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Archiv "Blick ins Ausland – HIV/Aids: Chinas tickende Zeitbombe" (16.02.2007)

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Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 104⏐⏐Heft 7⏐⏐16. Februar 2007 A411

T H E M E N D E R Z E I T

G

ao Jun ist übellaunig an die- sem Morgen. Ein Eis hatte er haben wollen, und das bekam er nicht. Nun schaut er trotzig zu Bo- den. Als dann freilich ein paar bun- te Luftballons vor seiner Nase ge- schwenkt werden, kann er nicht wi- derstehen; schreiend und lachend rennt er mit anderen Kindern hin- ter den tanzenden Ballons her – ein Bild unbeschwerter Fröhlichkeit.

Doch der Schein trügt.

Hier, in den nüchternen Räumen des zweistöckigen Gebäudes am Rand der 600 000-Einwohner-Stadt Fuyang in der chinesischen Provinz Anhui, rund zehn Eisenbahnstun- den nordwestlich der Boomregion Schanghai, wird die Kehrseite des nach Wirtschaftsmacht und Weltgel- tung strebenden Reichs der Mitte sichtbar. Hier herrschen Armut, Krankheit und Verzweiflung. Hier ist noch wenig davon zu spüren, dass die Staatsführung in Peking (spät ge- nug) ihre Anti-Aids-Politik komplett umgekrempelt hat. Dass sie jetzt schon fast verzweifelt bemüht ist, die Menschen mit Aufklärungsarbeit und Medienkampagnen über die Im- munschwächekrankheit zu informie- ren und dazu die Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen und privaten Unternehmen sucht.

Der fünfjährige Gao steht als trauriges Symbol dafür. Er ist eine Aidswaise, ebenso wie seine Spiel- kameraden. Es sind heute an die hundert Kinder im Alter zwischen fünf und 16 Jahren gekommen, um wenigstens einmal in der Woche für drei Stunden Unbeschwertheit und Zuwendung zu erfahren. Die Eltern

ge als erfolgreiche Geschäftsfrau in Fuyang tätig, betrieb ein Café sowie Mode- und Sportboutiquen. Dann führte eine amerikanische Freundin sie eines Tages in ein Dorf in der Nähe und zeigte ihr den kleinen Jun- gen. Gao Jun war über und über mit Schwären bedeckt, hauste von der Dorfgemeinschaft gemieden auf gestampftem Lehmboden in einer Hütte, zusammen mit einem Schwein und etlichen Hühnern, sprach kein Wort. Ab und zu reichten ihm Ver- wandte etwas zu essen. Beide Eltern und auch die Großeltern waren an Aids gestorben. Bei den Dorfbe- wohnern galt Gao darum als an- steckend; im Grunde hofften alle auch auf seinen Tod. Tatsächlich trägt der Junge das HI-Virus in sich.

Inzwischen jedoch hat Zhang Yin für ihn eine Gastfamilie gefunden, er erhielt ärztliche Versorgung, die Pickel auf der Haut sind abgeheilt, er spricht und lacht. Demnächst darf sind an Aids gestorben, die Kinder

selbst sind das menschliche Strand- gut, die späten Leidtragenden einer Masseninfizierung, die schon mehr als 15 Jahre zurückliegt. Geradezu serienweise waren damals in der Provinz Anhui und anderen Regio- nen Chinas Bewohner über verun- reinigte, nicht gewechselte und auch

nicht desinfizierte Spritzen ange- steckt worden.

Die Geschichte von Gao Jun ist schnell berichtet. Auch die von den anderen Kindern aus den Dörfern der Umgebung. Zhang Yin hat sie schon oft erzählt. Sie kümmert sich seit drei Jahren um die Ausgestoße- nen. Bis 2003 war die jetzt 37-Jähri- BLICK INS AUSLAND

HIV/Aids: Chinas tickende Zeitbombe

Trotz Wirtschaftsboom und Weltmachtstreben – das Millionenheer der Wanderarbeiter, Armut und Prostitution sind der Nährboden für die Ausbreitung der Infektion.

