, und rn→ −∞ f¨ur n → ∞, n ungerade. Also divergiert {rn} f¨ur
|r| > 1.
1.2
Stetigkeit
Anschaulich bedeutet die Stetigkeit einer Funktion, dass sie keine Spr¨unge aufweist (beim Zeichnen des Funktionsgraphen muss man den Stift nicht absetzen). Die stetige Abh¨ angig-keit einer Funktion von ihrem Argument ist eine sehr wichtige Eigenschaft in technischen Anwendungen. Man stelle sich den zeitabh¨angigen Flug eines Flugzeugs vor. F¨ur Passa-giere w¨are es sehr unangenehm, wenn die H¨ohe nicht (mindestens) stetig von der Zeit abhinge, da dies zu instantanen Absackern in der H¨ohe f¨uhren k¨onnte.
Formal bedeutet Stetigkeit die Vertauschbarkeit von Funktionswertbildung und Grenz-wertbildung bei Ann¨aherung an eine Stelle, d.h. egal wie man sich einer Stelle n¨ahert, bei einer stetigen Funktion kommt immer derselbe Funktionswert heraus. Bei einer unsteti-gen Funktion ist dies nicht der Fall, d.h. abh¨angig davon, wie man sich einer Stelle n¨ahert (von links oder rechts), bekommt man unterschiedliche Funktionswerte.
Definition 1.2.1 (Stetigkeit)
Die Funktion f : R −→ R heißt stetig in ˆx, falls lim x→ˆxf (x) = f lim x→ˆxx = f (ˆx) c 2020 by M. Gerdts
14 KAPITEL 1. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG
gilt. f heißt stetig (auf R), falls f f¨ur alle x ∈ R stetig in x ist.
Die Grenzwertbildung lim x→ˆxf (x) = f lim x→ˆxx = f (ˆx)
ist so zu verstehen, dass f¨ur jede beliebige Folge {xn}, die gegen den Grenzwert ˆx
konver-giert, die Beziehung
lim n→∞f (xn) = f lim n→∞xn = f (ˆx)
gilt. Dies kann man auch ¨uber das ber¨uchtigte ε − δ−Kriterium ausdr¨ucken:
f ist stetig in ˆx ⇐⇒ ∀ε > 0∃δ > 0∀x : |x − ˆx| < δ =⇒ |f (x) − f (ˆx)| < ε
Beispiel 1.2.2
• Die Funktionen sin, cos, exp, Polynome sind stetig auf R. • ln ist stetig auf dem Bereich D = {x ∈ R | x > 0}.
• tan ist z.B. stetig im offenen Intervall (−π/2, π/2), aber nicht im abgeschlossenen Intervall [−π/2, π/2]. • Die Funktion f (x) = |x| = ( −x, f¨ur x ≤ 0, x, sonst ist stetig in ˆx = 0. • Die Funktion f (x) = ( 0, f¨ur x ≤ 1, x, sonst ist nicht stetig in ˆx = 1.
1.3. DIFFERENZIERBARKEIT 15
1.3
Differenzierbarkeit
Differenzierbarkeit einer Funktion bedeutet anschaulich, dass die Funktion stetig ist und keine Knickstellen hat, also einen “glatten” Funktionsgraphen besitzt.
Formal wird die Differenzierbarkeit von f an der Stelle ˆx ¨uber den Differenzenquotienten
f (x) − f (ˆx)
x − ˆx (x 6= ˆx)
definiert, wenn man den Punkt x gegen ˆx streben l¨aßt. Existiert der Grenzwert, so heißt f in ˆx differenzierbar und der Grenzwert wird als Ableitung von f an der Stelle ˆx bezeichnet, vgl. Abbildung 1.1.
Abbildung 1.1: Konvergenz der Differenzenquotienten gegen die Ableitung einer differen-zierbaren Funktion.
Definition 1.3.1 (Differenzierbarkeit)
Die Funktion f : R −→ R heißt differenzierbar in ˆx, falls der Grenzwert lim x→ˆx f (x) − f (ˆx) x − ˆx = f 0 (ˆx)
existiert. Der Wert f0(ˆx) bezeichnet die Ableitung von f in ˆx. f heißt differenzierbar (auf R), falls f f¨ur alle x ∈ R differenzierbar in x ist. f heißt stetig differenzierbar, falls f f¨ur alle x ∈ R differenzierbar in x ist und die Ableitung f0 als Funktion von x stetig ist.
c
16 KAPITEL 1. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG
Eine differenzierbare Funktion kann lokal (also in der N¨ahe von ˆx) gut durch ihre Tangente t(x) = f (ˆx) + f0(ˆx)(x − ˆx)
approximiert werden, vgl. Abbildung.
ˆ x f (x)
t(x) = f (ˆx) + f0(ˆx)(x − ˆx)
Diese lokale lineare Approximierbarkeit einer differenzierbaren Funktion nutzt man h¨aufig aus, da es wesentlich einfacher ist, mit der Tangente (affin-lineare Funktion!) zu arbeiten als mit der i.a. nichtlinearen Funktion f .
Beispiel 1.3.2 (Verdopplungszeit einer Geldanlage)
Gegeben sei eine Geldanlage, die mit j¨ahrlich x > 0 Prozent verzinst wird (x ist leider meistens nahe bei Null). Nach wievielen Jahren hat sich der eingesetzte Betrag verdoppelt? Gesucht ist die Anzahl der Jahre p mit
1 + x 100
p = 2.
Anwendung des nat¨urlichen Logarithmus auf beiden Seiten liefert ln 2 = ln1 + x 100 p = p ln1 + x 100 . Wir approximieren den Ausdruck ln 1 + x
100 durch ihre Tangente im Punkt 1 und
erhal-ten n¨aherungsweise ln1 + x 100 ≈ ln 1 |{z} =0 + ln0(1) | {z } =1 x 100 = x 100. Mit dieser N¨aherung, die f¨ur kleine x g¨ultig ist, erhalten wir
p ≈ ln(2)x 100 = 100 ln(2) x ≈ 70 x.
Damit haben wir eine recht einfache N¨aherungsformel f¨ur die Verdopplungszeit einer Geld-anlage entdeckt: Man teile 70 durch den Prozentsatz der Verzinsung.
Beispiel 1.3.3 (Linearisierung des Sinus und Cosinus) Wie verh¨alt sich der Sinus in der N¨ahe von x = 0?
1.3. DIFFERENZIERBARKEIT 17
Die Tangente an den Sinus in x = 0 lautet
t(x) = sin(0) + sin0(0)(x − 0) = 0 + cos(0)x = x,
d.h. f¨ur x nahe bei Null k¨onnen wir f (x) = sin(x) approximieren durch die lineare Funk-tion x, d.h. sin x ≈ x f¨ur x nahe bei 0.
Dieselbe Vorgehensweise beim Cosinus ergibt die Tangente mit dem konstanten Wert 1, d.h. f¨ur x nahe bei Null l¨aßt sich der Cosinus approximieren durch die Konstante 1. Diese Approximation ist h¨aufig nicht gut genug. Mithilfe der Taylorentwicklung, die in Mathematik II besprochen wird, kann man eine bessere Approximation erhalten:
cos x ≈ 1 − x
2
2 (x nahe bei 0).
Beispiel 1.3.4 (Linearisierung von (1 + x)n)
Wie verh¨alt sich die Funktion f (x) = (1 + x)n mit n ∈ N in der N¨ahe von x = 0? Die Tangente an f in x = 0 lautet
t(x) = f (0) + f0(0)(x − 0) = 1 + nx,
d.h. f¨ur x nahe bei Null k¨onnen wir f (x) = (1 + x)n approximieren durch die Funktion 1 + nx, d.h. (1 + x)n ≈ 1 + nx f¨ur x nahe bei 0.
Mit wachsendem n wird die letzte Funktion immer steiler. Bemerkung 1.3.5 (H¨ohere Ableitungen)
H¨ohere Ableitungen werden rekursiv definiert, d.h. die n-te Ableitung ergibt sich als erste Ableitung der (n − 1)-ten Ableitung von f .
