A 2040 Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 108|
Heft 39|
30. September 2011K U L T U R
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inter der türhohen, aus- drucksstarken Darstellung eines Aderlasses beginnt im Histo- rischen und Völkerkundemuseum St. Gallen ein Gang durch die Ge- schichte der Medizin. Als regionale Geburtsstätte der Medizin eröffnet ein großes Modell des Benediktiner- klosters St. Gallen die Ausstellung.In einer Schublade befindet sich der Ausschnitt des berühmten Karolin- gischen Klosterplanes von 830, der
den Krankenbereich mit Arzthaus, Spital, Aderlasshaus und Heilkräu- tergarten zeigt. Ein Monitor wirft Bilder der damals angebauten Heil- pflanzen mit Beschreibung ihrer Anwendung und Wirkung an die Wand; darunter sind in Flakons Riechproben zu nehmen.
Kostbare Leihgaben mittelalter- licher Hand- und Druckschriften faszinieren in der Ausstellung „Zeit für Medizin“. Ältestes Original ist die Handschrift des „St. Gallener Botanicum“ aus dem 9. Jahrhun- dert. Paracelsus und der St. Galle- ner Arzt Vadian sind mit Schriften und Porträts an den Wänden vertre- ten. Vadian benutzte die Sammlung von Rezepten arabischer Medizin, den „Canon universalis“ von (Pseu- do-)Mesue. Immer wieder werden die bibliophilen Kostbarkeiten durch Gegenstände wie Klistier- spritzen mit gebogenen Aufsätzen aus dem 18. Jahrhundert aufgelo- ckert, darüber hängt ein spätmittel- alterlicher Text über die Anwen- dung eines Klistiers mit drastischer bildlicher Darstellung.
Besonders fällt die elegante Rei- seapotheke aus dem 18. Jahrhun- dert ins Auge. Sollte nichts davon
nützen, liegen im unteren Segment Bildchen diverser Heiliger als
„Nothelfer“ bereit, die anzurufen sind. Unter einem Folianten enthält eine Schublade – „Bitte öffnen“ – ein vielteiliges Trepanationsbesteck von 1800, dazu eine Schrift mit der Abbildung eines auf den Schädel aufgesetzten „Schraubstockes“ und der Anweisung, wie man die „hi- renschale, die eyngeschlagen ist,
…, mit disem instrument wider auffschrauffe“.
Am Ende des ersten Bereiches in einem Regal mit der Aufschrift
„Medizinische Irrtümer und Verbre- chen“ symbolisieren elf hutähnli- che Schachteln die Büchse der Pan- dora, durch deren verbotenes Öff- nen nach der griechischen Mytho - logie die Götter den Menschen die Krankheiten schickten. Diese Schachteln sollen jedoch vom Be- sucher geöffnet werden. In einem Deckel ist das leidende Gesicht ei- nes jungen Mannes zu sehen, und man erfährt, dass er an durch Ona- nieren hervorgerufene Rücken- markschwindsucht litt. Eine andere Schachtel offenbart, dass schon die griechischen Olympioniken Do- pingmittel nahmen.
Ein Raum ist Apparaturen und Erfindungen des 20. Jahrhunderts gewidmet. Als hygienisches Para- destück ist zum Schluss ein moder- nes „Themse Washdown Closet“
aus Keramik zu bewundern. Es war vor hundert Jahren eine moderne Errungenschaft, um zunächst in den Häusern der Reichen sanitäre Maß -
stäbe zu setzen.
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Renate V. Scheiper
AUSSTELLUNG IN ST. GALLEN
Die Büchse der Pandora
Kostbare Hand- und Druckschriften, eine elegante Reiseapotheke, Erfindungen des 20. Jahrhunderts – ein Gang durch die Geschichte der Medizin
Die Ausstellung „Zeit für Medizin“ ist im Histori- schen und Völkerkunde- museum St. Gallen, Museumsstrasse 50, CH-9000 St. Gallen, bis 20. Mai 2012 zu sehen.
Öffnungszeiten: dienstags
bis sonntags 10 bis 17 Uhr. Eintritt: 10 sfr, ermäßigt 8 sfr.
www.hmsg.ch, info@hmsg.ch.
Ergänzend zur Ausstellung ist die gleichnamige Publi- kation „Zeit für Medizin“ erschienen, in der Mediziner und Historiker in Fachbeiträgen Hintergrundinformationen ge- ben. Historisches Völkerkundemuseum St. Gallen (ISBN 978–3–9523 160–2–3), Preis: 29 sfr.
INFORMATIONEN
Klistierspritze mit gebogenen Auf - sätzen aus dem 18. Jahrhundert mit „Gebrauchsanwei- sung“ und drasti- scher Darstellung der Anwendung
Fotos: Renate V. Scheiper