Aidswaise und HIV-positiv:

Gao Jun (5) wurde von der Dorfgemeinschaft gemieden und vegetierte in einem Schweinestall.

Die offiziellen Zahlen liegen zwischen 600 000 und 800 000 Fällen; wahrscheinlich sind allerdings mindestens eine Million Menschen mit HIV infiziert.

Fotos:Sepp Spegl

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A412 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 104⏐⏐Heft 7⏐⏐16. Februar 2007

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Gao Jun einen Kindergarten besu- chen.

Zhang Yin ist heute eine weithin bekannte Persönlichkeit in China.

Die von ihr gegründete und geführte Fuyang Aids Orphan Salvation Asso- ciation (Gesellschaft zur Rettung von Aidswaisen) gilt bis in höchste staat- liche Stellen als vorbildhaft für pri- vates Engagement. Mittlerweile be- treuen sie und ihr Verein rund 400 Schützlinge, bei Weitem nicht alle sind selbst infiziert.

Verlässliche Daten gibt es nicht.

Man schätzt die Zahl der Aidswaisen in China auf 70 000 bis 80 000.

„Opfer der Armut“ nennt sie Ed- mund Settle, der in Peking die Ent- wicklungsprogramme der Vereinten Nationen betreut. Alles gehe auf die Armut zurück. Auch die Massenepi- demie in der ersten Hälfte der 90er- Jahre, von der ganze Regionen von der Größe mancher europäischer Staaten betroffen waren, in denen es noch immer Dörfer gibt, die – aus Angst vor Ansteckung – von Bussen gemieden werden. Inzwischen hat die chinesische Regierung energi- sche Maßnahmen gegen HIV/Aids eingeleitet. Allein im vorigen Jahr wurden dafür von der Staatsführung 810 Millionen Yuan (knapp 80 Mil- lionen Euro) aufgewendet. Freilich war aber auch offiziell die Existenz

eines Aidsproblems viel zu lange hartnäckig geleugnet worden.

Das änderte sich schlagartig, als vor drei Jahren in China die tödliche Lungenkrankheit SARS ausbrach und sich blitzschnell ausbreitete.

Seither nimmt man in Peking jede Hilfe an – komme sie von den Ver- einten Nationen, von ausländischen Industrieunternehmen oder von pri- vater Seite wie der Bill-Clinton- oder der Bill-Gates-Stiftung. Denn die Lage ist dramatisch. Gewiss, das Ausmaß der HIV/Aids-Verseuchung ist in China bei Weitem nicht so groß wie im südlichen Afrika. Die offiziel- len Zahlen liegen zwischen 600 000 und 800 000 Fällen; wahrscheinlich sind allerdings mindestens eine Mil- lion Menschen mit HIV infiziert. Al- lerdings weist China die weltweit mit Abstand höchste Steigerungsrate – mehr als 30 Prozent pro Jahr – auf, mit noch immer wachsender Ten- denz. Selbst die Regierung fürchtet, bis 2010 könnte die Zahl der Infi- zierten die Zehn- bis 15-Millionen- Grenze überschreiten, wenn die Epidemie nicht gestoppt werde. Pe- ter Piot, der Chef der UN-Hilfskoor- dinierungsstelle UNAIDS in Genf, warnt daher nicht von ungefähr, von der Entwicklung der Krankheit in China hänge die Zukunft von HIV/

Aids in der ganzen Welt ab.

Connie Osborne, selbst Ärztin und aus dem aidsgeplagten südafri- kanischen Sambia stammend, spricht bereits von Chinas „tickender Zeit- bombe“. Die Medizinerin arbeitet im Pekinger Büro der Weltgesundheits- organisation (WHO). Nach deren Er- kenntnissen hat die Aidsgefährdung hier längst den Bereich der Rand- und Risikogruppen im Rotlichtmi- lieu verlassen und auf die Bevölke- rung übergegriffen. Vor allem wür- den zunehmend Frauen mit dem Vi- rus infiziert und trügen über Gebur- ten und Sexualkontakte ihrerseits vermehrt zur Verbreitung bei. Immer wieder kommt Connie Osborne auf die „migrant workers“ zu sprechen – auf das Heer der Wanderarbeiter, das sich im Zuge der Industrialisierung Chinas vor 20 Jahren bildete und seitdem unaufhörlich wächst. Mehr als 120 Millionen Menschen, haupt- sächlich Männer, haben allein in die- sem Jahr ihre Familien verlassen und sind in die Städte des Ostens gekom- men, um Arbeit zu finden. Doch der