Beispiel 1.3.6
(a) Die Funktion
f (x) = |x| = (
−x, f¨ur x ≤ 0, x, sonst
ist nicht differenzierbar in ˆx = 0. Denn f¨ur die Folge {xn} mit xn= n1 gilt
lim n→∞ f (xn) − f (ˆx) xn− ˆx = lim n→∞ 1 n − 0 1 n = 1, w¨ahrend f¨ur die Folge {˜xn} mit ˜xn= −n1 gilt
lim n→∞ f (˜xn) − f (ˆx) xn− ˆx = lim n→∞ 1 n− 0 −1 n = −1 6= 1 = lim n→∞ f (xn) − f (ˆx) xn− ˆx . c 2020 by M. Gerdts
18 KAPITEL 1. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG (b) Die Funktion f (x) = ( 0, f¨ur x ≤ 0, x2, sonst
ist differenzierbar in ˆx = 0. Sei {xn} eine beliebige Nullfolge. Dann gilt
lim n→∞ f (xn) − f (ˆx) xn− ˆx = lim n→∞ ( 0−0 xn , f¨ur xn ≤ 0, x2 n−0 xn , sonst = lim n→∞ ( 0, f¨ur xn ≤ 0, xn, sonst = 0 = f0(0).
f ist sogar stetig differenzierbar, da
f0(x) = (
0, f¨ur x ≤ 0, 2x, sonst
stetig ist.
1.3. DIFFERENZIERBARKEIT 19
Funktion Ableitung
c (konstante Funktion) 0
ax + b (affin-lineare Funktion) a
anxn+ an−1xn−1+ . . . + a1x + a0
(Polynom n-ten Grades)
nanxn−1+ (n − 1)an−1xn−2+ . . . + a1 sin(x) cos(x) cos(x) − sin(x) tan(x) 1 cos2(x) cot(x) − 1 sin2(x) exp(x) exp(x) ln(x) 1x arctan(x) 1+x1 2 x−n (n ∈ N) −nx−n−1 √ x = x1/2 2√1 x = 1 2x −1/2 xr, r 6= 0 rxr−1 arcsin(x) √ 1 1−x2 arccos(x) −√ 1 1−x2 arctan(x) 1+x1 2 arccot(x) − 1 1+x2 sinh(x) cosh(x) cosh(x) sinh(x) tanh(x) cosh12(x)
Tabelle 1.1: Funktionen und ihre Ableitungen.
Mithilfe der folgenden Rechenregeln kann man verkettete Funktionen ableiten: Satz 1.3.7
Es gelten folgende Rechenregeln:
(a) Produktregel: Seien f und g differenzierbar in x. Dann gilt d
dx(f (x)g(x)) = f
0
(x)g(x) + f (x)g0(x)
(b) Quotientenregel: Seien f und g stetig differenzierbar in x und g(x) 6= 0. Dann gilt d dx f (x) g(x) = f 0(x)g(x) − f (x)g0(x) g(x)2 . c 2020 by M. Gerdts
20 KAPITEL 1. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG
(c) Kettenregel: Sei g in x differenzierbar und f sei in g(x) differenzierbar. Dann gilt d
dxf (g(x)) = f
0
(g(x))g0(x).
Beispiel 1.3.8
• Die Produktregel f¨ur f (x) = x2sin(x) liefert
f0(x) = 2x sin(x) + x2cos(x) = x(2 sin(x) + x cos(x)). • Die Quotientenregel f¨ur f (x) = tan(x) = cos(x)sin(x) liefert
f0(x) = cos(x) cos(x) − sin(x)(− sin(x))
cos2(x) =
1 cos2(x).
• Die Kettenregel f¨ur f (x) = ln(1 + sin2(x)) liefert f0(x) = 1
1 + sin2(x)· 2 sin(x) cos(x) =
2 sin(x) cos(x) 1 + sin2(x) .
Die Regel von de l’Hospital verwendet Ableitungen, um Grenzwerte von Quotienten der Form lim x→a f (x) g(x) auszurechnen.
Satz 1.3.9 (de l’Hospital)
Seien f und g differenzierbar im Intervall (a, b) mit g0(x) 6= 0 in (a, b). Es gelte lim
x→af (x) = limx→ag(x) = 0 oder x→alimg(x) = ±∞.
Dann gilt lim x→a f (x) g(x) = limx→a f0(x) g0(x),
sofern der Grenzwert auf der rechten Seite existiert oder ±∞ ist. Hierbei ist a = −∞, b = ∞ zugelassen. Analoge Aussage f¨ur x → b.
1.4. INTEGRALRECHNUNG 21 Beispiel 1.3.10 • lim x→0 1 − cos x x2 = limx→0 sin x 2x = 1 2limx→0 sin x x = 1 2x→0lim cos x 1 = 1 2. • F¨ur a > 0 gilt lim x→∞ exp(ax) x = x→∞lim a exp(ax) 1 = ∞. Allgemeiner gilt f¨ur a, b > 0 lim x→∞ exp(ax) xb = x→∞lim exp(a bx) x b = ∞.
Damit w¨achst exp(ax) f¨ur a > 0 schneller als jede Potenz von x. Daraus folgt sofort, dass f¨ur a > 0
lim
x→∞p(x) exp(−ax) = 0
f¨ur jedes Polynom p gilt.
1.4
Integralrechnung
Anschaulich geht es bei der Integration um die Bestimmung des Fl¨acheninhalts der von einer gegebenen Funktion mit der x-Achse eingeschlossenen Fl¨ache. Die resultierende Gesamtfl¨ache wird als das Integral ¨uber die gegebenen Funktion bezeichnet, wobei die Fl¨achen unterhalb der x-Achse negativ in die Gesamtfl¨ache eingehen und die Fl¨achen oberhalb der x-Achse positiv eingehen, siehe Abbildung 1.2.
c
22 KAPITEL 1. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG
f
b
x
a
f(x)
+
−
+
Abbildung 1.2: Integral einer Funktion f .
Das (Riemann-)Integral einer integrierbaren Funktion f wird dabei durch einen Ann¨ ahe-rungsprozess definiert bzw. motiviert, vgl. die folgende Abbildung (Quelle: Wikipedia).
Dazu wird das das zu betrachtende Intervall [a, b] unterteilt in Zerlegungen der Form Z = {a = x0 < x1 < . . . < xn= b}.
1.4. INTEGRALRECHNUNG 23
approximiert durch die Riemann-Summe S(f, Z) =
n
X
i=1
f (ti)(xi− xi−1).
Die Funktion f heißt nun (Riemann-)integrierbar, wenn die Werte der Riemann-Summen f¨ur beliebig feine Zerlegungen und beliebige Zwischenstellen gegen einen festen Wert I konvergieren. I heißt dann Riemann-Integral von f ¨uber [a, b] und man schreibt hierf¨ur
I = I[f ] = Z b
a
f (x)dx.
Nicht alle Funktionen sind tats¨achlich Riemann-integrierbar, aber man kann zeigen, dass z.B. die stetigen Funktionen Riemann-integrierbar sind, d.h. f¨ur stetige Funktionen exi-stiert das Integral.
Rechenregeln:
• Linearit¨at des Integrals: F¨ur integrierbare Funktionen f und g und c ∈ R gelten Z b a f (x) + g(x)dx = Z b a f (x)dx + Z b a g(x)dx, Z b a cf (x)dx = c Z b a f (x)dx.
• Additivit¨at des Integrals: F¨ur a ≤ c ≤ b gilt Z b a f (x)dx = Z c a f (x)dx + Z b c f (x)dx.
• Monotonie des Integrals: F¨ur integrierbare Funktionen f und g mit f (x) ≤ g(x) f¨ur alle x ∈ [a, b] gilt
Z b a f (x)dx ≤ Z b a g(x)dx. Gilt sogar f (x) < g(x) f¨ur alle x ∈ [a, b], so gilt
Z b a f (x)dx < Z b a g(x)dx. • Es gilt Z b a f (x)dx ≤ Z b a |f (x)|dx. c 2020 by M. Gerdts
24 KAPITEL 1. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG
• Es gilt die Cauchy-Schwarz’sche Ungleichung Z b a f (x)g(x)dx 2 ≤ Z b a f (x)2dx Z b a g(x)2dx .
• Vertauschung der Integrationsgrenzen: Z b a f (x)dx = − Z a b f (x)dx.
• Integration ¨uber Intervall der L¨ange 0: Z a
a
f (x)dx = 0.
