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in Baby weint auf dem Rück- sitz eines überhitzten Autos, während der Vater sich auf ei- nem Musikfest amüsiert. Eine Passantin hört das Gewimmer und alarmiert die Polizei, die das Kind aus dem Wagen befreit und das Jugend- amt benachrichtigt. Die Sozialarbei- ter des Jugendamtes bringen das hilfs- bedürftige Kind in ein Kinderheim, wo der Säugling erst einmal versorgt wird. Dem Vater hinterlassen sie eine Nachricht, wo er seinen Sprößling ab- holen kann.„Ein alltäglicher Fall und ein ty- pisches Beispiel unserer Arbeit“, sag- te Lisa Cerny, Sozialarbeiterin beim Jugendamt Köln, anläßlich des Er- sten Kinderschutzforums. In einem intensiven Gespräch habe man dem Vater verdeutlichen können, in wel- che Situation er sein Kind gebracht habe. In der Regel seien Vernachläs- sigung oder körperliche Gewalt ge- gen Kinder keine einmaligen Vor- kommnisse, sondern Ausdruck von Problemen und Belastungen in der Familie, meint Cerny. „Wenn wir Kindern helfen wollen, müssen wir zunächst versuchen, die Hintergrün- de zu verstehen, warum Eltern ihre Kinder vernachlässigen oder körper- lich mißhandeln. Daher lautet die Maxime der Jugendämter ,Hilfe statt Strafe‘.“
Doch daß es mit den Hilfsange- boten nicht zum besten bestellt ist, darin waren sich die meisten Teilneh- mer der Konferenz einig. Gründe
dafür gibt es genug. Bundesfamilien- ministerin Claudia Nolte (CDU) ver- trat die Ansicht, daß die Politik durch eine allgemeine Bewußtseinsverän- derung die Weichen für eine wirksa- mere Prävention schaffen müsse. Die Ministerin forderte außerdem, daß die Gesetze zum Schutz der Kinder konsequenter angewandt werden müßten: „Wer Kinder schändet und durch Mißbrauch seelisch schädigt, muß für seine Taten zur Rechen- schaft gezogen werden.“ Die Bundes- regierung bereite zur Zeit einen Mul- timedia-Gesetzentwurf vor. „In ihm soll klargestellt werden: Jugendge- fährdende Angebote haben im Inter- net nichts zu suchen.“ Das Bundesfa- milienministerium habe in den Jah- ren 1992 bis 1994 unter dem Leitge- danken „Keine Gewalt gegen Kin- der“ eine Aufklärungs- und Informa- tionskampagne organisiert. Das ent- sprechende Material sei von Oktober 1996 an in aktualisierter Form erhält- lich.
Konflikte für die Therapeuten
An die Helfer appellierte Nolte, ebenfalls Hilfe in Anspruch zu neh- men. Niemand könne von sich be- haupten, daß er stets den „Königs- weg“ finde, stets die richtige Ent- scheidung treffe. Diese Ansicht ver- trat auch Prof. Dr. phil. Gottfried Fi- scher vom Psychologischen Institut
der Universität zu Köln. Die thera- peutische Arbeit in diesen schwieri- gen Konfliktbereichen bringe natur- gemäß Konflikte auch für die Thera- peuten mit sich. Die Fachleute seien aufgerufen, angemessene Verfahren der Erfolgskontrolle zu entwerfen und einzusetzen, um Qualitätsstan- dards sicherzustellen und Behand- lungsfehler, Mißbrauch und therapeu- tische Rückschläge allmählich zu re- duzieren.
Eine kritischere Auseinanderset- zung mit den bestehenden Hilfsange- boten forderte Renate Blum-Maurice vom Kinderschutzzentrum Köln.
„Viel häufiger müssen wir uns fragen, ob wir unsere Klienten nicht auch von den Hilfen abhängig machen oder durch die Hilfen sekundär traumati- sieren.“
Wichtig sei ein gezieltes und rechtzeitiges Eingreifen zum Wohl des Kindes und der Familie, forderte Prof. Dr. med. Peter Riedesser. Da die Pioniere der Kinder- und Jugend- psychiatrie in der Nazizeit gezwungen waren auszuwandern, habe gerade Deutschland im Bereich der Präven- tion einen großen Nachholbedarf.
Riedesser, Leiter der Kinder- und Ju- gendpsychiatrie der Universitätskli- nik Hamburg-Eppendorf, beschäftigt sich besonders mit der Situation der Kinder kranker Eltern. Häufig führe die Erkrankung der Eltern zu einer psychischen Störung der Kinder. Ge- rade Säuglinge alkoholkranker Eltern würden oft mißhandelt, und die Ver- nachlässigung durch depressive El- tern habe in der Regel eine zu frühe Autonomie des Kindes zur Folge.
Auch körperliche Erkrankungen der Eltern hätten durchaus negative Aus- wirkungen auf die Kinder.
Bereits während der Schwanger- schaftsbetreuung sollten Gynäkolo- gen fragen, in welche Situation die Kinder hineingeboren werden, for- derte Riedesser. Hilfestellung für die Kinder kranker Eltern müßten nicht nur Kindergärtnerinnen und Lehrer leisten, sondern auch Pädiater, Kin- der- und Jugendpsychiater sowie nicht zuletzt die Ärzte, bei denen der erkrankte Elternteil in Behandlung ist. „Viel zu selten fragen beispiels- weise Onkologen nach der Befind- lichkeit der Kinder“, kritisierte Ried- esser. Gisela Klinkhammer A-2520
P O L I T I K AKTUELL
(16) Deutsches Ärzteblatt 93,Heft 40, 4. Oktober 1996