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Die Legende des Künstlers: Beuys und Leonardo

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Originalveröffentlichung in: Leonardo da Vinci: Joseph Beuys. Der Codex Leicester im Spiegel der Gegenwart (Haus der Kunst München), München 1999, S. 57-67

Die Legende des Künstlers:

Beuys und Leonardo

A L E S S A N D R O N O V A

K e i n anderer Künstler des 2 0 . Jahrhunderts hat die M e i n u n g e n seiner A n h ä n g e r u n d Verleumder s o polarisiert wie Joseph Beuys. Aber sogar wer i h n verspottet oder beleidigt1, m u ß zugeben, d a ß es sich l o h n t , über das P h ä n o m e n >Beuys< z u reden. T r o t z aller möglichen unterschiedlichen Bewertungen s t i m m e n die mei­

sten Kritiker darin überein, d a ß der Künstler seinen eigenen M y t h o s kreierte u n d pflegte. Es ist z u d e m kein G e h e i m n i s , d a ß Beuys die K u n s t Leonardos b e w u n ­ derte. Ziel dieses Beitrags ist es erstens z u zeigen, d a ß die Künstler der Frühen Neuzeit ein wichtigeres u n d bewußteres Vorbild für Beuys waren als m a n bisher dachte, u n d zweitens die literarische Quelle z u ermitteln, die seine Rezeption L e o n a r d o s beeinflußte.

D i e Kunsthistoriker, die Beuys herablassend kritisieren, weil er mehr seine Person als sein W e r k d e m öffentlichen Blick ausgesetzt habe (als ob es möglich wäre, beide Sphären klar v o n e i n a n d e r z u trennen), vergessen, d a ß die Selbst­

i n s z e n i e r u n g eine der traditionsbeladenen Strategien in der Geschichte der K u n s t ist: N i c h t n u r Michelangelo oder Rembrandt, sondern auch Picasso u n d C i n d y S h e r m a n haben, u m in diesem Jahrhundert zu bleiben, ihre eigene Person geschickt gefördert. D i e Kritiker v o n Beuys vergessen zudem, d a ß bereits ein Künstler w i e Leonardo da V i n c i der erste war, der ähnliche Taktiken verwendete, u m eine Legende v o n sich selbst z u nähren. Der m a n c h m a l kitschige D e k a d e n z ­ m y t h o s v o n Leonardo als einem A n d r o g y n , Alchimist oder Magier hat sich über J a h r h u n d e r t e h i n w e g entwickelt, aber bereits der P h i l o s o p h Eugenio G a r i n be­

merkte, d a ß Leonardo selbst die ersten Pinselstriche des fiktiven Porträts vorbe­

reitet hat, das Vasari in seinen einflußreichen Vite (1550 u n d 1568) schuf.2

D a ß L e o n a r d o seine öffentliche Person pflegte u n d sozusagen >konstruierte<, ist unbestritten, aber wie hat er dieses Ziel konkret erreicht? Die frühesten Q u e l ­ len wie Paolo G i o v i o u n d Vasari betonen seine Neigung z u eleganten Kleidern u n d teuren Accessoires. G i o v i o schrieb u m 1527, also ungefähr acht Jahre nach

Mein herzlicher Dank gilt Klaus Herding für seine freundliehen Hinweise.

1 Eine tlcr fundierten Kritiken lieferte Benjamin H.D. Buchloh, Beuys: The Tuilight of the Idol.

Preliminary notesfora Crititjue, in: Artforum, 18, Januar 1980, S. 35-4 3. Leider hat sein Beitrag auch oberflächliche Reaktionen inspiriert, vgl. Thomas Crow, The Graying ofCriticism, in: Artforum, 32, September 1993,

S. 185-188, bes. S. 188 und den irritierenden, weil beleidigenden Artikel von Terry Atkinson, Beuyspeah, in: D. Thisllewood (H<>.), Joseph Beuys. Diverging Critiques, Liverpool 1995, S. 165-176.

2 Eugenio Garin, Universalitd di Leonardo, in: Scienza e vita civile nel Rinascimento italiano, Bari 1972 [1965], S. 95: tlndugiare sul Leonardo vasariano era necessario per mostrare l'origme antica di un'immaginc che per tanti aspetti e un diaframma fra noi e quell'uomo singolare. Eppure sc veniamo a chiederci di dove mai nascesse quel ritratto famoso, sarebbe difficile non riconoscere che Vasari si fece spesso interprete fedele di Leonardo mede-

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d e m Tod des Malers: »Der Zauber v o n Leonardos W e s e n , das B l e n d e n d e seiner A n l a g e n , die freigebige Güte seiner Natur waren n i c h t geringer als seine körper- liche Schönheit; u n d ebenso groß war sein G e n i e i m Erfinden, i m Veranstalten v o n Theaterinszenierugen u n d Festzügen; er galt als oberster Richter i n allen Fragen der Eleganz u n d Schönheit; auch sang er herrlich, z u m Ergötzen des ganzen Hofes, wobei er sich selbst a u f der Laute begleitete.«' G i o v i o malte das Porträt eines perfekten H o f m a n n e s , der in seine Gesellschaft g a n z integriert war.

Kein A l c h i m i s t , kein Zauberer, kein M i s a n t h r o p , s o n d e r n ein vielfältiges Talent, das in seinem Aussehen fast wie ein K u n s t w e r k wirkte. Vasari w i r d dieses Porträt retouchieren, er wird die Farben ausmalen, aber ist dieses idealisierte Bild eine pure Fiktion?