Eine wichtige Rolle bei der Integration spielen Stammfunktionen. Definition 1.4.1 (Stammfunktion)
Die Funktion F : [a, b] −→ R heißt Stammfunktion von f : [a, b] −→ R, falls F0(x) = f (x) f¨ur alle x ∈ [a, b] gilt.
Gelingt es, eine Stammfunktion des Integranden zu bestimmen, so kann man Integrale leicht berechnen, wie der folgende Satz zeigt.
Satz 1.4.2 (Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung) Ist F eine Stammfunktion von f auf dem Intervall [a, b], so gilt
Z b
a
f (x)dx = F (b) − F (a). F¨ur die rechte Seite schreibt man h¨aufig F (b) − F (a) = [F (x)]ba.
Beispiel 1.4.3
Die Stammfunktion von f (x) = √x = x1/2 lautet
F (x) = 2 3x 3/2 = 2 3 √ x3. (Beweis: Leite F nach x ab!)
1.4. INTEGRALRECHNUNG 25 Damit: Z 1 0 √ xdx = F (1) − F (0) = 2 3.
Die eigentliche Kunst (es ist mitunter tats¨achlich eine!) bei der Integration ist es also, eine Stammfunktion f¨ur den Integranden zu finden. Definiert man umgekehrt f¨ur x ∈ [a, b] die Funktion F durch
F (x) := Z x
a
f (t)dt, wobei f eine stetige Funktion auf [a, b] sei, so gilt
F0(x) = f (x) f¨ur alle x ∈ (a, b), d.h. das so definierte F ist eine Stammfunktion von f auf [a, b]. Bemerkung 1.4.4
Beachte, dass mit F auch jede Funktion F + c mit einer beliebigen Konstanten c ∈ R eine Stammfunktion von f ist. Daher l¨aßt man h¨aufig die Intervallgrenzen weg und interpretiert eine Stammfunktion als unbestimmtes Integral von f . Schreibweise:
F (x) = Z f (x)dx oder F (x) = c + Z f (x)dx. Beispiel 1.4.5
• Das Integral ¨uber die konstante Funktion f (x) = c mit c ∈ R ist gegeben durch Z b a f (x)dx = Z b a cdx = c Z b a 1dx = c(b − a).
• Das unbestimmte Integral ¨uber f (x) = xn mit n ∈ N lautet
Z
xndx = 1 n + 1x
n+1
. Das bestimmte Integral ergibt sich zu
Z b a xndx = 1 n + 1x n+1 b a = 1 n + 1 b n+1− an+1 . c 2020 by M. Gerdts
26 KAPITEL 1. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG
Mithilfe der Linearit¨at des Integrals erh¨alt man damit f¨ur Polynome das Integral Z anxn+ an−1xn−1+ . . . + a1x + a0dx = Z n X k=0 akxk ! dx = n X k=0 ak Z xkdx = n X k=0 ak k + 1x k+1 = an n + 1x n+1 + an−1 n x n + . . . + a1 2 x 2 +a0 1x. • F¨ur f (x) = xr, r ∈ R, r 6= −1, gilt Z xrdx = 1 r + 1x r+1. • F¨ur f (x) = 1 x = x −1 gilt Z 1 xdx = ln(|x|). • F¨ur f (x) = exp(x) gilt Z exp(x)dx = exp(x). • F¨ur f (x) = 1+x1 2 gilt Z 1 1 + x2dx = arctan(x).
• F¨ur die trigonometrischen Funktionen gilt: Z
sin(x)dx = − cos(x), Z
cos(x)dx = sin(x).
Dar¨uber hinaus gelten die bekannten Rechenregeln f¨ur Integrale: Satz 1.4.6
Es gelten folgende Rechenregeln:
(a) Partielle Integration: Seien f und g stetig differenzierbar. Dann gilt Z b a f0(x)g(x)dx = [f (x)g(x)]ba− Z b a f (x)g0(x)dx.
1.4. INTEGRALRECHNUNG 27
(b) Substitutionsregel: Seien f stetig und g stetig differenzierbar. Dann gilt Z b a f (g(x))g0(x)dx = Z g(b) g(a) f (t)dt. Beispiel 1.4.7 • Partielle Integration: Z b a x |{z} =f0(x) ln(x) | {z } =g(x) dx = 1 2x 2ln(x) b a − Z b a 1 2x 21 x dx = 1 2x 2ln(x) b a −1 2 Z b a x dx = 1 2x 2ln(x) b a − 1 4x 2 b a = 1 2b 2 ln(b) − 1 4b 2− 1 2a 2 ln(a) + 1 4a 2 = 1 2b 2 ln(b) −1 2 − 1 2a 2 ln(a) − 1 2 .
• Zur Berechnung des Integrals Z 2 0 x cos(x2+ 1) dx = 1 2 Z 2 0 2x cos(x2+ 1) dx
verwenden wir die Substitution t = g(x) = x2 + 1 und dt = g0(x)dx = 2xdx 1 Einsetzen und Anwendung der Substitutionsformel liefert
Z 2 0 x cos(x2 + 1) dx = 1 2 Z 2 0 2x cos(x2+ 1) dx = 1 2 Z 5 1 2x cos(t) 1 2xdt = 1 2 Z 5 1 cos(t)dt = 1 2[sin(t)] 5 1 = 1 2(sin(5) − sin(1)) .
1Formal m¨ussen wir hier die Funktion t = t(x) nach x differenzieren, d.h. dt dx =
dg(x)
dx = 2x. Anschlie-ßend rechnen wir mit dt und dx wie mit normalen Zahlen und erhalten dt = 2xdx bzw. dx = dt/(2x).
c
28 KAPITEL 1. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG
Wichtig: Vergessen Sie nicht, die Intervallgrenzen zu transformieren. In diesem Bei-spiel lief die Variable x zwischen 0 und 2. Die Variable t = x2+1 l¨auft damit zwischen
1 (x = 0 einsetzen) und 5 (x = 2 einsetzen).
Schließlich betrachten wir noch uneigentliche Integrale. Definition 1.4.8 (Uneigentliches Integral)
Unter einem uneigentlichen Integral verstehen wir die Integrale Z ∞ a f (x)dx, Z ∞ −∞ f (x)dx, Z b −∞ f (x)dx, welche formal definiert sind als
Z ∞ a f (x)dx = lim b→∞ Z b a f (x)dx, Z ∞ −∞ f (x)dx = lim a→−∞,b→∞ Z b a f (x)dx, Z b −∞ f (x)dx = lim a→−∞ Z b a f (x)dx. Beispiel 1.4.9 (a) Es gilt Z ∞ 1 1 x2dx = limb→∞ Z b 1 1 x2dx = limb→∞−x −1b 1 = limb→∞ 1 − 1 b = 1. (b) Es gilt Z ∞ 1 1 xdx = limb→∞ Z b 1 1 xdx = limb→∞[ln(|x|)] b 1 = limb→∞(ln(b) − 0) = ∞. 1.4.1 Partialbruchzerlegung
Ist der Integrand eine rationale Funktion der Form f (x) = p(x)
1.4. INTEGRALRECHNUNG 29
mit Polynomen p und q, so l¨asst sich i.A. nur schwer eine Stammfunktion direkt angeben. Man behilft sich hier mit der Partialbruchzerlegung von f , die wir an folgendem Beispiel erkl¨aren.
Beispiel 1.4.10 (Partialbruchzerlegung) Wir m¨ochten das Integral
Z
f (x) dx mit f (x) = x − 1 x2− x − 2
berechnen. Indem wir die Nullstellen des Nenners ausrechnen, stellen wir fest, dass der Nenner sich schreiben l¨asst als
x2− x − 2 = (x − 2)(x + 1). Wir m¨ochten f darstellen als
f (x) = a x − 2 +
b x + 1. Die Koeffizienten a und b werden nun so gew¨ahlt, dass
f (x) = x − 1 x2− x − 2 ! = a x − 2 + b x + 1 = a(x + 1) + b(x − 2) (x − 2)(x + 1) = (a + b)x + a − 2b (x − 2)(x + 1) gilt. Koeffizientenvergleich im Z¨ahler f¨uhrt auf die beiden Gleichungen
a + b = 1 a − 2b = −1 ) ⇐⇒ a = 1 3, b = 2 3. Damit l¨aßt sich f darstellen als
f (x) = 1 3(x − 2) +
2 3(x + 1).
