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Archiv "Heilen und Heil oder: von der Selbstbeteiligung des Menschen - Fünf Thesen zu einer Theorie der Gesundheit" (20.11.1980)

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DEUTSCHES

ÄRZTEBLATT Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Heft 47 vom 20. November 1980

Heilen und Heil

oder: von der Selbstbeteiligung des Menschen

Fünf Thesen zu einer Theorie der Gesundheit

Der Beitrag — entstanden aus der Arbeit des Instituts für Ge- sundheitsbildung, das am 13.

Oktober 1980 in Bad Mergent- heim eröffnet wurde — behan- delt ein aktuelles, gleichwohl über den Tag hinausgehendes Thema: die Selbstbeteiligung

— hier nicht als finanzielle Be- teiligung an den Krankheits- kosten, sondern als Selbstver- antwortung für die Gesund- heit verstanden. Dazu ist, wie der. Verfasser ableitet, ein Ge- sinnungswandel nötig. Ist aber unsere Gesellschaft dar- auf heute schon vorbereitet?

Hans Schaefer

Wer den Arzt aufsucht, der möchte in der Regel von Beschwerden be- freit werden, deren Ursache er in einer Krankheit vermutet. Er möchte geheilt werden. In der Geschichte der Medizin hat diese Form des ärzt- lichen Dienstes, den wir mit dem Fremdwort Therapie benennen, mei- stens im Vordergrund gestanden, mindestens soweit es die Wünsche der Erkrankten betraf. Die Zahl der Kranken ist freilich klein, die der Ge- sunden groß. Wenn also Medizin im Dienste aller Menschen stehen soll- te, müßte sie ihre Dienste auch die- ser Mehrzahl der Gesunden anbie- ten. Deren Interesse aber kann es nur sein, daß der Arzt ihnen helfe, von Krankheit verschont zu bleiben.

Ohne Zweifel ist das gesellschaftli- che Verständnis der Medizin im letz- ten Jahrhundert fast ausschließlich auf die Heilung von Krankheit ge- richtet worden. Das Interesse der Gesunden war damit abgedeckt, daß sie im Arzt den stets bereiten Helfer für den (unwahrscheinlichen) Fall erblickten, daß ihnen eine Krankheit widerfahre. Medizin hatte eine Not- falls-Funktion, aber keinen Platz im Leben des gesunden Alltags.

Eine solche Ansicht vom Wesen der Medizin, wie sie heute üblich ist, war keineswegs in allen Zeiten der Menschheitsgeschichte vorherr- schend. Vielmehr standen, um so mehr, je bedrohlicher die Krankhei- ten waren, je sicherer der Tod droh- te, die Interessen der Gesunden im

Vordergrund: ärztlicher Dienst war zunächst Krankheitsverhütung. Der Arzt als Ratgeber zur Verwirklichung eines gesunden Lebens, das war es, was man von ihm erwarten zu kön- nen glaubte. Es kann nicht unsere Aufgabe hier und heute sein, die Gründe darzulegen, welche diesen Gesundheitsdienst als ärztliche Ele- mentarleistung aus unserem Medi- zinverständnis verdrängt haben. Ich vermute sogar, daß man schwerlich unter Fachleuten Einigkeit über die- se Gründe erzielen könnte, denn sie sind in der öffentlichen Diskussion nie ausdrücklich genannt worden, weil sich die Ansichten über Medizin als eine allgemeine Weltansicht un- bewußt, unreflektiert gebildet ha- ben, in Form sich allmählich ausfor- mender Übereinstimmungen zwi- schen den Zeitgenossen. Meine ei- gene Vermutung geht dahin, daß die Erfolge der Medizin in der Bekämp- fung, ja der weitgehenden Ausrot- tung der lebensbedrohenden Infek- tionskrankheiten, einen wesentli- chen Anteil an der heutigen öffentli- chen Meinung haben. Man war sich sicher, daß der Arzt imstande sein würde, das Leben gerade im Fall der drohenden tödlichen Infektionen zu retten.

Diese allgemeine Ansicht vom We- sen des ärztlichen Dienstes, also der Therapie (Therapie heißt Dienst), ist nun derzeit in einem raschen Wan- del begriffen, dessen Ursachen uns, da wir seine zeitgenössischen Beob- achter sind, wesentlich leichter ein-

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Aufsätze • Notizen

Selbstbeteiligung des Menschen

sichtig gemacht werden können als die Entwicklungen in früheren Jahr- hunderten. Sicher ist eine der Ursa- chen die rasche Zunahme der Ko- sten dieses sogenannten Gesund- heitswesens, das tatsächlich ja nur ein Krankheitswesen ist. Denn das mit so viel Hoffnungen betrachtete Kostendämpfungsgesetz, das die Bundesregierung vor wenigen Jah- ren erließ, hat diese Hoffnungen nur zu einem Teil und für kurze Zeit er- füllt. Das aber heißt, daß der noch gesunde Versicherte erneut zur Kas- se gebeten wird.

Die Medizin geht schon aufgrund dieser finanziellen Probleme auch die Gesunden an. Die Kritik an der Medizin wäre aber schwer verständ- lich, wenn wir nicht zwei Entwick- lungslinien beachten würden, wel- che für die Medizin der letzten Jahr- zehnte bestimmend waren.

Verhütung der

nichttherapierbaren Krankheiten Erstens traten an die Stelle heilbarer Infektionskrankheiten chronische Krankheiten, die zwar zum Tode füh- ren, ohne aber vorher lange Krank- heitszeiten zu verursachen. Ob- gleich zum Beispiel der Herzinfarkt und die Krebskrankheit zusammen 38 Prozent aller Todesfälle stellen, machen sie unter den Ursachen, de- retwegen die Menschen zum Arzt gehen, nur 2 Prozent aus. Wir ster- ben an Krankheiten, an denen wir nicht, im üblichen Wortsinn und für uns bemerkbar, krank sind. Zwei- tens sind zahlreiche Krankheiten nur darauf zurückzuführen, daß die Menschen mit ihrer sozialen Umwelt nicht mehr fertig werden.