W e n n wir die privaten Notizbücher Leonardos lesen, finden w i r seine Kleider, Stiefel, Schuhe, Socken, Taschentücher, H a n d s c h u h e , H e m d e n , W a m s oder Weste, Gürtel u n d Hüte immer wieder aufgelistet u n d m a n c h m a l sogar genaue A u s g a b e n für die Garderobe seines Lieblingsassistenten.4 A u c h Pferde treten in seinen N o - tizen mehrmals auf: Das schwarze R o ß u n d der w e i ß e H e n g s t haben s c h ö n e Beine, Hälse u n d Köpfe, bemerkte Leonardo; in diesen B e o b a c h t u n g e n spürt m a n , d a ß er diese Tiere nicht als A n a t o m , s o n d e r n als H o f m a n n oder potentieller Besitzer analysierte. M i t anderen W o r t e n : L e o n a r d o wollte w i e ein seigneur wir- ken, u n d dies war für einen Künstler an der Schwelle v o m 15. z u m 16. J a h r h u n d e r t nicht selbstverständlich. Der soziale Status des Künstlers h a t sich in der soge- n a n n t e n Hochrenaissance gewaltig verändert, aber die A s p i r a t i o n e n der Pro- tagonisten dieser Epoche waren sehr unterschiedlich. Für Michelangelo war es beispielsweise viel wichtiger, die fiktive aristokratische H e r k u n f t seiner Familie z u behaupten, w ä h r e n d Raffael s o stark an realer M a c h t interessiert war, d a ß er m i t der Idee spielte, Kardinal z u werden. L e o n a r d o wollte statt dessen als H o f m a n n leben, u m die Privilegien des freien Denkers z u genießen.

Seine Rolle am H o f v o n Ludovico Sforza in M a i l a n d hat diese A m b i t i o n e n genährt u n d teilweise erfüllt. A l s Leonardo 1482 v o n Florenz nach M a i l a n d z o g , schrieb er einen Brief an Ludovico il M o r o , in d e m er d e m H e r z o g seinen D i e n s t anbot (Codex Atlanticus, fol. 1082, ex 3<)ir-a). A m E n d e dieses Briefes erwähnte der Künstler fast wie einen nachträglichen Einfall, d a ß er auch jedes beliebige Werk aus Marmor, Bronze oder Terrakotta so wie alle A r t e n v o n G e m ä l d e n her- stellen k ö n n e u n d dies so s c h ö n wie die schönsten Skulpturen u n d Bilder der bes ten Meister. Nach M a i l a n d wollte er aus anderen G r ü n d e n u m z i e h e n : N u r dort würde sich i h m die Möglichkeit eröffnen, seine K e n n t n i s s e in der Militär- technik z u zeigen u n d sein Interesse für die wissenschaftliche Forschung z u kul- tivieren. M a n darf nie vergessen, d a ß Leonardo mit seinem U m z u g nach M a i l a n d Abschied v o n der florentinischen »culture des ateliers« n a h m , u m in ein ganz

} Für den lateinischen Text vgl.

P. Barocchi (Hg.), Scritti d arte del Cinquecento, Band I, Mailand und Neapel 1971, S. 9. Für die deut- sche Übersetzung vgl. A. Chastel (Hg.), Leonardo da Vinci. Sämt- liche Gemälde und die Schriften zur Malerei, München 1990, S. 74-76.

4 Vgl. J. P. Richter (Hg.), T h e Notebooks of Leonardo da Vinci, Band II, New York 1970 [188}], S. 4)9.

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anderes M i l i e u einzutreten u n d dort neue F u n k t i o n e n z u erfüllen: Sein offizielles H o f a m t w a r (wie bei Bramante) ingeniarius ducalis u n d nicht Maler.5

D i e Rolle Leonardos a m H o f des Sforza war vielfältig. Er war nicht nur I n - genieur, Architekt, Bildhauer, Maler u n d Verantwortlicher für Theaterinszenie- rungen, s o n d e r n auch Unterhalter. G i o v i o erwähnte, d a ß er >herrlich< m i t der Laute spielte, aber w i r wissen auch, d a ß m a n seine Rätsel u n d >Prophezeiungen<

öffentlich zur Unterhaltung gelangweilter H o f m e n s c h e n rezitierte, wie die Regie- a n w e i s u n g e n Leonardos verdeutlichen. Eines dieser Rätsel, das den Charakter der ganzen Serie vermittelt, lautet: »Viele werden damit beschäftigt sein, v o n die- s e m D i n g etwas w e g z u n e h m e n , doch wächst es u m ebensoviel, wie m a n v o n i h m w e g n i m m t . « D a s rätselhafte >Ding< ist die G R ü B E. Aber wichtiger ist, d a ß Leo- n a r d o auch Hinweise für den Schauspieler hinzufügte: »Sag es frenetisch oder als würdest d u irrereden, als wärest d u krank im Hirn.«6 M i t diesen W i t z e n wollte sich L e o n a r d o über die scharlatanischen >Propheten< seiner Zeit lustig machen.

D o c h klingen andere Texte Leonardos unheimlich u n d geheimnisvoll, wie seine hochliterarische Beschreibung der Sintflut oder noch mehr seine berühmte Besichtigung einer finsteren H ö h l e beweisen. Weil der Maler in diesem zweiten Fall gar nichts sehen k a n n , w e n n er auf der Schwelle der Grotte steht, wird er v o n zweierlei G e f ü h l e n überrollt: »Angst u n d Verlangen; die A n g s t v o n der d r o h e n d e n finsteren H ö h l e , das Verlangen z u sehen, o b nicht etwas Wunderbares darin ver- borgen ist.«7

Diese A m b i v a l e n z war typisch für Leonardo. W e n n auch nicht z u bestreiten ist, d a ß der spätere M y t h o s z u e i n e m Mißverständnis u n d m a n c h m a l sogar einer M a n i p u l a t i o n dieser Texte führte, so k a n n m a n doch deutlich erkennen, d a ß sie geeignet waren, eine Legende z u nähren.

E i n dritter P u n k t ( n a c h K l e i d u n g u n d suggestiver Sprache) ist noch z u d i s k u - tieren, n ä m l i c h das Verhalten Leonardos angesichts seiner Arbeit. Es gibt eine grundlegende Quelle, u m die neue Arbeitsmethode des Künstlers einzuschätzen:

Es handelt sich u m eine Novelle v o n Matteo Bandello, die Leonardo bei der B e m a l u n g des Abendmahls i m Refektorium v o n S. Maria delle Grazie in M a i l a n d beschreibt. Matteo, der Neffe v o n V i n c e n z o Bandello, Prior des D o m i n i k a - nerklosters zur Zeit v o n Leonardos A u f e n t h a l t in Mailand, schreibt: »Mehrmals habe ich L e o n a r d o gesehen, als er früh am Morgen auf dem Gerüst vor d e m Abendmahl an die Arbeit ging, u n d dort stand er v o m S o n n e n a u f g a n g bis z u m

E i n b r u c h der Dunkelheit, o h n e seinen Pinsel niederzulegen. Er malte k o n t i n u - ierlich, o h n e z u essen oder z u trinken. D a n n berührte er drei oder vier Tage lang seine Arbeit nicht, s o n d e r n verbrachte jeden Tag mehrere S t u n d e n damit, sie z u analysieren u n d die Figuren kritisch z u betrachten.«8 D i e Worte Bandellos impli- zieren, d a ß diese Art z u arbeiten neu war. In einer Epoche, in der die Künstler

5 Vgl. Anna Maria Brizio, Presentazione dei Codici di Madrid, Florenz 197;, S. 17-18.

6 Vgl. A. Chastel, viieAnm.}, S.

332.