Mit dieser Darstellung k¨onnen wir leicht das Integral ausrechnen und erhalten: Z f (x) dx = Z 1 3(x − 2) + 2 3(x + 1) dx = 1 3 Z 1 x − 2 dx + 2 3 Z 1 x + 1 dx = 1 3ln(|x − 2|) + 2 3ln(|x + 1|).
Die Vorgehensweise im Beispiel l¨asst sich allgemeiner durchf¨uhren, solange der Polynom-grad des Z¨ahlers kleiner als der Polynomgrad des Nenners ist. O.B.d.A. sei q normiert,
c
30 KAPITEL 1. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG
d.h. der Koeffizient vor der h¨ochsten Potenz ist 1. Man ben¨otigt eine Zerlegung des Nen-nerpolynoms q in Linearfaktoren gem¨aß
q(x) = (x − x1)r1 · (x − x2)r2· · · (x − xn)rn, (1.1)
wobei xi, i = 1, . . . , n, Die Nullstellen von q und ri, i = 1, . . . , n, deren Vielfachheiten
sind.
Abh¨angig von der Vielfachheit der Nullstellen setzt sich die Partialbruchzerlegung von f aus den folgenden Termen zusammen:
• Falls xi eine einfache reelle Nullstelle ist, w¨ahle den Ansatz
ai
x − xi
.
• Falls xi eine ri-fache reelle Nullstelle ist, w¨ahle den Ansatz
ai,1 x − xi + ai,2 (x − xi)2 + . . . + ai,ri (x − xi)ri .
• Falls xi eine einfache komplexe Nullstelle ist, w¨ahle den Ansatz
bix + ci
(x − xi)(x − ¯xi)
.
Beachte, dass mit xi auch die konjugiert komplexe Zahl ¯xi eine Nullstelle von q ist,
d.h. in (1.1) tritt neben dem Faktor x − xi auch der Faktor x − ¯xi auf. Den obigen
Ansatz w¨ahlt man f¨ur beide Faktoren gemeinsam.
• Falls xi eine mehrfache komplexe Nullstelle ist, w¨ahle den Ansatz
bi,1x + ci,1 (x − xi)(x − ¯xi) + bi,2x + ci,2 ((x − xi)(x − ¯xi))2 + . . . + bi,rix + ci,ri ((x − xi)(x − ¯xi))ri .
Beachte, dass mit xi auch die konjugiert komplexe Zahl ¯xi eine Nullstelle von q ist,
d.h. in (1.1) tritt neben dem Faktor (x − xi)ri auch der Faktor (x − ¯xi)ri auf. Den
obigen Ansatz w¨ahlt man f¨ur beide Faktoren gemeinsam.
Beispiel 1.4.11 (Partialbruchzerlegung mit komplexen Nullstellen) Betrachte die Funktion
f (x) = 2x
3+ x2+ 8x + 6
(x2+ 1)(x2+ 4) .
Partialbruch-1.4. INTEGRALRECHNUNG 31
zerlegung von f w¨ahlen wir den Ansatz f (x) = ax + b (x − i)(x + i)+ cx + d (x − 2i)(x + 2i) = ax + b x2+ 1 + cx + d x2 + 4.
Bringt man die Br¨uche auf denselben Nenner, f¨uhrt einen Koeffizientvergleich durch und l¨ost das resultierende lineare Gleichungssystem ( ¨Ubung!), so erh¨alt man die L¨osung
a = 2, b = 5
3, c = 0, d = − 2 3. ¨
Ubung: Berechne das Integral von f .
1.4.2 Fl¨ache eines Kreises
Wir betrachten einen Kreis K mit Radius R um den Nullpunkt und m¨ochten dessen Fl¨ache berechnen. Wir k¨onnen den Kreis auf verschiedene Arten darstellen. In kartesischen Koordinaten, also dem ¨ublichen (x, y)-Koordinatensystem, wird der Kreis durch die Menge
K = {(x, y) ∈ R2 | x2+ y2 ≤ R2}
beschrieben. Den Rand der oberen Kreish¨alfte kann man darstellen durch die Funktion f (x) =√R2− x2 (−R ≤ x ≤ R).
Der Rand der unteren Kreish¨alfte ist dann durch −f (x) gegeben. Da der Kreis symme-trisch ist, ist die Kreisfl¨ache F gegeben durch
F = 2 Z R −R f (x)dx = 2 Z R −R √ R2− x2dx.
Um dieses Integral auszurechnen, verwenden wir die Substitution x = R sin ϕ mit ϕ ∈ [−π/2, π/2]. Mit dx = R cos(ϕ)dϕ ergibt sich
Z R −R √ R2− x2dx = Z π/2 −π/2 s R2(1 − sin2ϕ) | {z } =cos2ϕ (R cos(ϕ))dϕ = R2 Z π/2 −π/2 cos2(ϕ)dϕ. Partielle Integration liefert
Z π/2
−π/2
cos2(ϕ)dϕ = [sin ϕ cos ϕ]π/2−π/2
| {z } =0 + Z π/2 −π/2 sin2ϕdϕ = Z π/2 −π/2 1 − cos2ϕdϕ = π − Z π/2 −π/2 cos2ϕdϕ. c 2020 by M. Gerdts
32 KAPITEL 1. DIFFERENTIAL- UND INTEGRALRECHNUNG Also: Z π/2 −π/2 cos2(ϕ)dϕ = π 2. Einsetzen liefert die Kreisfl¨ache
F = 2 Z R −R √ R2− x2dx = 2π 2R 2 = πR2.
1.4.3 Umfang eines Kreises, Oberfl¨ache einer Kugel, Volumen einer Kugel In Mathematik III werden wir lernen, wie man mit der Polarkoordinatendarstellung den Umfang eines Kreises bzw. die Oberfl¨ache bzw. das Volumen einer Kugel berechnen kann. Hierzu muss man ebenfalls bestimmte Integrale auswerten. Das Ergebnis nehmen wir hier schon vorweg.
Der Umfang eines Kreises mit Radius R betr¨agt
2πR (Umfang eines Kreises mit Radius R). Die Oberfl¨ache einer Kugel mit Radius R betr¨agt
4πR2 (Oberfl¨ache einer Kugel mit Radius R). Das Volumen einer Kugel mit Radius R betr¨agt
4 3πR
Kapitel 2
Reihen, Potenzreihen, Taylorreihen
2.1
Reihen
Beispiel 2.1.1 (H¨upfender Ball)
Wir betrachten einen h¨upfenden Ball mit Masse m, der zum Zeitpunkt t0 = 0 die H¨ohe
h(t0) = 0 mit Geschwindigkeit v(t0) = v0 > 0 hat. Der Ball habe also gerade Bodenkontakt
und bewegt sich mit positiver Geschwindigkeit vertikal nach oben.
L¨asst man den Ball h¨upfen, so ergeben sich Kontaktzeitpunkte und der Ball prallt dort je-weils mit einer bestimmten Geschwindigkeit ab. Wir wollen folgende Punkte untersuchen:
• Welche Kontaktzeitpunkte ergeben sich und wie verhalten sie sich?
• Was kann man ¨uber die Geschwindigkeiten an den Kontaktzeitpunkten aussagen? Nach dem Newton’schen Gesetz bewegt sich der Ball zwischen dem Kontaktpunkt t0 = 0
und dem n¨achsten Kontaktpunkt t1 mit Beschleunigung −mg gem¨aß der
Differentialglei-chung
mh00(t) = −mg, h(t0) = 0, h0(t0) = v0.
Daraus ergibt sich die Geschwindigkeit zum Zeitpunkt t ∈ (t0, t1) durch Integration:
v(t) = h0(t) = v0− gt.
Erneutes Integrieren liefert die H¨ohe h(t) = v0t −
g 2t
2 (t ∈ (t 0, t1)).
Der n¨achste Kontaktpunkt ist charakterisiert durch 0 = h(t1) = t1(v0−
g
2t1) bzw. t1 = 2v0
g .
Unmittelbar nach dem Kontakt im Punkt t1 ¨andert sich die Geschwindigkeit gem¨aß des
Stoßgesetzes
v(t+1) = −v(t−1),
wobei ∈ [0, 1] das Elastizit¨atsmodul und v(t+1) bzw. v(t−1) den rechts- und linksseitigen Grenzwert von v in t1 bezeichnen.