Für die erste Gruppe der tödlichen Krankheiten besitzt der Arzt keine verläßlichen Heilmittel, weil nie- mand diese Krankheiten bemerkt, und weil sie, würde man sie bemer- ken, nur in Grenzen heilbar wären.

Die zweite Gruppe von Krankheiten heilt der Arzt nicht, weil die derzeiti- ge, naturwissenschaftlich orientierte Medizin keine Mittel gegen sie ent- wickelt hat. Aus diesen Tatsachen heraus wird der Wunsch gerade auch der Gesunden nach einer Me-

dizin verständlich, welche beide For- men der Krankheiten verhütet, wenn sie schon nur in Grenzen therapier- bar sind.

Es ist im Grunde also eine einsichti- ge Situation, welche das Problem einer gesundheitsfördernden Thera- pie so bedeutsam macht. Dennoch steht ein viel bedeutsameres Pro- blem hinter unserer Fragestellung.

Wir wollen es mit dem Blick auf eini- ge Tatsachen verdeutlichen. Gehen wir von relativ unumstrittenen Ein- sichten aus. In gewerblichen Betrie- ben kommt es immer wieder zu Krebserkrankungen, die angeblich durch die Einwirkung sog. krebser- zeugender Stoffe entstehen. Stoffe wie Asbest oder Teer sind heute in dieser Hinsicht weithin bekannt ge- worden. Es ist nun offenbar so, daß immer sehr viele Menschen unter der Einwirkung solcher Stoffe ste- hen, daß aber nur ein sehr kleiner Teil von ihnen erkrankt. Man hat überdies in Stoffen, mit denen heut- zutage fast jedermann in Kontakt steht, zum Beispiel im Bier, krebser- zeugende Verbindungen nachge- wiesen. Dieser Nachweis gelang aber nur im Tierversuch. Niemand hat je ermittelt, ob Biertrinker einer- seits und Menschen, die niemals Bier getrunken haben, andererseits sich in der Häufigkeit von Krebser- krankungen unterscheiden. Sollte also eine krebserzeugende Sub- stanz, die, wohlgemerkt, am Tier in großen Mengen verabfolgt, Krebs hervorruft, auch am Menschen Krebs auslösen, so entsteht als er- stes die Frage, warum denn die mei- sten Menschen, die mit solchen Substanzen in Kontakt kommen, trotzdem nicht erkranken.

Dieser Grundgedanke setzt sich in folgender Überlegung fort, die an die jüngste Entwicklung der Medi- zintheorie anschließt, welche ich in meinem Buch „Plädoyer für eine neue Medizin" entwickelt habe. Es ist logisch unabweisbar korrekt an- zunehmen, daß alle Krankheiten, welche nicht ausschließlich durch Erbfaktoren bedingt sind, durch un- sere Umwelt bedingt sein müssen.

Diese Umwelt aber kann, aus eben- falls leicht einsehbaren Gründen,

nur durch die menschliche oder von Menschen veränderte Umwelt krankmachend wirken: Technik, Sit- ten, Zustände, die uns aufregen, Er- ziehungsfaktoren sind solche gesell- schaftlich bedingten, aber krankma- chenden Umweltfaktoren. Dieser Umwelt sind wir freilich alle ausge- liefert. Warum also erkranken wir nicht auch alle?

Auf diese Frage gibt es mehrere theoretisch mögliche Antworten. Zu- nächst könnte das Gesundbleiben die Folge einer erbmäßig bedingten Empfänglichkeit für Krankheitsein- flüsse, einer Unterempfindlichkeit für Umweltfaktoren, sein. Ist nicht gerade der Überempfindliche, z. B.

der Künstler, dessen Seele so leicht von seiner Umwelt zu kreativen Re- aktionen gebracht wird, auch anfäl- lig gegen Krankheit, wie so viele Le- bensgeschichten (von Mozart, Schu- bert, Schumann, Rilke, Nietzsche, um einige Namen zu nennen) zu be- weisen scheinen?

Nun sagen uns die Genetiker, daß eine rein erbmäßige Erklärung bei den meisten Krankheiten ausschei- det. Aber liegt das vielleicht daran, daß eine sehr große Vielfalt von Erb- anlagen sich mit einer noch größe- ren Vielfalt von Umweltfaktoren aus- einandersetzt? Es ist jedenfalls in- zwischen erwiesen, daß es erbbe- dingte Überempfindlichkeiten ge- gen Umwelteinflüsse gibt, die man sogar bald wird diagnostizieren können.

Eine völlig andere Antwort auf unse- re Frage könnte wie folgt aussehen.

Vielleicht gibt es' sehr viel mehr krankmachende Umweltrisiken, als wir wissen. Wir kennen vermutlich nur einen kleinen Teil der sogenann- ten Risikofaktoren, unter denen der- zeit Rauchen, übermäßiger Alkohol- genuß, Drogenkonsum, Überernäh- rung und der so unscharf definierba- re sogenannte psychosoziale Streß im Vordergrund der Betrachtung stehen. Es könnte also sein, daß bei den Menschen, welche erkranken, eine Mehrzahl noch unbekannter Ri- siken zu den bereits bekannten hin- zutreten muß, um eine Krankheit auszulösen.