7 Vgl. A. Chastel, wie Anm. }, S. 50.

8 Matteo Bandello, La prima (!a seconda, la terza) parte, de le Novelle del Bandello, Lucca 1554, Widmung der novella LVIII. Der um 1484 geborene Bandello hatte sein ganzes Leben lang Novellen gesammelt.

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m a n c h m a l noch für jede gemalte Gestalt bezahlt w u r d e n , m u ß t e das Verhalten Leonardos als besonders merkwürdig gelten. D i e s bestätigt eine A n e k d o t e Vasaris: »Man sagt, d a ß der Prior [Vincenzo Bandello] dieses Klosters L e o n a r d o auf ungemein lästige Weise zur V o l l e n d u n g seiner A r b e i t drängte, schien es i h m doch seltsam, d a ß Leonardo zuweilen halbe Tage i n G e d a n k e n versunken z u - brachte.«5 Die Freiheit, tagelang über seinem eigenen W e r k z u meditieren, war ein neues P h ä n o m e n , u n d es war Leonardo, der z u s a m m e n m i t anderen K ü n s t - lern der s o g e n a n n t e n Hochrenaissance a u f diese A r t d e n Status seiner Profession grundlegend änderte.

Leonardo hat seine Legende nicht geschrieben, aber die Prämissen seines M y t h o s sorgfältig u n d vielleicht bewußt vorbereitet. D e r Künstler als affektierter

>Dandy< mit prunkvollen Kleidern sah eher wie ein H o f m a n n aus als wie ein Handwerker; sein musikalisches u n d literarisches Talent kreierte Vorstellungen, die alles andere als esoterisch waren, aber doch ambivalent blieben; u n d sein künstlerisches Verhalten betonte gegenüber seinen Auftraggebern demonstrativ seinen intellektuellen Status.

W e n n wir n u n diesem Bild v o n e i n e m außergewöhnlichen M e n s c h e n n o c h seine Sitten u n d seine Forschungen im Feld der A n a t o m i e h i n z u f ü g e n , k ö n n e n wir verstehen, d a ß sich später der >dämonische< M y t h o s v o n L e o n a r d o als d e m Zauberer u n d sogar N e k r o m a n t e n entwickelte, o b w o h l der Künstler in seinen Schriften heftig gegen die N e k r o m a n t i e polemisiert hatte. L e o n a r d o w a r bei- spielsweise Vegetarier, u n d bis z u m A n f a n g des 16. J a h r h u n d e r t s w u r d e seine geliebte anatomische Praxis als verdächtig w a h r g e n o m m e n . M a n braucht n u r daran z u erinnern, wie sich Vesalius u n d seine p a d u a n i s c h e n Studenten die Leichen für ihre anatomischen Studien besorgten (sie h a b e n Friedhöfe profa- niert, Trauerzüge überfallen u n d Gräber geplündert), u m z u verstehen, m i t w e l - chen K o n n o t a t i o n e n die A n a t o m i e bis in die Frühe Neuzeit versehen wurde. D i e Ö f f n u n g des Körpers war im Frühmittelalter ein Tabu, u n d der erste d o k u m e n - tierte Fall einer A u t o p s i e in Italien datiert v o m Jahr 1286, als eine große Seuche Norditalien heimsuchte. In diesem Jahr öffnete ein A r z t aus C r e m o n a den Körper eines M a n n e s , u m die Ursache der A n s t e c k u n g z u untersuchen. D i e Praxis der Autopsie verbreitete sich schnell, u m die Ursache des Todes festzustellen; sie w u r - de v o n einem gesundheitlichen B e f u n d z u einem forensischen A r g u m e n t . D i e K o m m u n e v o n Bologna, welche über die besten m e d i z i n i s c h e n u n d juristischen Fakultäten dieser Zeit verfügte, stellte einen Pool v o n b e r ü h m t e n Ärzten ein, die als Zeugen in Vergewaltigungs- u n d M o r d p r o z e s s e n befragt werden k o n n t e n .

. . . . 9 Vgl. die noch unpublizierte

A m A n f a n g untersuchten diese Arzte nur das A u ß e r e der Leichen, aber kurz nach Übersetzung von Sabine Feser und

1300 führten sie bereits echte A u t o p s i e n aus. Der erste dokumentierte Fall d ü r f - Vktoria Lorimim Kunstgeschick-

liehen Institut der Johann Wolfgang

te Sich 1302 ereignet haben. Goethe-Universität in Frankfurt.

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Es ist schwer z u sagen, ob die ersten >rein wissenschaftlichem a n a t o m i s c h e n U n t e r s u c h u n g e n an der Universität B o l o g n a vor oder nach diesen forensischen A u t o p s i e n stattfanden. Sicher ist, d a ß der erste klare Beweis für eine solche ana- t o m i s c h e Präparation auf das Jahr 1316 z u datieren ist. Dieses Ereignis wird i m a n a t o m i s c h e n Lehrbuch v o n M o n d i n o de'Liuzzi erwähnt, ein Text, den Leonardo i n seiner Bibliothek besaß.

D i e frühesten A u t o p s i e n fanden wahrscheinlich in privaten Palästen statt.

Später schrieb das Lehrprogramm der Universität vor, d a ß die Studenten einmal oder zweimal pro Jahr jeweils vier Tage lang eine öffentliche A u t o p s i e besuchen sollten. D e r Podestä, also der Inhaber der höchsten Magistratur der K o m m u n e , gab der m e d i z i n i s c h e n Fakultät für Unterrichtszwecke die Körper v o n weiblichen u n d m ä n n l i c h e n Verbrechern, die meist zugleich arme Ausländer waren. Dies zeigt, d a ß m a n die A u t o p s i e als eine für den Toten entwürdigende Praxis w a h r - n a h m .