34 KAPITEL 2. REIHEN, POTENZREIHEN, TAYLORREIHEN
Es folgt
v(t+1) = −v(t−1) = − (v0− gt1) = v0,
wobei = 0 einem inelastischen Stoß und ε = 1 einem vollelastischen Stoß entspricht. Im Punkt t1 gilt also v1 := v(t+1) = v(t
+
0) und h(t1) = 0. Wir k¨onnen das obige Argument
also wiederholen und erhalten eine Folge {ti}i∈N0 von Kontaktpunkten mit rechtsseitigen
Geschwindigkeiten {vi}i∈N0 und den Beziehungen
ti+1= ti+ 2vi g , vi = vi−1= 2v i−2= . . . = iv0. F¨ur 0 < ε < 1 gilt: lim i→∞v(t +
i ) = i→∞lim vi = lim i→∞ iv 0 = 0, tN = N −1 X i=0 ti+1− ti = N −1 X i=0 2vi g = 2v0 g N −1 X i=0 i.
Um herauszufinden, was mit den Kontaktzeitpunkten tN f¨ur N → ∞ passiert, m¨ussen wir
die sogenannte Reihe
∞
X
i=0
i untersuchen.
W¨ahrend Folgen geeignet sind, einzelne reelle Werte zu approximieren, eignen sich Reihen (genauer Potenzreihen), um ganze Funktionen zu beschreiben bzw. zu approximieren. Definition 2.1.2 (Reihe)
Die Summe
a1+ a2+ . . . + an+ . . .
von unendlich vielen (reellen) Zahlen a1, a2, . . . , an, . . . heißt Reihe und wird mit ∞ X n=1 an oder X an (2.1) bezeichnet.
Werden nur endlich viele Terme addiert, so ist die resultierende Summe nat¨urlich eine endliche Zahl. Zum Beispiel kann man mittels vollst¨andiger Induktion zeigen, dass
n
X
k=1
k = n(n + 1)
2.1. REIHEN 35 und n X k=1 k2 = n(n + 1)(2n + 1) 6 (2.3)
gelten. Die Situation ¨andert sich, wenn Reihen, also Summen von unendlich vielen Termen, betrachtet werden. Zum Beispiel streben die Summen in (2.2) und (2.3) f¨ur n → ∞ gegen +∞ und die speziellen Reihen besitzen keinen endlichen Wert.
Es gibt jedoch auch Reihen mit endlichem Wert. Addieren wir zum Beispiel die Terme ak = 21k von 1 bis n, so erhalten wir
1 2+ 1 22 + . . . + 1 2n = 1 − 1 2n,
was wiederum mittels vollst¨andiger Induktion bewiesen werden kann. F¨ur n → ∞ kon-vergiert der Wert offenbar gegen 1 und es gilt
∞
X
n=1
1 2n = 1.
Ob die Reihe (2.1) im obigen Beispiel einen endlichen Wert besitzt oder nicht, haben wir durch Betrachtung der Folge {sn}∞n=1 der sogenannten Partialsummen entschieden.
Definition 2.1.3 (Konvergenz, Divergenz) Gegeben sei die Reihe (2.1). Es bezeichne
sn = n
X
i=1
ai
die n-te Partialsumme.
(a) Die ReiheP an heißt konvergent, falls die Folge der Partialsummen {sn}
konver-giert. Die Reihe P an heißt divergent, falls sie nicht konvergiert.
(b) Falls der Wert
s = lim n→∞sn = limn→∞ n X i=1 ai
existiert (d.h. endlich ist), so heißt s die Summe oder der Wert der Reihe und wir schreiben s = ∞ X n=1 an = lim n→∞ n X i=1 ai ! . c 2020 by M. Gerdts
36 KAPITEL 2. REIHEN, POTENZREIHEN, TAYLORREIHEN
Beispiel 2.1.4 (Geometrische Reihe) Die geometrische Reihe
∞ X n=1 a · rn−1 = ∞ X k=0 a · rk= a + ar + ar2+ · · · mit a 6= 0 konvergiert f¨ur |r| < 1 und ihre Summe lautet
∞
X
n=1
a · rn−1 = a
1 − r (|r| < 1). F¨ur |r| ≥ 1 divergiert die geometrische Reihe.
Beweis: F¨ur r = 1 gilt sn= na → ±∞ und die geometrische Reihe divergiert. F¨ur r 6= 1
erhalten wir
sn = a + ar + ar2+ . . . + arn−1,
rsn = ar + ar2+ . . . + arn−1+ arn.
Subtraktion dieser Gleichungen liefert
sn− rsn = a(1 − rn) ⇒ sn= a
1 − rn 1 − r .
F¨ur −1 < r < 1 haben wir in Beispiel 1.1.15 gezeigt, dass {rn} gegen den Grenzwert 0
konvergiert. Folglich gilt in diesem Fall lim
n→∞sn = a
1 1 − r.
F¨ur r ≤ −1 oder r > 1 divergiert die Folge {rn} und damit divergiert auch {s n}.
Beispiel 2.1.5 (Harmonische Reihe) Die harmonische Reihe
∞ X n=1 1 n = 1 + 1 2 + 1 3 + · · · ist divergent.
Beweis: Wir betrachten nur die Partialsummen s2k f¨ur k ∈ N und erhalten
s1 = 1, s2 = 1 + 1 2, s4 = 1 + 1 2 + 1 3 + 1 4 > 1 + 1 2 + 1 4 + 1 4 = 1 + 2 2, s8 = 1 + 1 2 + 1 3 + 1 4 + 1 5+ 1 6+ 1 7+ 1 8 > 1 + 1 2 + 1 4 + 1 4 + 1 8+ 1 8+ 1 8+ 1 8 = 1 + 1 2 + 1 2 + 1 2 = 1 + 3 2
2.1. REIHEN 37
Entsprechend erhalten wir s16> 1 + 4 2, s32> 1 + 5 2, . . . , s2k > 1 + k 2. Wegen lim k→∞s2
k = ∞ ist {sn} divergent. Also divergiert die harmonische Reihe.
Der folgende Satz liefert eine notwendige (aber nicht hinreichende!) Bedingung f¨ur die Konvergenz einer Reihe.
Satz 2.1.6
Konvergiert die Reihe
∞
X
n=1
an, so gilt lim
n→∞an = 0.
Beweis: Sei sn die n-te Partialsumme und s der Wert der Reihe. Da die Reihe als
konvergent vorausgesetzt wurde, gilt s = lim
n→∞sn= limn→∞sn−1.
Beachte, dass an = sn− sn−1. Folglich gilt
lim
n→∞an= limn→∞(sn− sn−1) = limn→∞sn− limn→∞sn−1 = s − s = 0.
Bemerkung 2.1.7
Die Umkehrung des Satzes 2.1.6 ist nicht wahr, wie die harmonische Reihe zeigt.
Satz 2.1.6 stellt ein einfach zu ¨uberpr¨ufendes Kriterium zur Divergenz einer Reihe dar. Hilfsatz 2.1.8 (Test auf Divergenz)
Falls die Folge {an} divergiert oder lim
n→∞an 6= 0 gilt, dann divergiert die Reihe ∞
X
n=1
an.
Durch Anwendung der Rechenregeln f¨ur Folgen auf die Folge der Partialsummen einer Reihe erhalten wir folgende Rechenregeln f¨ur Reihen, die es erlauben, konvergent Reihen zu addieren und zu skalieren.
Satz 2.1.9
Seien P an und P bn konvergente Reihen und c eine Konstante. Dann konvergieren auch
c
38 KAPITEL 2. REIHEN, POTENZREIHEN, TAYLORREIHEN
die Reihen P(an± bn) und P can und es gilt: ∞ X n=1 (an± bn) = ∞ X n=1 an± ∞ X n=1 bn, ∞ X n=1 can = c ∞ X n=1 an. 2.1.1 Vergleichstests
Die Idee der Vergleichstests besteht im Vergleich einer gegebenen (unbekannten) Reihe mit einer bekannten divergenten oder konvergenten Reihe. Eine geeignete Vergleichsreihe ist
X
arn geometrische Reihe,
Die folgenden S¨atze verdeutlichen, wie eine Reihe mit einer bekannten Reihe verglichen werden kann.
Satz 2.1.10 (Vergleichstest)
Seien P an und P bn Reihen mit an, bn≥ 0.