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Aufsätze • Notizen

Selbstbeteiligung des Menschen

Die Idee der „Anti-Risiko-Faktoren"

Soweit man die Sachlage derzeit be- urteilen kann, sind beide Antworten mindestens in einem gewissen Um- fang zutreffend. Wie aber sollen wir uns vor Krankheit schützen, wenn wir derzeit weder unsere Erbanlagen genau bestimmen noch alle Risiko- faktoren feststellen können? Unse- re Argumentation läßt uns also in der praktischen Handhabung einer gesundheitsfördernden ärztlichen Dienstleistung hilflos. Es ist daher eine vermutlich besonders hilfrei- che, zukunftsweisende Idee, wenn wir einen der Theorie der Risikofak- toren scheinbar völlig widerspre- chenden Gedanken entwickeln: die Idee wiederherstellender oder schützender Kräfte, die wir Anti-Risi- ko-Faktoren nennen wollen.

Der Blick der Krankheits-Wissen- schaften war nämlich bislang völlig gefangen genommen von der durch- aus richtigen, aber einseitigen Hypo- these, daß alle Krankheiten Ursa- chen haben müssen. Darf ich den Satz mit betonter Bedachtsamkeit, aber anderem Akzent wiederholen:

Wir glauben, daß alle Krankheiten Ursachen haben müßten.

Sie allein, die Krankheiten, schienen einer Begründung bedürftig. Das ist verständlich in einem Gedankensy- stem, in welchem das Gesunde, das Normale, das von der Natur in Voll- kommenheit Erschaffene keiner wei- teren Erklärung seines Zustande- kommens bedarf. Nun lehrt uns aber die moderne Biologie, daß dieses Phänomen „Leben", in seiner Voll- kommenheit, ein unwahrscheinli- cher Zustand ist, den zu erklären man Gesetzmäßigkeiten zu Hilfe nehmen muß, welche in der unbe- lebten Natur nicht im gleichen Maße gelten. Der „Zufall" ist bemüht wor- den, eine eigene Lebenskraft wurde gefordert, Zufall und Kampf ums Dasein gemeinsam hätten die Ent- wicklung der Arten zustande ge- bracht, wie Charles Darwin lehrte.

Offenbar treibt also etwas, von dem wir nur undeutliche Umrisse erken- nen, sein Spiel in den Phänomenen des Lebendigen. Dies Etwas ist es, dem auch der Mensch primär seine

Gesundheit verdankt. Kein Zweifel, daß die Umweltkräfte, welche das Chaos des Schöpfungsbeginns wie- derherzustellen suchen, ohne Unter- laß dies Wunderwerk des gesunden Lebens bedrohen, durch fortwäh- rende schädigende Einflüsse die Fortsetzung des Lebens in Frage stellen; der Tod ist gleichsam der natürliche, weil der dem Gleichge- wicht aller Naturkräfte am ehesten entsprechende Zustand, gegen den sich das Leben mit stetiger Anstren- gung behaupten muß.

Es läßt sich unschwer beweisen, daß für die Entstehung menschlicher Krankheit auch die geistige Ausein- andersetzung mit der sozialen Um- welt dadurch bedeutsam wird, daß Menschen in sehr unterschiedlicher Weise auf diese Umwelt reagieren, d. h. teils ihr seelisches Gleichge- wicht, teils eine der Gesundheit zu- trägliche Haltung bewahren können, obgleich diese Umwelt uns durch die zahllosen Entgleisungen des Ge- sellschaftslebens immer stärker des Gleichgewichts beraubt, durch wachsende Konfliktstoffe, steigende Anforderungen, zunehmende Sinn- losigkeit und nicht zuletzt die immer mehr Menschen aufgezwungene Einsamkeit. Was aber unsere „Hal- tung" anlangt, so wollen wir darun- ter insbesondere die Fähigkeit ver- stehen, gegen die sog. Versuchun- gen der gesellschaftlichen Umwelt, ihren Anreiz zum Konsum, ihre Ver- führung zur Unvernunft, einen eige- nen Weg vernünftiger Mäßigung zu gehen.

Lassen Sie mich nun einen völlig anderen Gedankengang verfolgen, der uns zunächst wohl ungewohnt, vielleicht gar unwissenschaftlich er- scheinen könnte. Wenn nämlich die Haltung des Individuums für seine leibliche Gesundheit eine so hohe Bedeutung hat, wenn Konsum und Genußsucht, Alkohol, Rauchen, Überernährung und Bewegungsar- mut z. B. so dramatisch wirksame Risikofaktoren für unsere Gesund- heit sind — was könnte uns dann wohl davon abhalten, diesen für uns riskanten Genüssen zu entsagen?

Gibt es so etwas wie eine heilsame Grundkraft im menschlichen Leben,

eine Lehre des Heils, die zugleich auch Heilung bedeutet? Und wird nicht, wenn es so etwas gibt, der Patient Teilhaber seiner eigenen Therapie, Mitgestalter seines Schicksals, an dessen Ablauf er sich mit seiner Vernunft und Opferbereit- schaft im Guten wie im Bösen betei- ligt?

Fünf Thesen zu einer Theorie der Gesundheit

Lassen Sie mich eine solche Theorie der Gesundheit an Hand von fünf Thesen erläutern.

10 Zwar hat der Mensch sicher ei- nen erbmäßig bedingten Schutz vor Krankheit, also erbmäßige Gesund- heitsfaktoren. Er kennt sie aber nicht.