In den achtziger Jahren des 15. Jahrhunderts veränderte sich die Situation leicht: D a s Material für die A u t o p s i e n kam nicht mehr nur v o m Galgen, sondern auch aus d e n Krankenhäusern. Aber die alten Assoziationen mit der Profanie- r u n g des Körpers waren nicht plötzlich verschwunden. I m Gegenteil, die grausa- m e n Aspekte der A u t o p s i e provozierten in der Zeit, in der die M e d i z i n ihre m o d e r n e wissenschaftliche Basis entwickelte, gleichzeitig ein Mißtrauen gegen dieses mysteriöse u n d m a n c h m a l dubiose U n t e r n e h m e n . Dies war vermutlich der G r u n d , w a r u m Leonardo in späteren Zeiten als eine A r t Zauberer dargestellt wurde.

Z u s a m m e n f a s s e n d k a n n m a n behaupten, d a ß s o w o h l der sonnige als auch der d u n k l e M y t h o s v o n Leonardo seine W u r z e l n i m realen Leben des Künstlers fand.

Er war für seine Legende nicht direkt verantwortlich, aber seine affektierte Eleganz, seine u n g e w ö h n l i c h e n Sitten, seine Arbeitsmethode, seine wissen- schaftliche Praxis u n d seine ambitionierten, ambivalenten literarischen Texte lieferten d e n Stoff für die späteren fiktionalen Gestalten Leonardos.

W ä h r e n d die erste Biographie v o n G i o v i o n o c h vor allem die Begabung, G r o ß - zügigkeit u n d S c h ö n h e i t des Künstlers betonte, führte Vasari unheimliche Per- spektiven i n sein Profil ein. U m ein Rundschild mit einem außergewöhnlichen M o t i v z u malen, »brachte Leonardo in einen seiner Räume, zu d e m nur er selbst Zutritt hatte, zwei A r t e n v o n Eidechsen, des weiteren Grillen, Schlangen, Falter, Heuschrecken, Fledermäuse u n d noch andere seltsame Tiere vergleichbarer Art.

V o n allen diesen n a h m er verschiedene Teile [zum Vorbild] u n d vereinigte sie z u e i n e m schrecklichen, grauenerregenden Ungeheuer, das mit seinem A t e m G i f t u n d Feuer spie.« Vasari sammelte andere ähnliche Geschichten, u m das neue Bild des Zauberers z u skizzieren, u n d in der Ausgabe seiner Vite v o n 1550 ging er so

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L I O N A R D O D i V I N C I :

w e i t , d e n Maler als eine A r t Ketzer darzustellen. D i e h e t e r o d o x e n G e s i c h t s z ü g e v e r m e h r t e n sich, u n d w e n n die B i o g r a p h i e Vasaris d e n » G l a n z seiner s c h ö n e n

E r s c h e i n u n g « n o c h e r w ä h n t e , s o zeigte der H o l z s c h n i t t der z w e i t e n E d i t i o n ( 1 5 6 8 ) ein Porträt (ABB. i) , d a s als Stereotyp des alten W e i s e n , des P r o p h e t e n o d e r des Magiers interpretiert wurde.1 0

M i t Vasari w a r die M e t a m o r p h o s e fast v o l l s t ä n d i g , aber es w a r G i o v a n Paolo L o m a z z o , d e m es i n s e i n e m i r o n i s c h e n Libro dei Sogni ( u m 1 5 6 4 ) u n d in s e i n e m Traktat über die Malerei ( 1 5 9 0 ) gelang, die Basis für d e n M y t h o s u m L e o n a r d o als A n d r o g y n u n d D r u i d e z u schaffen: »Ebbe la faccia c o n Ii capelli longi, c o n le ciglia e c o n la barba t a n t o l o n g a , che egli pareva la vera n o b i l t ä del s t u d i o , quäle fu giä altre volte il d r u i d o E r m e t e [Trismegisto] o 1 a n t i c o Prometeo.«11

L e o n a r d o w a r also bereits v o r d e m E n d e des 16. J a h r h u n d e r t s m y t h i s i e r t , u n d sein B i l d erlebte bis in unsere Zeit mehrere I n t e r p r e t a t i o n s v a r i a t i o n e n . D o c h hat keine a n d e r e Gesellschaft die L e g e n d e L e o n a r d o s o tief verehrt, s o geliebt u n d gleichzeitig gehaßt w i e die v i k t o r i a n i s c h e D e k a d e n z . Spätestens seit W a l t e r Pater die Gioconda als u n s t e r b l i c h e n V a m p i r darstellte ( 1 8 6 9 ) , h a t sich der M y t h o s u m L e o n a r d o gewaltig verbreitet. A b e r in u n s e r e m K o n t e x t ist es n u r n o t w e n d i g , Sär J o s e p h ( i n ) Peladan z u e r w ä h n e n , weil z u v e r m u t e n ist, d a ß B e u y s s e i n verzerrtes

L e o n a r d o - B i l d d u r c h diesen einseitigen Filter introduzierte.

Peladan w a r ein typisches P r o d u k t der f r a n z ö s i s c h e n Literaturszene der z w e i - ten H ä l f t e des 19. J a h r h u n d e r t s . M i t seiner p r ä t e n t i ö s e n Ethopee, e i n e m u n t e r d e m Titel La decadence latine z w i s c h e n 1885 u n d 1 9 0 7 publizierten R o m a n z y k l u s i n 21 B ä n d e n , w o l l t e er eine F o r t f ü h r u n g der Comedie humaine v o n Balzac liefern, aber n a c h e i n e m kurzfristigen Erfolg w u r d e n seine lächerlichen T h e o r i e n m i t ö f f e n t l i c h e m G e s p ö t t bedacht. Für Peladan w a r die l a t e i n i s c h e Rasse< a m E n d e ihrer M i s s i o n , weil der M a t e r i a l i s m u s t r i u m p h i e r t habe u n d die k a t h o l i s c h e W a h r h e i t vergessen sei. I h m z u f o l g e w a r die G e s e l l s c h a f t v o m B ö s e n besessen,

A B B . 1 Cristofano Coriolano, Porträt Leonardos, Holzschnitt,

70 x 50 mm (Oval), 125 x 105 mm (Rahmen), in:

Giorgio Vasari, Le Vite de'piü eccellenti Pittori, Scultori e Architettori, Florenz 1568.