(a) Majorantenkriterium: Ist P bn konvergent und gilt an≤ bn f¨ur alle n, so ist die
Reihe P an konvergent.
(b) Minorantenkriterium: Ist P bn divergent und gilt an ≥ bn f¨ur alle n, so ist die
Reihe P an divergent.
Beweis:
(a) Seien sn und tn die n-ten Partialsummen von P an und P bn. Sei t = P bn. Wegen
an, bn ≥ 0 sind die Folgen {sn} und {tn} monoton wachsend. Desweiteren gilt sn ≤
tn≤ t wegen ai ≤ bi. Damit ist {sn} monoton wachsend und nach oben beschr¨ankt
und somit konvergent nach Satz 1.1.13.
(b) Ist P bn divergent, so gilt tn → ∞ (tn ist monoton wachsend). Wegen an ≥ bn f¨ur
2.1. REIHEN 39 Beispiel 2.1.11 (i) P 2 2n+1 ist konvergent, da 2 2n+ 1 ≤ 2 2n = 2 1 2 n ∀n und P 2 1 2 n
ist eine konvergente geometrische Reihe mit a = 2 und r = 1/2. (ii) P ln(n)/n ist divergent, da
ln(n)
n ≥
1
n ∀n ≥ 3 und P 1/n ist die divergente harmonische Reihe.
Ein weitere Konvergenz- bzw. Divergenztest ist gegeben durch Satz 2.1.12 (Grenzwertvergleichstest)
Seien P an und P bn Reihen mit an, bn ≥ 0. Falls
lim
n→∞
an
bn
= c
f¨ur eine endliche Zahl c > 0 gilt, so sind beide Reihen entweder konvergent oder divergent.
Beispiel 2.1.13
Ist P an :=P 1/(2n− 1) konvergent? Der Grenzwertvergleichstest mit der konvergenten
geometrischen Reihe P bn :=P(1/2)n liefert
lim n→∞ 2n 2n− 1 = limn→∞ 1 1 − 1/2n = 1 > 0. Daher konvergiert P 1/(2n− 1). 2.1.2 Alternierende Reihen
Bis jetzt haben wir nur Resultate f¨ur Reihen mit nicht-negativen Summanden erhalten. F¨ur Reihen mit positiven und negativen Summanden ist die Konvergenzanalyse kom-plizierter. Eine wichtige Klasse sind alternierende Reihen, deren Summanden alter-nierende Vorzeichen haben. Allgemein kann eine alteralter-nierende Reihe dargestellt werden
c
40 KAPITEL 2. REIHEN, POTENZREIHEN, TAYLORREIHEN als ∞ X n=1 an mit an= (−1)n−1bn oder an= (−1)nbn,
wobei bn nicht-negative Terme sind.
Beispiel 2.1.14 (Alternierende harmonische Reihe)
∞ X n=1 (−1)n−11 n = 1 − 1 2 + 1 3 − 1 4± . . .
Wie zuvor sind wir an Konvergenztests f¨ur alternierende Reihen interessiert. Satz 2.1.15 (Konvergenztest f¨ur alternierende Reihen)
Falls die alternierende Reihe
∞ X n=1 (−1)n−1bn, bn≥ 0 die Bedingungen (a) bn+1≤ bn f¨ur alle n, (b) lim n→∞bn= 0
erf¨ullt, dann ist sie konvergent.
Beweis: Betrachte die geraden Partialsummen s2n. Wegen b2n ≤ b2n−1 gilt
s2n = s2n−2+ (b2n−1− b2n) ≥ s2n−2.
Daher ist {s2n} eine monoton wachsende Folge. Außerdem gilt
s2n = b1− (b2 − b3) | {z } ≥0 − (b4− b5) | {z } ≥0 − . . . − (b2n−2− b2n−1) | {z } ≥0 − b2n |{z} >0 ≤ b1.
Daher ist {s2n} nach oben beschr¨ankt. Gem¨aß Satz 1.1.13 ist sie konvergent. Es bezeichne
s den Grenzwert von {s2n}.
Der Grenzwert der ungeraden Partialsummen berechnet sich zu lim
n→∞s2n+1 = limn→∞(s2n+ b2n+1) = limn→∞s2n+ limn→∞bsn+1 = s + 0 = s.
Es folgt lim
2.1. REIHEN 41
Beispiel 2.1.16
Die alternierende harmonische Reihe erf¨ullt lim bn = limn1 = 0 und bn= n1 ≥ n+11 = bn+1
und ist daher konvergent.
2.1.3 Absolute Konvergenz
Bisher haben wir haupts¨achlich Konvergenztests f¨ur Reihen mit nicht-negativen und al-ternierenden Summanden erhalten. F¨ur Reihen, die nicht in diese Kategorien fallen, haben wir bisher wenige M¨oglichkeiten zu entscheiden, ob sie konvergieren oder divergieren. Ge-legentlich hilft hier das Konzept der absoluten Konvergenz.
Definition 2.1.17 (Absolute Konvergenz)
Die Reihe P an heißt absolut konvergent, wenn die Reihe P |an| der
Summandenbe-tr¨age konvergiert.
Klar: Hat eine Reihe ausschließlich nicht-negative Summanden und ist sie konvergent, so ist sie auch absolut konvergent. Aber eine konvergente Reihe mit positiven und negativen Summanden muss nicht absolut konvergent sein.
Beispiel 2.1.18
Wir wissen bereits, dass die alternierende harmonische Reihe
∞
X
n=1
(−1)n−11 n
konvergiert. Jedoch ist sie nicht absolut konvergent, da die harmonische Reihe
∞ X n=1 (−1) n−11 n = ∞ X n=1 1 n divergiert.
Definition 2.1.19 (Uneigentliche Konvergenz)
Die ReiheP an heißt uneigentlich konvergent, falls sie konvergiert, aber nicht absolut
konvergiert.
Absolute Konvergenz ist eine strengere Eigenschaft als Konvergenz.
c
42 KAPITEL 2. REIHEN, POTENZREIHEN, TAYLORREIHEN
Satz 2.1.20
Ist die Reihe P an absolut konvergent, so ist sie auch konvergent.
Beweis: IstP anabsolut konvergent, dann ist P |an| konvergent und gem¨aß Satz 2.1.9
ist P 2|an| konvergent. Wegen 0 ≤ an+ |an| ≤ 2|an| ist P(an+ |an|) gem¨aß dem
Ver-gleichstest 2.1.10 konvergent. Dann ist X an = X (an+ |an|) − X |an|
als Differenz zweier konvergenter Reihen gem¨aß Satz 2.1.9 konvergent.
Die folgenden Tests sind sehr n¨utzlich, um zu entscheiden, ob eine Reihe absolut konver-giert oder nicht: Das Quotientenkriterium und das Wurzelkriterium. Letzteres ist besonders n¨utzlich, wenn an n-te Potenzen enth¨alt.
Satz 2.1.21 (Quotientenkriterium) (a) lim n→∞ an+1 an = L < 1 =⇒ ∞ X n=1
an ist absolut konvergent
(b) lim n→∞ an+1 an = L > 1 =⇒ ∞ X n=1 an ist divergent Beweis:
(a) Wir vergleichen die Reihe mit einer konvergenten geometrischen Reihe. Sei r gegeben mit L < r < 1. Wegen |an+1/an| → L gibt es eine Zahl N = N (r) mit
an+1 an < r ∀n > N ⇒ |an+1| < |an|r ∀n > N. Rekursiv folgt |aN +k| < |aN|rk ∀k ≥ 1. (2.4) Die Reihe ∞ X k=1 |aN|rk
2.1. REIHEN 43
ist als geometrische Reihe mit 0 < r < 1 konvergent. Mit (2.4) und dem Vergleich-stest 2.1.10 folgt, dass
∞ X n=N +1 |an| = ∞ X k=1 |aN +k|
konvergiert. Da eine endliche Anzahl an Summanden die Konvergenz der Reihe nicht beeinflusst, konvergiertP |an|, und P an ist absolut konvergent.
(b) Falls |an+1/an| → L > 1, dann gibt es eine Zahl N mit |an+1/an| > 1 f¨ur alle n > N .
Es folgt |an+1| > |an| f¨ur alle n > N und somit lim an 6= 0. Gem¨aß Divergenztest
divergiert P an.