„Goldgräber-Eindruck“ um die Me- tropolen Schanghai oder Peking ist nur die eine, die glänzende Seite der Medaille. Die andere: Mindestens 100 Millionen Menschen müssen noch immer von umgerechnet weni- ger als einem US-Dollar pro Tag le- ben, eine noch höhere Zahl sind An- alphabeten. Aus diesem Elend rekru- tiert sich die Armee der „Wander- arbeiter“. Gar nicht oder kaum mit schulischer Bildung oder beruflichen Kenntnissen ausgestattet, für einen Hungerlohn am Bau oder in Restau- rantküchen tätig, mitunter nur in Zelten oder gar am Straßenrand nächtigend, sind sie ein halbes Jahr oder noch länger von den Angehöri- gen daheim getrennt. Da blüht der Straßenstrich, männlich wie weib- In der armseligen

Hütte ihrer Groß- mutter Shi Chun Ying (82) leben die Aidswaisen Jin Hong (14), Xin Lei (11) und Huang Xin Mei (12).

Zhang Yin und William (Bill) Va- lentino mit der HIV- positiven Nan Nan (15), deren Eltern an Aids gestorben sind.

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lich. Und von Schutz, Verhütung oder Vorsorge gegen Krankheit und Ansteckung hat hier noch niemand etwas gehört. Gesundheitskontrol- len? Wie soll das flächendeckend ge- schehen, wo doch niemand eine auch nur grobe Übersicht über die „mi- grant workers“ hat? Von den Kosten ganz zu schweigen.

Connie Osborne ist trotzdem überzeugt, „dass wir diesen Kampf gewinnen“. Woher die Zuversicht kommt? „Oh“, lacht sie, „wissen Sie:

Optimismus ist mein zweiter Name.“

In der 20-Millionen-Metropole Peking finden sich manche von ihrem Schlage – Personen aus den unterschiedlichsten Bereichen und Milieus, die jeden Tag von Neuem in die Hände spucken. Auch William (Bill) Valentino ist so jemand. Der 56-jährige Amerikaner ist Kommu- nikationschef des Pharmakonzerns Bayer in Peking. Für ihn steht und fällt der Erfolg im Kampf gegen die HIV/Aids-Epidemie mit der Beant- wortung der Frage, „ob es uns ge- lingt, so viel Wissen wie möglich über die Krankheit, ihre Ursachen und die Möglichkeiten ihrer Verhin- derung unter die 1,3 Milliarden Chi- nesen zu bringen“. Bayer ist deshalb im November 2004 mit der ange- sehenen Tsinghua-Universität der Hauptstadt eine Partnerschaft einge- gangen. Der Leverkusener Konzern finanziert an der dortigen Schule für Journalismus und Kommunikation ein Programm, das speziell dem Thema HIV/Aids, der Berichterstat- tung darüber und dem Umgang da- mit dient. Valentino ist Kodirektor dieses Seminars und hält selbst Vor- lesungen über Öffentlichkeitsarbeit und seriösen Journalismus, scheut sich aber auch nicht, bei „techni- schen“ Demonstrationen mit Attrap- pen und Kondomen Aufklärungs- unterricht zu erteilen. Die Ziel- gruppen: hauptsächlich Journalisten, Ärzte – kurz Multiplikatoren, die das neu erworbene Wissen weiter trans- portieren sollen.

Inzwischen wurde das „Tsinghua- Bayer-Programm“ schon mehrfach ausgezeichnet, mehr als 600 Perso- nen haben diese „Schule“ durchlau- fen. Und zwar keineswegs nur auf dem Uni-Campus in der Hauptstadt, sondern auch in der Provinz.