10 Vgl. Donald J. Gordon, La leggenda di Leonardo, in: L'imma- gine e la parola. Cultura e simbo- 11 del Rinascimento, Mailand 1987 [1975}. S. 115-142.

11 Glan Paolo Lomazzo, Scritti sulle arti, R. P. Ciardi (Hg.), Band I, Florenz 1973, S. 293.

>Hermes der Philosoph ist in den Notizenbüchern Leonardos wenigstens einmal erwähnt, vgl.

1. P. Richter, wieAnm. 4, S. 430.

12 Vgl. Sandra Migliore, Tra Hermes e Prometeo. Ii mito di Leonardo nel decadentismo europeo, Florenz 1994.

13 Zu Peladan ist immer noch nützlich Mario Praz, La carne, la motte e il diavolo nella letteratu- ra romantica, Turin 1942, S. 333- 345-

14 Das Interesse von Beuys für Wagner ist bekannt, vgl. Heiner Stachelhaus, Joseph Beuys, 2. Auflage, Düsseldorf 1988, S. 12.

Man kann hier das >Parzival- Finale< der Aktionen >Celtic (Kin- loch Rannoch) Schottische Sympho- nie< in Edinburgh (1970) und

>Celtic + Zivilschutzräume< in Basel (1971) erwähnen, obwohl die Figur von Parzival für Beuys auch andere und vielleicht wichtigere Konnotationen hatte: vgl. UweM.

Schneede, Joseph Beuys. Die Aktionen, Ostfildern-Ruit bei Stuttgart 1994, S. 266-271 und 274-286.

15 In einem Interview mit Willoughby Sharp sagte Beuys:

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u n d n u r einige Elitewesen wie der Weise Merodack Baladan (ein fiktives

Selbstporträt, inspiriert v o m babylonischen K ö n i g aus Isaias, 3 9 ) waren fähig, die W e l t z u retten.15

Es ist anderen z u überlassen, die potenzielle Verwandtschaft zwischen der Ethopee v o n Peladan (verbunden mit seinem Interesse für wagnerianische T h e m e n sowie seinem H a ß auf den Positivismus) u n d einigen Aspekten der Ästhetik v o n Beuys, der mit wagnerianischen T h e m e n spielte14 u n d sich v o m Positivismus der Naturwissenschaften distanzierte", z u überprüfen. Hier sind drei andere Punkte v o n Bedeutung: Erstens entwickelte auch Peladan, ähnlich wie Leonardo u n d spä- ter Beuys, eine >Uniform<, u m seinem konfusen antipositivistischen Spiritualismus einen angeblich charismatischen Charakter zu geben. Zweitens gründete Peladan 1888 z u s a m m e n mit dem Marquis Stanislas de Guaita u n d O s w a l d W i r t h L'Ordre Kabhalistique de la Rose-Croix, u m im Bereich der K u n s t den Materialismus zu bekämpfen. A u c h hier sind die Parallelen z u Beuys auffallend. A u f der Documenta 5 stellte der Künstler zwei Demo-Schilder aus mit den Inschriften »Dürer, ich füh- re persönlich Baader +/+Meinhof durch die Dokumenta V J. Beuys« (ABB.2).16 Die W i e - derholung des Zeichens + bedeutet, daß es nicht als >plus< oder >und<, sondern als Kreuz (eines der beliebtesten Symbole v o n Beuys u n d übrigens auch Peladans) z u interpretieren ist. Weil beide Schilder auf ein Paar mit Fett gefüllte Filzpantoffel gestellt wurden, aus dem zwei Rosenstiele herausschauten, so daß die Knospen in der Materie steckten, k a n n m a n in dieser Arbeit ein Wortspiel über die Rosen- kreuzer sehen. Dieses Wortspiel taucht auch in anderen Werken v o n Beuys wieder auf. A u f den ersten beiden Seiten seines The Secret Block fora Secret Person in Ireland (eine zwischen 1956 u n d 1972 erstellte Serie v o n Zeichnungen, die erstmals in O x f o r d ausgestellt wurde) lesen wir unter N u m m e r 6 u n d 14 zuerst auf Englisch u n d d a n n auf Deutsch: >Cross< oder >Kreuz< u n d >Temple of the rose< oder /Tempel der Rose<.17 Übrigens hat Heiner Stachelhaus, Beuys »offiziellen Biograph, zugege- ben, d a ß der Künstler »etwa Mitte der fünfziger Jahre v o n den Rosenkreuzern fasziniert« war u n d die Bücher Peladans kannte.18 Stachelhaus steht zu Beuys wie C o n d i v i zu Michelangelo; er versucht, diesen peinlichen Z u s a m m e n h a n g zu baga- tellisieren, aber der Einfluß Peladans auf Beuys - u n d dies ist der dritte Punkt - war wahrscheinlich größer als bisher angenommen. Es ist vermutlich kein Zufall, dass Peladan zahlreiche Artikel u n d Bücher über einen imaginären Leonardo da Vinci publizierte. Vielleicht kannte Beuys nicht die spezielleren Beiträge wie den Geste esthetiaue dei892,ten Katalog des Salons der Rosen + Kreuzer oder Leonard de Vinci et les sciences occultes», aber es steht außer Frage, daß er mit dem ins Deutsche übersetzten W e r k Le vice supreme vertraut war.

Beuys bewunderte Leonardo u n d seine Legende. Dies haben i h m seine Kri- tikervorgeworfen, o h n e z u berücksichtigen, d a ß gerade seine Selbstinszenierung

>You know, to begin with I wanted to be a scientist. But I found the theoretical structure of the natural sciences too Positivist for me, so I tried to do something new for both science and art<, in: Artforum, 19, Dezember 1969, S. 47.

16 Die Rekonstruktion der Ereignisse und die Interpretation dieser Arbeit von Hans-Werner Schmidt sind nicht plausibel: vgl.