Die These, daß ihm schon nichts passieren werde, daß zum Beispiel seine Vorfahren alle alt geworden seien, ist also eine törichte Behaup- tung, deren mögliche Richtigkeit nur einen gewissen Grad der Wahr- scheinlichkeit aufweist. Es ist para- dox, daß solche Einstellungen im Zeitalter der Sicherheit praktiziert werden. Versicherungen schließen wir ab, um uns gegen meist viel un- wahrscheinlichere Risiken abzusi- chern. Die Sicherheit des gesund- heitsgerechten Verhaltens wird da- gegen nicht ernsthaft erwogen. Da- bei sind die Verhältnisse ziemlich eindeutig. Nur um einen Faktor zu nennen: die Übersterblichkeit des Rauchers ist enorm. Die Wahr- scheinlichkeit, daß ein schwerer Raucher im kommenden Jahr stirbt, ist für ihn genau doppelt so groß wie für einen Nichtraucher gleichen Al- ters. Ich selbst kenne keinen schwe- ren Raucher, der alt geworden wäre.

Ich kenne kaum jemanden, der an Lungenkrebs gestorben und nicht zugleich ein starker Raucher gewe- sen wäre. Diese Daten sind weltweit gültig und über jeden Zweifel er- haben.

O

Die wirksamsten Gesundheits- faktoren, die wir entwickeln kön- nen, sind solche, die uns die Risi- ken des Konsums zu überwinden helfen. Einstellungen religiöser Art sind hierbei wesentlich. 1>

DEUTSCHES ARZTEBLATT Heft 47 vom 20. November 1980 2811

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Selbstbeteiligung des Menschen

Wie wir schon hörten, sind die mei- sten Risiken in der Maßlosigkeit un- seres Konsumverhaltens begründet.

Die wesentlichen Risikofaktoren der fünf großen Killer, d. h. der Krank- heiten, welche derzeit am stärksten in ihrer Häufigkeit als Todesursache zunehmen, sind: Rauchen, Alkohol, übermäßiger Medikamentenkon- sum, Überernährung, körperliche Bewegungslosigkeit, Autofahren, Ehrgeiz und übertriebene Sucht nach Geld und Prestige. Dies läßt sich durch epidemiologische, also wissenschaftlich streng angelegte, Studien und durch Modelle erwei- sen, welche die Pathophysiologie er- arbeitet hat.

Es ist nun fraglos so, daß dieses Konsumverhalten uns zwar körper- lich schädigt, uns aber dennoch ein erhebliches Vergnügen bereitet.

Wollte man solches Verhalten also ändern, so müßte an die Stelle eines uns stark motivierenden Vergnü- gens am Genuß etwas anderes tre- ten, das uns motivieren könnte. In früheren Jahrhunderten lassen sich solche Motivationen leicht aufwei- sen. Die Befolgung der christlichen Tugenden der Mäßigkeit, Beschei- denheit und Demut zum Beispiel war eine Haltung, die wesentliche Anti- Risikofaktoren entwickelte. Nun wird in einer Zeit, in der die Kirche und überhaupt die Religion ständig an Einfluß auf die Massen verliert, sicher niemand erwarten, Gesund- heitspolitik sei durch die Wiederbe- lebung christlicher Tugenden zu be- treiben. Was hier gesagt sein soll, ist aber dieses, daß ohne ein System der Verpflichtung zu einem Lebens- stil, der das persönliche Vergnügen übersteigt, Gesundheitspolitik und gesundheitsgerechtes Verhalten nicht möglich ist.

Aus dieser Überlegung wird uns un- ter anderem deutlich, eine wie ein- seitige Stellung bislang die christli- chen Kirchen zur Medizin einge- nommen haben. Die katholische Kir- che, der ich angehöre und die ich allein gründlich kenne, hat weder im II. Vatikanischen Konzil noch in der großen „Gemeinsamen Synode"

Krankheit in ihren wesentlichen theologischen Aspekten behandelt.

Krankheit kommt nur in der karitati- ven Verpflichtung dem Kranken ge- genüber vor. Daß aber allein eine religiöse Grundhaltung den Men- schen befähigen kann, Meister sei- ner Sucht und Garant seiner leibli- chen Gesundheit zu werden, das ist nicht in den Gesichtskreis der Theo- logie und erst recht nicht in den der Kirche getreten. Der dialektische Materialismus und die Praxis der Gesundheitserziehung in kommuni- stischen Staaten ist uns da weit vor- aus. Dort wird mit dem religionsana- logen Argument gearbeitet, der Mensch habe dem Staate und der Zukunft der Gesellschaft Opfer zu bringen, die nicht zuletzt in der Mä- ßigkeit des Genießens bestünden.

Die Psychopathologie versichert uns seit langem, daß die existentielle Angst ein seelisches Grundphäno- men unserer Zeit ist. Von der Angst aber lehrt uns die Physiologie, was auch ihr Name besagt, daß sie uns das Gefühl der Enge, die Angina pectoris, die Herzangst, erzeugt. Im Tierversuch sind wir der Angst sehr viel besser auf die Spur gekommen.

Am australischen Baumhörnchen, einer Halbaffenart, die mehr unse- rem Eichhörnchen gleicht, den Tu- pajas, haben die Verhaltensforscher gefunden, daß Angst, leicht ablesbar am Sträuben der Schwanzhaare, ei- nen Kollaps der Nierenfunktion ver- ursacht: die Durchblutung der Niere wird total gedrosselt, die Tiere ster- ben. Wieweit es derartige von der Niere ausgehende psychogene To- desfälle auch beim Menschen gibt, ist nicht bekannt. Daß der psychoge- ne Tod vorkommt, ist erwiesen (Stumpfe). Wie immer er entstehen mag, z. B. durch eine akute Thyreo- toxikose wie beim plötzlichen Tod des Wildkaninchens, oder durch Kammerflimmern bei plötzlicher massiver Sympathikusaktivierung, es spielt Angst, und damit der Sym- pathikus, eine verhängnisvolle Rolle dabei. Angst aber ist, wenn wir Hei- degger folgen wollen, eine Grundbe- findlichkeit des Seins, ist die Folge des „Ausgesetztseins", der Verlas- senheit, dessen also, was durch Glauben an den Schutz Gottes ver- mieden werden kann und vor dem uns die Einbettung in eine Gesell-

schaft schützt, der wir uns anver- trauen können. Von der Angst darf gesagt werden, daß sie gewiß nicht, wie Heidegger offenbar annimmt, ei- ne für die seelische Existenz des Menschen unvermeidbare Bela- stung ist.