An einer Anti-Aids-Front ganz an- derer Art wirkt Xiao Dong. Kaum je- mand in Peking kennt den schwulen Straßenstrich so genau wie dieser zierliche 30-Jährige, an dessen wei- ßem Hemd immer die rote Aids- schleife prangt. Xiao nennt sich „vol- unteer“ – freiwilliger Helfer. Dafür erhält er vom chinesischen Gesund- heitsministerium ein kleines Entgelt.

Er hat das Vertrauen der Szene, ist selber schwul und lebt mit einem Freund zusammen. Vor allem lebt er für zwei Ziele: Die Homosexuellen sollten sich erstens zu ihrer Neigung bekennen und zweitens die staatli- chen Angebote zu HIV/Aids-Tests nutzen. Und er stößt auf offene Ohren bei den Strichjungen. Zum Beispiel bei denen, die rund um die Uhr in einer Absteige mit dem Namen „Lan Te Bing Guan“ – zu deutsch „Blaues Spezialhotel“ – auf Abruf bereitste- hen. In 70 Zimmern sind die jungen

Männer ihren Kunden zu Diensten – je Stunde für umgerechnet 30, 50 oder 80 Euro. Eine Tageseinnahme hier liegt weit über einem Monatsge- halt daheim, auf dem Lande.

Xiao Dong hat ein Treffen vermit- telt. 18 Jahre ist der Jüngste aus der Gruppe, er spielt den Clown. 36 Jah- re der Älteste, den die anderen „Mut- ter“ nennen. Er selbst sieht sich eher als deren Zuhälter, aber auch Be- schützer. Es ist ein lebhaftes Ge- spräch. Ja, die meisten kämen aus der Provinz. Nein, die Eltern wüssten nichts von ihrem Leben. Schule?

Nicht abgeschlossen. Beruf? Na, se- hen Sie doch: sex worker. Legalisie- rung von Homosexualität in China – ja, das wäre ein Traum. Gesundheits- tests? Sicher – zum Glück habe sie Xiao Dong davon überzeugt. Übri- gens, alle hier hätten sich mittler- weile als „volunteers“, als freiwil- lige Helfer im staatlichen Zentrum für Gesundheitskontrolle gemeldet.

Xiao Dong räumt später ein, schon ein bisschen stolz darauf zu sein, we- nigstens hier das Bewusstsein für die HIV/Aids-Gefahr geweckt zu haben.

Ein Hospital in Peking hat inzwi- schen Berühmtheit erlangt. Sein Na- me: Friede und Freundschaft. Bill Clinton hat es bereits besucht und auch Kofi Annan, der ehemalige UN-Generalsekretär. Sie kamen ins

„Home of Loving Care“ – Heim für liebevolle Behandlung. Das ist die Bezeichnung für die im November 1998 dort eingerichtete Aidsstation.

Fu Yan, die Oberschwester, versi- chert, die Einrichtung sei jederzeit für alle offen. Und dann präsentiert sie, erkennbar traurig, ihren jüngsten Patienten: Der zwölfjährige Meng Meng (ein Pseudonym) war mit sei- nem Vater 20 Stunden mit der Eisen- bahn unterwegs, um hier, in der Hauptstadt, Behandlung, Hoffnung und neuen Lebensmut zu finden. Zu Hause hatte ein Test die nieder- schmetternde Nachricht HIV-positiv erbracht. Und das, obwohl weder Vater noch Mutter infiziert sind. In- zwischen kennt man die Ursache.

Meng Meng hatte einen Unfall und erhielt im heimischen Krankenhaus eine Infusion – mit einer verseuchten Spritze. Die Zeitbombe Aids tickt unvermindert weiter . . . I Gisbert Kuhn 20 Stunden mit

der Eisenbahn unterwegs war der zwölfjährige HIV-positive Meng Meng, begleitet von seinem Vater, um im Hospital Friede und Freundschaft in Pe- king Hilfe zu finden.

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