H.-W. Schmidt, Andy Warhol

>Mao< - Joseph Beuys >Ausfegen<.

Zwei Arbeiten aus dem Jahr 1972, in:M. Groblewski und O. Bätsch- mann (Hgg.), Kultfigur u n d Mythenbildung. Das Bild vom Künstler und sein Werk in der zeitgenössischen Kunst, Berlin 1993, S. 105 und S. ll) Anm. 14. Es ist doch klar, daß Beuys die zwei

>Protest-SchiIdcr< nicht einem Ausstellungsbesucher wegnahm und ientscharfte<. Wenn es beweisbar wäre, daß dies wirklich geschah, müßte man an eine verabredete Aktion denken.

17 Vgl. Pamela Kort, Joseph Beuys'Aesthetic 2958-1972, in: D.

Thistlewood (Hg.), Joseph Beuys.

Diverging Critiques, Liverpool 199S, S. 72-73-

18 Heiner Stachelhaus, wie Anm.

14, S. 51-52.

19 S.J. Peladan, Leonard de Vinci et les sciences occultes, in: Revue universelle, //, 1902, S. 581-585.

A B B . 2

/oseph Beuys, Dürer, ich führe persönlich Baader +/+ Meinhof durch die Dokumenta V, 1972, Köln, Slg. Reiner Speck.

(8)

als außergewöhnliches W e s e n ein tiefes V e r s t ä n d n i s für die K u n s t des Floren- tiners zeigte. D a s Interesse an L e o n a r d o taucht in der Biographie v o n Beuys i m m e r wieder auf, wie es die folgende Liste ausgewählter E p i s o d e n seiner Lauf- b a h n beweist:

1950 organisierte Beuys die >Giocondologie<, eine A u s s t e l l u n g in K r a n e n b u r g i m H a u s seiner lebenslangen Unterstützer, der Brüder v a n der G r i n t e n . 1959 illustrierte Beuys m i t >schematischen Z e i c h n u n g e n die Staatsexamenar-

beit seiner Frau Eva B e u y s - W u r m b a c h , später publiziert unter d e m Titel

»Die Landschaften in den H i n t e r g r ü n d e n der G e m ä l d e Leonardos«. D i e Rolle, die Eva W u r m b a c h in Beuys' Karriere spielte, sollte weiter vertieft werden, nicht nur im Z u s a m m e n h a n g m i t der K u n s t L e o n a r d o s u n d der Theorie v o n Beuys, s o n d e r n auch weil sie die berühmte >Uniform< ihres M a n n e s entwickelte/0

1962 listete er den N a m e n Leonardos z u s a m m e n m i t anderen B e r ü h m t h e i t e n in seinem Werk >Partitur< auf.

1975 w u r d e n die Z e i c h n u n g e n z u den beiden wiederentdeckten S k i z z e n b ü c h e r n Leonardos in M a d r i d publiziert.

M a n k ö n n t e weitere m e h r oder weniger direkte Zitate h i n z u f ü g e n , aber es wäre ein Fehler, ausgehend v o n diesen Voraussetzungen vorschnell b e s t i m m t e A n a l o - gien zwischen den beiden K ü n s t l e r n finden z u wollen. G e w i ß k ö n n t e m a n ein- fach oberflächliche Verwandtschaften z w i s c h e n beiden vorschlagen: die enge B e z i e h u n g zwischen K u n s t u n d W i s s e n s c h a f t ( o b w o h l diese wegen der beiden unterschiedlichen E p o c h e n selbstverständlich a u f g a n z verschiedenen E b e n e n ablief), der Universalcharakter ihrer Forschungen u n d die grundlegende Rolle des Zeichnens für ihre Kunst.2 1 M a n k ö n n t e sogar v e r m u t e n , d a ß Beuys diese all- gemeinen Parallelen b e w u ß t u n d zynisch kultivierte. D o c h er w a r z u klug, u m Leonardo direkt u n d pedantisch z u imitieren. W i e Cornelia Lauf m i t Recht k o m - mentierte, »ist das Codices-Madrid-Projekt i n erster Linie weder ein A u s d r u c k v o n Beuys' Liebe zur Renaissance, n o c h seines Bedürfnisses, es L e o n a r d o gleichzu- tun. « " U n d Beuys erklärte selbst: »Als ich diesen C o d e x gemacht habe, habe ich den Leuten gesagt, ich werde keine Interpretation m a c h e n z u Leonardo.«2'

Es war Beuys selbstverständlich klar, d a ß er weder stilistisch n o c h inhaltlich direkt m i t Leonardo dialogisieren k o n n t e oder wollte. Seine Ehrerbietung ge- genüber Leonardo war viel subtiler u n d bestand darin, seine A r b e i t s m e t h o d e wie- derzubeleben. Das Z e i c h n e n als Prozeß u n d das Atelier als Laboratorium s i n d die realen Verwandtschaften zwischen den beiden. Es wäre deshalb absurd, in den

>Madrid<-Zeichnungen v o n Beuys direkte Zitate aus L e o n a r d o z u suchen, weil es sein Ziel war ( u n d nicht nur in dieser Arbeit, s o n d e r n in seiner g a n z e n

2 0 Vgl. H. Stachelhaus, wieAnm.

14, S. 215-216.

21 H. Stachelhaus (wieAnm. 14, S. 185) informiert: »>Ich nenne alles Zeichnung<, so hat Beuys einmal formuliert.... Das Zeichnen be-

trachtete er als die Grundlage seiner künstlerischen Arbeit im Sinne des

>enveiterten Kunstbegrijfsc.« Die Rolle desßorentinischen disegno in der Kunst Leonardos benötigt keinen Kommentar.

22 Cornelia Lauf Multiple, Original und Künstlerbuch: Die Codices Madrid, in:L. Cooke und K. Kelly (Hgg.), Joseph Beuys.

Zeichnungen zu den beiden 1965 wiederentdeckten Skizzen- büchern »Codices Madrid« von Leonardo da Vinci, Düsseldorf 1998, S. 39.

23 Zitiert bei Lauf (wieAnm. 22), S. 40.

(9)

L a u f b a h n ) , sich m i t der kognitiven M e t h o d e Leonardos auseinanderzusetzen. Er wollte die Essenz der Arbeit u n d die tieferen kreativen Prozesse seines Vorbildes begreifen.