Die Neigung zur Angst ist freilich ein angeborenes Reaktionsmuster. Sie wird vermutlich um so weniger fakti- sche Angst erzeugen, je sicherer sich das Individuum in den Schoß einer Gemeinschaft eingebettet weiß. Insofern käme der Gemeinde in ihrer sorgenden Haltung, von der wir noch reden werden, eine prinzi- pielle Schutzfunktion zu. Die enor- me Bedeutung der Angst heutzuta- ge, als pathogenetisches Prinzip, wäre dann der Ausdruck des Zusam- menbruchs dieser letztlich religiös zu verstehenden Geborgenheit. Es mag sein, daß sich in dieser Angst- Pandemie ein wesentlicher Grund für die so rasende Zunahme des Herzinfarktes findet (Schaefer und Blohmke).

Es erweist sich also, wenn wir die Erörterungen zu unserer zweiten These zusammenfassen, daß uns ei- ne Gemeinschaft, in der Ethos prak- tiziert wird, entscheidend weiterhül- fe. Unsere bange Frage ist freilich, wo wir solche Gemeinschaften fin- den könnten, ob sie sich gar neu, begründen ließen. Die Frage stellen heißt, skeptisch zu werden gegen- über allen Systemen der Gesund- heitsbildung, die mit Information, al- so Belehrung, allein arbeiten. Der Vertrieb von Druckschriften, derzeit die wesentliche Tätigkeit der Bun- des- und Landeszentralen der Ge- sundheitsbildung, mag nicht gerade nutzlos sein. Aber der Durchbruch zu einer neuen Form der Gesund- heitsstrategie kann mit diesen Me- thoden sicher nicht geleistet werden.

Die Risiken der eigenen Ge- sundheit sind zwar auch im eige- nen Verhalten begründet. Der Mensch ist aber immer auch der Risikofaktor seines Mitmenschen.

Ohne eine Praxis der „Nächstenlie- be" ist Gesundheit nicht realisier- bar.

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 47 vom 20. November 1980 2813

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Selbstbeteiligung des Menschen

Unsere Überlegung ging bislang so vor, als ob das Individuum nur für sich selbst das Heil erlange und er- warte. Der Egoismus der Menschen wird nun in der Tat die Heilserwar- tung immer auf das eigene Heil be- ziehen. Wie wenig edelmütig diese Erwartung und das aus ihr fließende Handeln sein kann, ist im Neuen Te- stament im Gleichnis des Pharisäers gebrandmarkt worden.

Nun zeigt uns die moderne, epide- miologisch orientierte Medizin sehr klar, daß der Mensch auf gesund- heitsgerechtes Verhalten hin immer in zweifacher Richtung gefordert ist:

er muß sein eigenes Verhalten hin- sichtlich seiner eigenen Gesundheit unter Kontrolle haben. Die Lehre vom Streß und der Phänomenologie der Streßerkrankungen zeigt uns je- doch, daß in weitem Umfang der Mensch auch der Risikofaktor sei- nes Mitmenschen ist. Rahe hat eine Skala der risikoträchtigen Lebenser- fahrungen aufgestellt, und epide- miologisch ist sie weitgehend als brauchbar befunden worden, in zahlreichen Studien in aller Welt.

Ein Blick auf diese Skala der „recent life experiences" zeigt, daß die Be- ziehung zwischen Individuen als pa- thogener Faktor sehr wesentlich ist.

Rund ein Drittel der als riskant ange- gebenen Ereignisse betreffen unmit- telbar das Verhältnis zu dem „Näch- sten", d. h. dem Mitmenschen, mit dem das Individuum unmittelbar Kontakt hat. Viele dieser Kontakte sind pathogen, ohne daß ein „Ver- schulden" auftritt, zum Beispiel beim Tod eines Partners. Eine sehr große pathogene Wirkung geht aber vom Konflikt aus, und hier wird man, auch bei der menschlichen Gesellig- keit, durchaus an die Phänomene beim Baumhörnchen Tupaja erin- nert.

Diese Situation, die durch die epide- miologische Forschung leidlich, durch die psychosomatische Klinik weit besser erkundet wurde, bringt also einen weiteren Aspekt in die Problematik von Heilen und Heil.

Dieser Aspekt ist nicht im Prinzip neu. Die Sorge um das Dasein ist immer ein Grundproblem menschli- cher Existenz gewesen, wobei wir

erneut Heidegger zitieren mögen.

„Die Sorge liegt als ursprüngliche Strukturganzheit existential-aprio- risch ‚vor' jeder... faktischen Ver- haltung des Daseins", so lautet die elementare Feststellung (Heideg- ger). Diese Sorge war, als klassisch- theologische Cura, immer ein Grun- delement besonders des christli- chen Verhaltens, freilich als Sorge um das leibliche Wohl des anderen und auf dessen Existenz gerichtet.