Bemerkung 2.1.22
Im Fall L = 1 in Satz 2.1.21 liefert das Quotientenkriterium keine Information ¨uber Konvergenz oder Divergenz. Beide Alternativen k¨onnen auftreten. Zum Beispiel gilt f¨ur die divergente harmonische Reihe P 1/n die Beziehung |an+1/an| = |n/(n + 1)| −→ 1,
w¨ahrend f¨ur die konvergente Reihe P 1/n2 ebenfalls |a
n+1/an| = |n2/(n + 1)2| −→ 1 gilt. Satz 2.1.23 (Wurzelkriterium) (a) lim n→∞ n p|an| = L < 1 =⇒ ∞ X n=1
an ist absolut konvergent
(b) lim n→∞ n p|an| = L > 1 =⇒ ∞ X n=1 an ist divergent
Beweis: Analog zum Beweis des Quotientenkriteriums mit p|an
n| < r f¨ur alle n > N .
Dies impliziert |an| < rn f¨ur alle n > N . Vergleich mit der geometrischen Reihe liefert die
absolute Konvergenz der ReiheP an.
Bemerkung 2.1.24
Im Fall L = 1 in Satz 2.1.23 liefert auch das Wurzelkriterium keine Information ¨uber Konvergenz oder Divergenz. Beide Alternative k¨onnen auftreten.
Es stellt sich die Frage, was eigentlich der Unterschied zwischen einer absolut konvergenten c
44 KAPITEL 2. REIHEN, POTENZREIHEN, TAYLORREIHEN
und einer uneigentlich konvergenten Reihe ist.
Beachte, dass es f¨ur endliche Summen keine Rolle spielt, in welcher Reihenfolge die Sum-manden addiert werden. Der Wert der Summe wird dadurch nicht beeinflusst. F¨ur un-endliche Reihen ist dies nicht mehr der Fall. Es zeigt sich:
• F¨ur absolut konvergente Reihen P an beeinflusst eine Umsortierung der
Sum-manden den Wert s der Reihe nicht. Jede Umsortierung der SumSum-manden in P an
liefert denselben Wert.
• Ist P an uneigentlich konvergent und r eine beliebige reelle Zahl, dann gibt es
nach einem Satz von Riemann eine Umsortierung der Summanden vonP anmit der
Summe r. Man kann also durch Umsortieren erreichen, dass die Reihe jeden belie-bigen reellen Wert annimmt. Die Summe bleibt nicht dieselbe f¨ur Umsortierungen.
2.2
Potenzreihen
Wir werden nun mit Hilfe von Reihen Funktionen in der Variablen x definieren. Ziel wird es sp¨ater sein, eine gegebene Funktionen f durch derartige Potenzreihen zu approximieren. Das hat den Vorteil, dass Potenzreihen relativ leicht handhabbar sind, man kann unter gewissen Voraussetzungen sogar gliedweise differenzieren und untegrieren.
Definition 2.2.1 (Potenzreihe) Die Reihe f (x) = ∞ X n=0 cn(x − a)n = c0+ c1(x − a) + c2(x − a)2+ . . .
heißt Potenzreihe in (x − a) oder Potenzreihe mit Entwicklungspunkt a oder Potenzreihe um a.
Beachte, dass der Funktionswert f (x) nur dann wohldefiniert ist, wenn die Potenzreihe f¨ur das gegebene x konvergiert. Der Definitionsbereich der Funktion f ist gegeben durch die Menge aller Punkte x, f¨ur die die Potenzreihe konvergiert.
Beispiel 2.2.2
F¨ur cn = 1, a = 0 und −1 < x < 1 erhalten wir die geometrische Reihe
f (x) = 1 1 − x = ∞ X n=0 xn.
F¨ur |x| ≥ 1 divergiert die Reihe und f ist nicht definiert. Beispiel 2.2.3
2.2. POTENZREIHEN 45 Betrachte ∞ X n=0 n!xn.
Anwendung des Quotientenkriteriums zeigt, dass die Potenzreihe f¨ur x 6= 0 divergiert und f¨ur x = 0 konvergiert. Beispiel 2.2.4 Betrachte ∞ X n=1 (x − 3)n n .
Anwendung des Quotientenkriteriums zeigt, dass die Potenzreihe f¨ur |x − 3| > 1 divergiert und f¨ur |x − 3| < 1 konvergiert.
Beispiel 2.2.5
Betrachte die Bessel-Funktion
Jo(x) = ∞ X n=0 (−1)nx2n 22n(n!)2 .
Anwendung des Quotientenkriteriums zeigt, dass die Potenzreihe f¨ur alle x konvergiert.
Satz 2.2.6
F¨ur eine gegebene Potenzreihe
∞
P
n=0
cn(x − a)n gilt eine der folgenden drei Alternativen:
(a) Die Reihe konvergiert nur f¨ur x = a. (b) Die Reihe konvergiert f¨ur alle x.
(c) Es gibt eine positive Zahl R, so dass die Reihe f¨ur |x − a| < R konvergiert und f¨ur |x − a| > R divergiert.
Die Zahl R in Fall (c) heißt Konvergenzradius der Potenzreihe. Das Konvergenzin-terval besteht aus allen x, f¨ur die die Potenzreihe konvergiert. In Fall (c) gibt es vier M¨oglichkeiten f¨ur das Konvergenzintervall: (a − R, a + R), [a − R, a + R], [a − R, a + R), (a − R, a + R]. Beachte, dass an den Randpunkten x = a ± R alles passieren kann: Konvergenz oder Divergenz.
Beispiel 2.2.7
c
46 KAPITEL 2. REIHEN, POTENZREIHEN, TAYLORREIHEN
Betrachte die Potenzreihe
∞ X n=0 (−3)nxn √ n + 1 | {z } =an .
Anwendung des Quotientenkriteriums: an+1 an = (−3)n+1xn+1 √ n + 2 · √ n + 1 (−3)nxn = 3r n + 1 n + 2|x| −→ 3|x|.
Die Reihe konvergiert f¨ur 3|x| < 1 und divergiert f¨ur 3|x| > 1. Der Konvergenzradius ist R = 1/3. Was passiert f¨ur x = ±1/3? F¨ur x = −1/3 gilt ∞ X n=0 (−3)n(−1/3)n √ n + 1 = ∞ X n=0 1 √ n + 1. Dies ist eine divergente p-Reihe mit p = 1/2.
F¨ur x = 1/3 gilt ∞ X n=0 (−3)n(1/3)n √ n + 1 = ∞ X n=0 (−1)n √ n + 1.
Diese Reihe konvergiert nach dem Konvergenzkriterium f¨ur alternierende Reihen. Das Konvergenzintervall lautet also (−1/3, 1/3].
2.2.1 Darstellung von Funktionen durch Potenzreihen
Wir haben in Beispiel 2.2.2 gesehen, dass die Funktion f (x) = 1/(1 − x) im Intervall −1 < x < 1 durch die Potenzreihe
∞
X
n=0
xn dargestellt werden kann.
Viele weitere Funktionen k¨onnen ebenfalls (lokal) durch Potenzreihen dargestellt werden. Warum ist es n¨utzlich, eine bekannte Funktion durch eine unendliche Summe darzustellen? Diese Vorgehensweise ist besonders vorteilhaft
• zur L¨osung von Differentialgleichungen;
• zur Integration von Funktionen, die keine einfachen Stammfunktionen besitzen; • zur Approximation von Funktionen durch Polynome.
Es folgen einige Beispiele zur Darstellung von Funktionen durch Potenzreihen. Beispiel 2.2.8
Dr¨ucke f (x) = 1/(1 + x2) durch eine Potenzreihe aus: Dazu schreiben wir
f (x) = 1 1 − (−x2)
2.2. POTENZREIHEN 47
und sehen, dass f durch eine geometrische Reihe in −x2 ausgedr¨uckt werden kann:
f (x) = 1 1 + x2 = 1 1 − (−x2) = ∞ X n=0 (−x2)n = ∞ X n=0 (−1)nx2n = 1 − x2+ x4− x6± . . . Diese geometrische Reihe konvergiert f¨ur | − x2| < 1, also f¨ur |x| < 1. Das
Konvergenzin-tervall lautet (−1, 1). Beispiel 2.2.9
Dr¨ucke f (x) = 1/(x + 2) durch eine Potenzreihe aus: Dazu schreiben wir f als
f (x) = 1 2 ·
1 1 − (−x/2)
und sehen, dass f durch eine geometrische Reihe in −x/2 ausgedr¨uckt werden kann: f (x) = 1 2 + x = 1 2· 1 1 − (−x/2) = 1 2 · ∞ X n=0 (−x/2)n= ∞ X n=0 (−1)n 2n+1 x n.