Beide Künstler waren m e h r an d e m Prozeß als an den endgültigen, sichtbaren Resultaten ihrer Forschung interessiert. Leonardo hatte große Schwierigkeiten, Kunstwerke z u vollenden, u n d hat damit die Poetik des nonfinito eingeleitet.

Beuys war überraschenderweise viel produktiver, aber sind nicht die A k t i o n e n u n d sogar die Installationen o h n e die Anwesenheit ihres Erfinders eine Art non- finito? S i n d Filme, Photos u n d Tonbänder, auch w e n n sie >performed< u n d ausge- stellt w u r d e n , ein akzeptabler Ersatz für das ephemere Werk? A u c h in dieser Art hat Beuys seinen eigenen M y t h o s genährt. Als Betrachter kann m a n heute noch beispielsweise die G e m ä l d e v o n Lucio Fontana oder die Skulpturen v o n Alex- ander Calder beurteilen, aber wie k a n n m a n eine A k t i o n v o n Beuys o h n e die

>mythischen< Berichte rekonstruieren? Dies gilt natürlich für alle Formen von H a p p e n i n g u n d A k t i o n , aber Beuys verwendete diese Kunstformen als bewußte Strategie. Deswegen haben wir, wie im Fall Leonardos, mehr Zeichnungen u n d Projekte als vollendete Kunstwerke, u n d m a n kann behaupten, daß Beuys die I m p l i k a t i o n e n seiner ephemeren Arbeit schätzte. Er wußte, daß das nonfinito u n d das U n b e s t i m m t e den M y t h o s nähren.

N e b e n diesen tieferen Aspekten seiner Leonardo-Rezeption m u ß m a n eine frivolere u n d d o c h nicht weniger wichtige Strategie berücksichtigen. Vor allem nach seiner H o c h z e i t mit Eva W u r m b a c h versuchte Beuys, seine Person nach dem V o r b i l d Leonardos z u modellieren. Aber es handelte sich selbstverständlich u m d e n Leonardo v o n Peladan, also u m den Künstler als Zauberer u n d Schamanen.

Es wäre absurd u n d lächerlich gewesen, den äußeren Aspekt seines künstleri- schen M e n t o r s n a c h z u a h m e n . Beuys u n d sein Clan verstanden aber, d a ß auch der m o d e r n e Künstler seine Legende nur v o m Äußeren ausgehend schaffen k o n n t e .

D i e tradierten Gesichtszüge Leonardos waren z u abweichend, u m ein benutz- bares Vorbild z u bieten. Aber für wenigstens eines seiner inszenierten Selbst- porträts fand Beuys ein anderes Modell in der K u n s t der Renaissance: A u c h Dürer w a r für i h n ein wichtiger Bezugspunkt. W i r haben schon gesehen, daß er auf der D o c u m e n t a 5 das Appellativ >Dürer< auf ein Schild geschrieben hatte. Eine der zu Recht berühmtesten A k t i o n e n v o n Beuys hieß: wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt (1965). Seine Exegeten haben uns alle möglichen K o n n o t a t i o n e n dieses in Beuys' K u n s t i m m e r wiederkehrenden Symbols (sei es als totes oder als lebendi- ges Tier) gründlich erklärt. M a n k ö n n t e diesen fundierten Interpretationen jedoch h i n z u f ü g e n , d a ß der berühmteste Hase der Kunstgeschichte das Aquarell Dürers (1502) in der Albertina in W i e n ist. Ich bin z u d e m überzeugt, d a ß die

(10)

Verwandtschaften zwischen d e m Selbstporträt v o n D ü r e r (ABB. 3) in der A l t e n Pinakothek in M ü n c h e n ( 1 5 0 0 ) , dessen christologische I m p l i k a t i o n e n in der Literatur mehrmals k o m m e n t i e r t w u r d e n , u n d d e m Selbstporträt v o n Beuys a u f Vortragstournee 1974 i n A m e r i k a (das P h o t o aus d e m Besitz v o n Klaus Staeck w u r d e sicherlich als Selbstporträt inszeniert) nicht zufällig s i n d (ABB. 4). Seit ungefähr 1963, als Beuys seinen legendären H u t der M a r k e Stetson ( L o n d o n ) z u tragen begann, sind Bilder des Künstlers o h n e dieses Accessoire extrem selten.

Beuys k o n n t e nicht die üppigen >christlichen< Haare v o n Dürer vorweisen, aber seine leidenden A u g e n (die jedoch den Betrachter n i c h t unmittelbar anblicken), der geschlossene M u n d m i t d e n fleischigen Lippen, der M a n t e l m i t d e m Pelz- kragen, die nicht dargestellte linke H a n d u n d der neutrale H i n t e r g r u n d bewirken eine auffallende Ä h n l i c h k e i t . W i e i m m e r ist Beuys aufmerksam darauf bedacht, keine direkten >banalen< Zitate z u verwenden, aber die A n a l o g i e n s i n d meines Erachtens offensichtlich.

Beuys interessierte sich sehr für die italienische u n d die deutsche Renais- sance, aber vielleicht n o c h m e h r für die Antirenaissance, u m d e n Titel des e p o - chalen Buches v o n Eugenio Battisti z u zitieren. Battisti sammelte das Material für sein Buch in den späten 50er J a h r e n , als das Interesse für Esoterismus, A l c h i m i e , Kabbala, Nekromantie, Hexerei, Hexensabbat, Astrologie, Magie, Ungeheuer, W u n d e r k a m m e r n u n d A u t o m a t a sehr verbreitet war. D i e K u n s t v o n Beuys e n t - wickelte sich in diesem K o n t e x t . Es ist also keine Überraschung, d a ß seine B e - w u n d e r u n g für den M y t h o s L e o n a r d o s m i t esoterischen, kurz ahistorischen K o n n o t a t i o n e n v e r b u n d e n war. A b e r es wäre kurzsichtig, nicht w a h r z u n e h m e n , daß sich Beuys nicht n u r m i t der Legende, s o n d e r n auch m i t der K u n s t u n d v o r allem m i t den Z e i c h n u n g e n L e o n a r d o s sehr ernst auseinandersetzte.