Das hat uns Schipperges (1980) ge- zeigt. Die kurative Medizin hat aus diesem Sorge-Aspekt bis heute ihre spezifische Aufgabenstellung behal- ten. Sorge, Cura, aber besagt mehr als nur das förmliche Behandeln des Kranken, also das, was als karitative Haltung unreflektiert die landläufige Theologie und Kirchenpolitik be- stimmt. Diese Cura setzt eigenes En- gagement voraus und weitet sich durch die Soziopsychosomatik ei- ner modernen Medizin zu einem Verhaltensprinzip aus, welches den Alltag völlig durchdringen sollte. Wir sind, in dieser Hinsicht, die Hüter der Gesundheit unseres Nächsten, indem wir alle von uns selbst ausge- henden emotionalen Risiken für un- sere Mitmenschen unter unsere Kontrolle nehmen.

Dies ist also eine Dimension des Heils, die im Prinzip der christlichen Nächstenliebe zwar programma- tisch von jeher verankert war, die aber nunmehr eine bis ins Detail des mitmenschlichen Umgangs reichen- de Konkretisierung erfährt.

Diese Liebe fordert von jedermann, daß er sein Verhalten als möglichen Risikofaktor für seinen Mitmen- schen prüft, indem er die Verletzung des Selbstwertgefühls, die Forde- rung von Distreß in der Tätigkeit, die Erzeugung von Angst vor existen- tiellem Schaden und dergleichen mehr vermeidet. Hierzu könnte man exakte Kataloge ausarbeiten, welche zum Beispiel das Konzept der Huma- nisierung des Arbeitslebens im glei- chen Maße transzendieren, wie die christliche Nächstenliebe das kom- munistische Prinzip des Ausgleichs der irdischen Güterverteilung trans- zendieren würde. Leider wird aber gerade von der Kirche weder der ei-

ne noch der andere transzendente Bezug auf unser tägliches Leben ernst genommen.

Das derzeitige allgemeine Be- wußtsein steht jeder Realisierung von Gesundheit entgegen.

Diese These wird jedermann ein- leuchten, der das bislang Gesagte bedenkt. Es wäre lohnend, den Ver- such zu machen, eine Art Weltformel der Ursachen unserer gesellschaftli- chen und politischen Krisen zu ent- werfen, also eine Therapie zu ersin- nen, welche die Komplikationen, de- nen sich die gesamte Menschheit derzeit ausgesetzt sieht, auf wenige, fundamentale Ursachen zurück- führt. Ich vermute, daß dabei der en- ge Zusammenhang zwischen dem wieder absinkenden Gesundheitszu- stand der Industrienationen, dem er- löschenden religiösen Bewußtsein, den innerpolitischen Spannungen und der weltpolitischen Situation zutage träte. Mindestens sind die Mentalität des Anspruchs und die Verweigerung von Opfer und Näch- stenliebe dabei zwei führende Sym- ptome. Auf unser Problem ange- wandt, bedeutet das folgendes:

Der moderne Mensch des Industrie- zeitalters verlangt von einer Welt wachsenden Wohlstandes (der sich nur auf die Industriewelt erstreckt!) steigenden Lebensgenuß, den er — gedankenlos wie er ist — mit steigen- der Lebensqualität verwechselt. Er glaubt ferner daran, daß eine immer perfekter werdende Medizin ihn von allen Molesten befreie, und zwar entsprechend seiner Mentalität des Anspruchs ohne Gegenleistung, als Recht auf Gesundheit, als Gesund- heitsgarantie in Form ärztlicher

„Verordnung". Dieses Verordnungs- denken ist aber das Gegenteil von dem, was eine moderne Theorie der Gesundheit verlangt. Es fordert im- mer mehr unsinnige, nicht effektive Leistung zu immer weiter steigen- den Kosten. Diese Kosten sind von der Gemeinschaft der Gesunden, al- so der Solidargemeinschaft der Ver- sicherten, aufzubringen. Der politi- sche Trend, der augenblicklich die- se wahnwitzige Gesundheitspolitik fördert, läßt an Uneinsichtigkeit und

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Verkennung der elementaren Tatsa- chen wenig zu wünschen übrig. Er ist Ausfluß einer veralteten Medizin- theorie und einer Gesellschaftstheo- rie, die eigentlich schon von vorge- stern ist und weder etwas mit Ethos noch mit Sozialismus und natürlich erst recht nichts mit Christentum oder Kommunismus zu tun hat.

Ehe also nicht eingesehen wird, daß jedermann zunächst selbst der Ga- rant seiner Gesundheit ist, bleibt die Lage hoffnungslos. Diese "Selbstbe- teiligung" des Patienten an seiner Gesundheit und Wiedergesundung wäre der Beginn einer neuen Ge- sundheitswelle, und ohne sie ist Ge- sundheit nicht möglich. Solche Selbstbeteiligung hat gewiß nichts mit der antiquierten und nachweis- lich (durch Erfahrung so bestätig- ten) wirkungslosen finanziellen Selbstbeteiligung zu tun, die ein paar Mark für jedes Rezept vom Kranken verlangt. Die Verwirrung der Argumen.te um die "Selbstbetei- ligung" ist grotesk, und gerade die Vertreter der Versicherten sollten die Hohlheit mancher Argumente entdecken. Die hier vorgelegten bit- teren Wahrheiten müssen der Masse der Menschen, den Patienten von heute und morgen, verständlich ge- macht werden. "Verständlich"-das heißt mehr als eine bloße Informa- tion. Es bedeutet, daß der Mensch diese Wahrheiten als ihn selbst be- treffende Wahrheiten erfährt. Die ka- tholische Kirche stand vor dem glei- chen Problem hinsichtlich ihrer Heilsverkündigung in einer Zeit der Zweifel am rechten Glauben. Be- kanntlich hat lgnatius von Loyola, ein Edelmann, der später der Grün- der des Jesuitenordens wurde, in seinem sog. Exerzitien-Büchlein 1522 die motivationsträchtigen Me- thoden zur Erneuerung des geistli- chen Lebens entwickelt, in einer Zeit, welche hinsichtlich des katholi- schen Glaubens ähnlich chaotisch war wie unsere Zeit hinsichtlich der Gesundheit. Damals kam Luther als der große Reformator der Kirche, heute steht uns diese Reformation ins Haus. lgnatius, mit allen Feinhei- ten der Wissenschaft und des kultu- rellen Lebens seiner Zeit vertraut, entwarf einen Vierstufenplan zur

Einübung eines neuen Verhaltens: die Stufe der Läuterung von fal- schem Tun; die zweite und dritte Stufe dienten der Entwicklung einer Nachfolge des Vorbilds Christi; die vierte war dann die Stufe der Eini- gung mit dem theoretisch erfaßten Inhalt.