Diese geometrische Reihe konvergiert f¨ur | − x/2| < 1, also f¨ur |x| < 2. Das Konvergenz-intervall lautet (−2, 2).
Wir haben gesehen, dass einige Funktionen (lokal) als Potenzreihen dargestellt werden k¨onnen. Nun interessieren wir uns f¨ur die Differentiation und Integration von Po-tenzreihen. Differentiation oder Integration einer endlichen Summe erfolgt leicht durch gliedweises Differenzieren oder Integrieren, d.h.
d dx N X i=0 fi(x) ! = N X i=0 d dxfi(x) , Z b a N X i=0 fi(x) ! dx = N X i=0 Z b a fi(x)dx . Ist dies auch f¨ur unendliche Potenzreihen erlaubt? Der folgende Satz beantwortet diese Frage:
Satz 2.2.10
Besitzt die Potenzreihe P cn(x − a)n den Konvergenzradius R > 0, so ist die durch
f (x) =
∞
X
n=0
cn(x − a)n
definierte Funktion f differenzierbar (und damit auch stetig) im Intervall (a − R, a + R), und es gilt (i) f0(x) = ∞ X n=1 ncn(x − a)n−1. c 2020 by M. Gerdts
48 KAPITEL 2. REIHEN, POTENZREIHEN, TAYLORREIHEN (ii) Z f (x)dx = C + ∞ X n=0 cn (x − a)n+1 n + 1 .
Die Konvergenzradien der Potenzreihen in (i) und (ii) betragen jeweils R.
Bemerkung 2.2.11
(a) (i) ist ¨aquivalent mit d dx ∞ X n=0 cn(x − a)n= ∞ X n=0 d dx(cn(x − a) n ) = ∞ X n=1 ncn(x − a)n−1.
(ii) ist ¨aquivalent mit
Z ∞ X n=0 cn(x − a)n ! dx = ∞ X n=0 Z cn(x − a)ndx
(b) Beachte, dass der Konvergenzradius R erhalten bleibt, aber das Konvergenzinter-vall der Potenzreihen in (i) und (ii) kann in den InterKonvergenzinter-vallgrenzen abweichen vom Konvergenzintervall von f !
Beispiel 2.2.12
Wir haben in Beispiel 2.2.5 gesehen, dass die Bessel-Funktion Jo(x) = ∞ X n=0 (−1)nx2n 22n(n!)2
f¨ur alle x definiert ist. Wir k¨onnen gliedweise differenzieren und erhalten d dxJo(x) = ∞ X n=0 d dx (−1)nx2n 22n(n!)2 = ∞ X n=1 (−1)n2nx2n−1 22n(n!)2 . Beispiel 2.2.13
Wir dr¨ucken 1/(1 − x)2 als Potenzreihe aus. Beachte, dass diese Funktion die Ableitung von 1/(1 − x) ist, welche durch eine geometrische Reihe ausgedr¨uckt werden kann:
1 (1 − x)2 = d dx 1 1 − x = ∞ X n=0 d dxx n = ∞ X n=1 nxn−1.
2.3. TAYLOR-REIHEN UND SATZ VON TAYLOR 49
Der Konvergenzradius betr¨agt R = 1. Beispiel 2.2.14
Wir dr¨ucken ln(1 − x) als Potenzreihe aus. Beachte, dass diese Funktion das Integral von −1/(1 − x) ist, welches durch eine geometrische Reihe ausgedr¨uckt werden kann:
ln(1 − x) = − Z 1 1 − xdx = C − ∞ X n=0 xn+1 n + 1.
Der Konvergenzradius betr¨agt R = 1. Zur Bestimmung von C setze x = 0, woraus 0 = ln(1 − 0) = C folgt. Also: ln(1 − x) = − ∞ X n=0 xn+1 n + 1 (|x| < 1).
2.3
Taylor-Reihen und Satz von Taylor
Im vorangehenden Abschnitt haben wir Potenzreihendarstellungen f¨ur einige spezielle Funktionen untersucht. Nun untersuchen wir Potenzreihen f¨ur allgemeine Funktionen. Angenommen, f kann durch die Potenzreihe
f (x) = c0+ c1(x − a) + c2(x − a)2+ c3(x − a)3+ . . . f¨ur |x − a| < R
dargestellt werden. In x = a gilt dann
f (a) = c0.
Gem¨aß Satz 2.2.10 darf die Potenzreihe gliedweise differenziert werden: f0(x) = c1+ 2c2(x − a) + 3c3(x − a)2+ . . . f¨ur |x − a| < R.
In x = a gilt dann
f0(a) = c1.
Erneutes Differenzieren liefert
f00(x) = 2c2+ 6c3(x − a) + . . . f¨ur |x − a| < R.
In x = a gilt dann
f00(a) = 2c2 =⇒ c2 =
f00(a) 2 . Fortsetzung dieses Prozesses liefert
f(n)(a) = n!cn =⇒ cn =
f(n)(a)
n! . Damit ist bewiesen:
c
50 KAPITEL 2. REIHEN, POTENZREIHEN, TAYLORREIHEN
Satz 2.3.1
Besitzt f eine Potenzreihendarstellung um a, so ist diese durch
f (x) = ∞ X n=0 f(n)(a) n! (x − a) n f¨ur |x − a| < R, (2.5) gegeben. Die Reihe in (2.5) heißt Taylor-Reihe von f um a.
Bemerkung 2.3.2
Beachte, dass wir bisher nur gezeigt haben, dass f (x) gleich ihrer Taylor-Reihe ist, falls f eine Potenzreihendarstellung um a besitzt. Leider gibt es Funktionen, die keine Potenz-reihendarstellung um a besitzen, z.B.
f (x) = (
exp(−1/x2), falls x 6= 0,
0, falls x = 0
um a = 0. F¨ur diese Funktion zeigt sich, dass sie beliebig oft stetig differenzierbar ist, wobei allerdings stets f(n)(0) = 0 f¨ur alle n ∈ N gilt. Damit ist ihre Taylorreihe stets die Nullfunktion und somit verschieden von f .
Beispiel 2.3.3
Betrachte f (x) = exp(x). Dann gelten f(n)(x) = exp(x) und f(n)(0) = 1 f¨ur alle n. Die
Taylor-Reihe von f um a = 0 lautet
∞ X n=0 f(n)(0) n! x n = ∞ X n=0 xn n!. Wegen xn+1/(n + 1)! xn/n! = |x| n + 1 → 0 < 1
ist der Konvergenzradius nach dem Quotientenkriterium gegeben durch R = ∞. Wir k¨onnen nun f (x) = exp(x) durch die n-ten Partialsummen Tn(x) =
n
X
i=0
xn/n! appro-ximieren:
2.3. TAYLOR-REIHEN UND SATZ VON TAYLOR 51 -5 0 5 10 15 20 25 -3 -2 -1 0 1 2 3 exp(x) 1 1+x 1+x+x**2/2 1+x+x**2/2+x**3/3!
Kann f (x) durch die Taylor-Reihe (2.5) um a dargestellt werden, so liegt die Approxima-tion
f (x) ≈ Tn(x)
nahe. Hierin bezeichnet Tn(x) das
n-te Taylor-Polynom von f um a: Tn(x) := n X k=0 f(k)(a) k! (x − a) k . (2.6)
H¨aufig wird die Approximation mit n = 1 verwendet. Man erh¨alt f¨ur x in der N¨ahe von a die lineare Approximation
f (x) ≈ f (a) + f0(a)(x − a) (“Linearisierung von f in a”)
Tn(x) ist nichts anderes als die n-te Partialsumme der Taylorreihe und f (x) ist im Intervall
|x − a| < R gleich dem Wert der Taylor-Reihe, falls das Restglied (=Approximations-fehler)
Rn(x) := f (x) − Tn(x)
die Beziehung
lim
n→∞Rn(x) = 0
f¨ur |x − a| < R erf¨ullt. Der sehr wichtige Satz von Taylor liefert explizite Darstellungen des Restglieds bei festem n.
c