Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 112|
Heft 3|
16. Januar 2015 A 59M
illionen Menschen gingen am 11. Januar in Frankreich auf die Straße, um nach dem An- schlag auf das Satiremagazin Charlie Hebdo gegen Ter- ror, für eine freie Gesellschaft und deren Symbol, die Meinungs- und Pressefreiheit, zu demonstrieren. Ange- sichts von Gewalt und Tod ist verständlicherweise die Gesundheitspolitik für den Moment aus dem Blickfeld geraten.Dabei stehen im französischen Gesundheitssystem grundlegende Veränderungen an, wenn das Parlament den Plänen von Gesundheitsministerin Marisol Tourai- ne zustimmt, von 2017 an, ähnlich wie in Deutschland, in der Krankenversicherung das Sachleistungsprinzip einzuführen. Die Regierung von François Hollande hat- te bereits im Wahlkampf versprochen, auf diese Weise den Zugang zum Gesundheitswesen zu erleichtern und so zu verhindern, dass Patienten aus finanziellen Grün- den auf eine ärztliche Behandlung verzichten.
Noch bezahlt der Patient in Frankreich den (nieder- gelassenen) Arzt direkt. In der Regel erstattet ihm die Krankenkasse das Geld abzüglich eines Selbstbehalts im Laufe einer Woche zurück. Bei armen Patienten oder chronisch Kranken, die das Vorstrecken der Be- handlungskosten überfordern würde, verzichten man- che Ärzte freiwillig auf die Kostenerstattung und rei- chen ihre Rechnung direkt bei der Krankenversiche- rung ein. Dass dieses System jetzt die Regel werden soll, hat unter den Ärzten massive Proteste ausgelöst.
Nachdem Kundgebungen und Praxisschließungen über die Weihnachtsfeiertage und den Jahreswechsel die Politik unbeeindruckt ließen, rollt jetzt eine zweite Protestwelle. Mehrere Ärztegewerkschaften haben zum
„totalen Verwaltungsstreik“ aufgerufen und die Ärzte aufgefordert, verschiedene Funktionen der elektronischen Gesundheitskarte, beispielsweise Krankschreibungen, zu boykottieren und die Krankenkassen mit einer Papier- flut zu überziehen. 95 Prozent der Ärzte, schreibt die französische Tageszeitung Le Monde, lehnten die Re- gierungspläne ab. Sie schwächten die Eigenverantwort- lichkeit der Patienten und mündeten letztlich in der un-
kontrollierten Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen.
Außerdem befürchteten viele Ärzte, dass die Direktab- rechnung mit rund 400 Krankenkassen zu Zahlungsver- zögerungen und überbordender Bürokratie führe.
Über die Vor- und Nachteile der Kostenerstattung wird auch in Deutschland regelmäßig debattiert. Bei den Patienten ist sie unbeliebt. Gesetzlich Krankenver- sicherte, die das Recht haben, Kostenerstattung zu wäh- len, machen davon kaum Gebrauch. Auch das Bild in- nerhalb der Ärzteschaft ist hierzulande deutlich unein- heitlicher als in Frankreich. Bislang haben sich weder der Deutsche Ärztetag noch die Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung dafür ausge- sprochen, das Prinzip der Sachleistung zugunsten der Kostenerstattung abzuschaffen. Die Forderung nach festen und kostendeckenden Preisen für ärztliche Leis- tungen knüpfen beide Gremien nicht an ein Erstat- tungsmodell. Verfechter der Kostenerstattung sind vor allem freie Verbände wie der Hartmannbund.
Die vorsichtigere Position der verfassten Ärzteschaft könnte zwei gewichtige Gründe haben: Einer Umfrage im Fernsehsender arte zufolge hat ein Drittel der Fran- zosen aus finanziellen Gründen schon einmal auf eine medizinische Behandlung verzichtet. Und für die Ab- rechnung stehen in Deutschland zwischen Kassen und Arzt die Kassenärztlichen Vereinigungen.
ÄRZTESTREIK IN FRANKREICH
Überschattete Debatte
Heike Korzilius
Heike Korzilius Politische Redakteurin