Dieser Stufenplan ist keineswegs veraltet. Das zeigt schon die hohe Bedeutung, die er heute noch im katholischen Leben hat. Man merkt seine Bedeutung noch mehr, wenn man ihn in Worte der täglichen Um- gangssprache übersetzt. Auf unser Problem angewandt, besagt er:

..,.. zuerst das bisherige falsche Ver- halten beenden;

..,.. danach sich mit der richtigen Theorie der Gesundheit vertraut ma- chen;

..,.. danach die Notwendigkeit eines anderen Lebens auch für sich selbst erkennen;

..,.. endlich, sich in Denken und Han- deln einheitlich verhalten, d. h. zu tun, was man als richtig erkannt hat.

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Ohne Bewußtseinswandel ist Gesundheit nicht herstellbar Was wir derzeit gewahren, ist eine groteske Bestätigung dieser These.

Die Kosten steigen, die Kranken- stände und Sterblichkeilen sinken nicht oder nur dort, wo eine effektive medizinische Behandlung neue Triumphe feiert, was keineswegs selten geworden ist. Aber im Gleich- gewicht der Zahlen können die Er- folge der Medizin die Verluste durch unser unsinniges Leben nicht ein- mal mehr kompensieren. Medizin _ist ein gigantischer Apparat geworden, der seine Schlachten dort verliert, wohin er grundsätzlich nicht greifen kann: in der persönlichen Sphäre der Verantwortungslosigkeit. Die rauchende Jugend, die abends sich mästenden, alkoholseligen Kurgän- ger, die wundergläubige Masse, wel- che Pillen mit Andacht schluckt und sie mit Heil verwechselt, das sind einige Schlagworte, die ein riesiges Spektrum von Fehlverhalten nur an- deuten.

Natürlich gibt es bereits zahlreiche, gesundheitsbewußt lebende Men-

Aufsätze ·Notizen Selbstbeteiligung des Menschen

sehen. Natürlich ist der Einwand möglich, der Unvernünftige werde durch seine Gesellschaft zu solchem Fehlverhalten angeleitet. Was aber ist die "Gesellschaft"? Ist sie etwas anderes als die Gesamtheit aller de- rer, die das sind, was wir hier im Saale sind - Menschen, die im Risi- ko der Krankheit leben? Kann nicht jede Änderung der Gesellschaft nur von den Individuen ausgehen, aus denen sie besteht? Kann nicht- was der Kleidermode recht ist- auch der Gesundheit billig sein: eine neue Mode gesunden Lebensstils? Zu dieser Gesundheitsmode muß noch ein kritisches Wort gesagt werden.

Die Frage bleibt, mit welchem Recht wir den Menschen unserer Zeit Le- bensgenüsse ausreden wollen. Es gibt darauf, soviel ich sehe, mehrere Antworten.

Die erste Antwort ist eine gesell- schaftsmoralische: um der Gemein- schaft der Versicherten Kosten zu ersparen und dem Staat wertvolle Arbeitskraft zu erhalten. Es ist die Antwort sozialistischer Länder, wie wir hörten. Diese Antwort wäre für unseren Staat nur dann ungültig, wenn sich die Mehrheit der Bürger, unter genauer Kenntnis der Tatsa- chen, dafür aussprechen würde, dem einzelnen hier jede Freiheit zu belassen, auch dann, wenn es alle Bürger Geld kostet. Dieser demokra- tische Willensentscheid ist bislang nie herbeigeführt worden.

Die zweite Antwort ist die, daß der einzelne zuwenig vernünftig ist, um das Leid, das ihm droht, unter Op- fern abzuwenden; er verfügt über zuwenig vorausschauende Phanta- sie. Also müssen wir, die wrr ver- nünftiger zu sein. glauben, ihn zu seinem recht verstandenen Glück zwingen. Aber es dürfte schwer sein, das Glück des gegenwärtigen Ge- nießens gegen eine ungewisse Lei- denszeit durch spätere Krankheit aufzurechnen.

Eine dritte Antwort wäre die, daß wir ja nicht Verzichte ohne neue Genüs- se fordern, daß wir gleichsam die schädlichen Genüsse niederer Art durch die höheren kulturellen Ge- nüsse ersetzen müssen, die wir be-

DEUTSCHES ARZTEBLATT Heft 47 vom 20. November 1980 2815

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Programmatisches

beim 33. Bayerischen Ärztetag

II. „Studentenzahlen" und „ärztliche Ausbildung"*)

Mit Entschließungen nahm der 33. Bayerische Ärztetag, der vom 10.

bis zum 12. Oktober 1980 in Rothenburg ob der Tauber stattfand, auch zu Fragen der ärztlichen Ausbildung und der ärztlichen Berufsaus- übung im Krankenhaus Stellung. In seiner Ansprache zur Eröffnung und in seinem Tätigkeitsbericht hatte der Präsident der Bayerischen Landesärztekammer, Prof. Dr. Hans J. Sewering, den Delegierten noch einmal das ganze Ausmaß der Situation vor Augen geführt.