A B B . 3

Albrecht Dürer, Selbstporträt, Öl auf Holz, 67 x 49 cm, München, Alte Pinakothek.

Die unbestreitbare S e l b s t p r o m o t i o n v o n Beuys hat m a n c h e Kunsthistoriker irri- tiert. S c h o n 1 9 8 0 hat B e n j a m i n B u c h l o h seinen A u f s a t z >The Twilight o f the Idol<

in der Zeitschrift Artforum publiziert. Einige B e o b a c h t u n g e n w a r e n gerecht- fertigt, u n d m a n m u ß anerkennen, d a ß sein Essay wenigstens vor d e m Tode Beuys' geschrieben wurde. Seitdem ist er einer der meistzitierten Artikel in der Literatur über den Künstler. D o c h der A u t o r w a r weniger originell als m a n d e n k t . W e n n m a n Buchlohs Artikel in seinem historischen K o n t e x t analysiert, bemerkt m a n , d a ß er eine kultivierte vo/ce< für einen z u n e h m e n d e n kleinbürgerlichen Pro- test bot. A l s die Feuerstätte 2 (die erste Version datiert aus d e m J a h r 1974) v o m K u n s t m u s e u m Basel 1977 für 3 0 0 . 0 0 0 Schweizer Franken erworben wurde, pro- testierten 1978 viele Baseler Bürger w ä h r e n d des Fastnachtzuges.1 4 D a s E n v i - r o n m e n t Zeige deine Wunde w u r d e 1979 v o n der Städtischen Galerie i m L e n - bachhaus in M ü n c h e n für 2 7 0 . 0 0 0 M a r k erworben, u n d m a n k a n n sich

24 Vgl. H. Stachelhaus, wieAnm.

14, S. 192.

(11)

vorstellen, wie ein Boulevardblatt wie die Abendzeitung darauf reagierte. U m Stachelhaus z u zitieren: »Die M e d i e n waren voll damit beschäftigt. Es hagelte Proteste v o n Bürgern. D a s Urteil >Entartung< lag in der Luft. Politiker k ä m p f t e n u m P o s i t i o n e n u n d Profil. I n den Leserbriefspalten der Zeitungen spielten sich wahre D r a m e n ab.«25 Selbst der Titel des Artikels v o n Buchloh war nicht originell, w e n n m a n Stachelhaus vertraut, d a ß eine Schlagzeile nach der E r ö f f n u n g der Beuys-Ausstellung in N e w York ( 1 9 7 9 - 8 0 ) G ö t t e r d ä m m e r u n g at the G u g g e n - heim< lautete.26

Selbstverständlich ist es legitim, einen Künstler z u kritisieren, u n d m a n k a n n m i t m a n c h e n Vorwürfen v o n Buchloh sogar einverstanden sein. Es bleibt jedoch der u n a n g e n e h m e Verdacht, d a ß er ein A l i b i für ein typisch kleinbürgerliches Laster beigebracht hat: den Neid, den N e i d auf d e n m a n c h m a l unverständlichen Erfolg eines außergewöhnlichen Talents.

D i e Kritiker, die Beuys vorwarfen, seine Person z u stark i n den Vordergrund gerückt z u haben, sollten statt dessen ihr Fach besser k e n n e n . Kunstwerke reden nicht n u r v o n d e m W a h r e n - S c h ö n e n - G u t e n , s o n d e r n auch u n d m a n c h m a l vor allem v o n anderen Kunstwerken. Yves Klein schrieb übrigens in seinem Tagebuch (1957): »Der Maler soll ein einziges Meisterwerk malen: sich selbst, u n a u f h ö r - lich.« L e o n a r d o hätte z u g e s t i m m t . A b e r n u r den G r o ß e n gelingt es, in diesem narzißtischen Theater u n e n d l i c h e potentielle (also politische, kulturelle, religiö- se, mythische usw.) A s s o z i a t i o n e n z u schaffen, die auch für andere gültig u n d effektiv sind. Keine öffentliche Figur k a n n vierzig Jahre lang einer solchen Ver- a n t w o r t u n g entgehen u n d die M e i n u n g anderer M e n s c h e n kontinuierlich mysti- fizieren. U n d w e m dies gelingt, der ist kein Scharlatan, s o n d e r n ein Künstler. D a ß J o s e p h Beuys sich selbst in d e n Vordergrund stellte, gehörte zur Tradition. D a ß J o s e p h Beuys sich selbst als K u n s t w e r k inszenierte, war kein Skandal, s o n d e r n das Bewußtsein, d a ß die Geschichte der K u n s t auch ein Metadiskurs sei, dessen äußerliche Rituale ebenso wichtig wie die Inhalte s i n d .

G o m b r i c h hat geschrieben, d a ß in L e o n a r d o etwas v o n Prospero z u spüren sei. D e r Vorschlag ist besonders treffend, w e n n m a n daran d e n k t , d a ß Prospero

»the right D u k e o f Milan« war. Shakespeare hat seiner dramatis persona die Gesichtszüge u n d die Accessoires des alten W e i s e n u n d des Zauberers gegeben, wie L o m a z z o sie i n seinem literarischen Porträt Leonardos skizziert hatte.

Prospero ist, wie der Leonardo des späten 16. Jahrhunderts, ein Magier. Besser als jeder andere Künstler des 2 0 . Jahrhunderts hat Beuys verstanden, d a ß in d e m M o m e n t , in d e m die magische K l e i d u n g a u f den B o d e n fällt, die W i r k u n g der K u n s t nachzulassen beginnt. In den W o r t e n Prosperos z u seiner Tochter

M i r a n d a : »Lend thy h a n d , / A n d pluck m y magic garment from me. So, [lays d o w n his m a n t l e ] / L i e there m y art.« ( T h e Tempest, A k t 1, Szene 2).17

ABB. 4 Joseph Beuys auf Vortragstournee in Amerika

1974, Photo, Heidelberg, Klaus Staeck.

25 H. Stachelhaus, wie.Anm. 14, S. 193.

2 6 H. Stachelhaus, wie Anm. 14, S. 212.

27 Das Spiel zwischen Kunst und magischen Künsten ist natürlich intendiert.

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