Aufsätze • Notizen

TAGUNGSBERICHTE

Sewering warnte davor, eventuell noch bestehende rein regionale oder sektorale Mangelsituationen im Wege des „Überlaufprinzips" zu be- seitigen. Das werde keinen Vorteil für unsere Gesellschaft bringen, sondern im Gegenteil gesellschafts- politische Komplikationen auslösen,

„die uns noch schwere Sorgen be- reiten werden".

Die Gewißheit, die sich in diesen Worten ausdrückt, stützt sich auf Zahlen. Im letzten Jahr waren bun- desweit rund 9000 Approbationen zu verzeichnen. Der Trend geht nach oben, da jährlich über 11 000 Stu- dienanfänger neu hinzukommen; je- ne, die einen Studienplatz durch Ge- richtsentscheid erworben haben, nicht eingeschlossen.

Auch die Zahl der „Quereinsteiger"

(also jener Medizinstudenten, die z. B. im Ausland studiert haben, erst in höheren Semestern in Deutsch- land ins Medizinstudium einsteigen und dann erst statistisch in Erschei- nung treten können) müßten im Grunde noch den 11 000 Studienan- fängern zugerechnet werden.

Auf jeden Fall, so erläuterte Sewe- ring, bewirken diese „Quereinstei- ger", daß es in Deutschland keinen

„Schwund" an Medizinstudenten gibt, da alle Kandidaten, die bei den Examina durchgefallen sind und das Studium aufgeben, statistisch durch

„Quereinsteiger" ersetzt werden.

Eine Änderung der Situation zeich- net sich nicht ab. Keine Partei ist bereit, die Zahl der Studienanfänger auf ein vertretbares Maß zu vermin- dern. Allseits wird eine Ärzte- schwemme bezweifelt, ja sogar ge- äußert, daß dadurch eine Verbesse- rung der ärztlichen Versorgung zu erwarten wäre. Natürlich sind bei- spielsweise im öffentlichen Gesund- heitsdienst Stellen offen, aber bei der Beurteilung der Zahlen ist zu berücksichtigen, daß jede neu be- setzte Arztstelle dann für Jahrzehnte blockiert ist. Ein anderes Beispiel, das Sewering anführte, ist das neu- geschaffene Gebiet der Arbeitsmedi- zin: Selbst wenn man zur Zeit 6000 bis 8000 freie ärztliche Stellen als einmaligen Bedarf unterstellt, ist dieser dann auf Jahrzehnte abge- deckt. Die „Kleine Kommission"

beim Bundesgesundheitsministe- rium hat dieses Problem vorsichtig angesprochen und gefordert, man solle die Studentenzahl wenigstens nicht weiter erhöhen.

Auf die ärztliche Ausbildung einge- hend, fragte Professor Dr. Sewering:

„Wie sollen denn die in § 2 der Ap- probationsordnung geforderte An- wesenheit und der Erfolg bei Pflicht- unterricht kontrolliert werden?"

Auch die Einbeziehung der Kranken- häuser in die Ausbildung der Medi-

*) Der erste Teil des Berichts über den 33.

Bayerischen Ärztetag wurde in Heft 46/1980 veröffentlicht.

Selbstbeteiligung des Menschen

reithalten. Halten wir sie aber be- reit? Vermitteln wir dem Bürger die Bildung, die für eine höhere Stufe der Kultur unerläßlich ist? Mir scheint, zu solcher hohen Gesin- nung ist nur ein kleiner Teil der Ge- sellschaft fähig und bereit. Die Mehrzahl der Bürger wird es vorzie- hen, lustig und gefahrvoll zu leben.

Wenn das aber so ist, so müßte man es in der Tat vorerst bei der Beleh- rung lassen, jedermann die Chance der Wahl verdeutlichen, aber die Wahl eine echte, existentielle Wahl sein lassen. Man müßte dem Indivi- duum den Rat, der notwendig ist, erteilen, ohne es zur Handlung zu zwingen. Eine Motivation zu neuem Lebensstil wird daraus nur für weni- ge Menschen folgen. Diejenigen, die diesen Stil nicht wollen, sollte man in ihrem Unheil belassen, das ihnen ja als ihr selbstgewähltes Heil er- scheint. Man sollte nur nicht eine Form der Primärprävention mit Un- willigen für teures Geld betreiben, die ersichtlicherweise nutzlos ist.

Denen, die nach besseren Einsich- ten handeln wollen, sollte man hel- fen, in der freien Wahl das Heil ihres Lebens auf eine Weise zu suchen, die ihnen ein Minimum an Krankheit bei einem Maximum an Lebensdau- er in Aussicht stellt.

Was soll dieser Pessimismus? Er ist im Grunde kein Pessimismus, und wenn, so trägt er den Stempel eines

„therapeutischen Pessimismus" an der Stirn. Es gibt kaum ein Problem der Politik, und sicher keines der Gesundheitspolitik, das nicht durch persönliche Opfer lösbar wäre. Na- türlich läßt sich Krankheit niemals vollständig ausrotten. Es gibt

„Schicksale" genetischer und kata- strophaler Natur, die unabwendbar sind. Das Abwendbare aber sollte abgewendet werden. Zu lehren, wie das geschehen könnte und warum wir „einen neuen Menschen anzie- hen" müssen, wie es der Apostel sagt, wenn wir überleben wollen — das ist die gigantische Aufgabe, vor die wir hier und heute gestellt sind.

Anschrift des Verfassers Prof. Dr. med. Hans Schaefer Waldgrenzweg 15-2

6900 Heidelberg-Ziegelhausen

2816 Heft 47 vom 20. November 1980 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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