M E D I Z I N DISKUSSION
Wenn es den Müttern (hier meist depressive Frauen) besser geht und sie auch Vertrauen zu meiner Be- handlung gewonnen haben, stellen sie mir oft ihre Kinder vor, wegen Proble- men in der Schule durch Aggressivität oder durch Konzentrationsstörungen, Unnahbarkeit, Ängsten und leider gar nicht so selten auch Selbstmord- gedanken und -versuchen.
Meist sind es dann schon die Mütter selbst, welche die Depression bei ihren Kindern wahrnehmen.
Dann ist es so gut wie unmöglich, den jeweils betreuenden Haus- oder Kin- derarzt zu überzeugen, daß man doch dringend auch mit Psychopharmaka behandeln sollte. Die massiven Vor- urteile gegen Psychopharmaka bedin- gen es dann meist, daß schwerkranke Kinder keine Behandlung erhalten.
Meine Erfahrung ist, daß selbst Kin- der- und Jugendpsychiater dagegen sind. Wenn ich den Eltern empfehle, einen Kinder- und Jugendpsychiater zu konsultieren, da ich eigentlich nicht so viel Erfahrung mit psychisch kranken Kindern habe, weiß ich oft, daß ich sie dann in einen unerträgli- chen Zwiespalt hineinschicke. Sie hören von jedem Arzt eine völlig an- dere Meinung.
Mittlerweile habe ich nach lan- gen Überlegungen und durchaus auch mit Bedenken, wie ich dann dastehe bei meinen Kollegen, einige Kinder mit Psychopharmaka behandelt nach vorherigen langen Gesprächen mit den Eltern und auch den Kindern, un- ter ständiger Kontrolle möglicher Ne- benwirkungen. Obwohl ich sehe, wie- viel Gutes sich seitdem im Leben der Kinder und ihrer Familie tut, ist es kaum möglich, dies sachlich mit ande- ren behandelnden Ärzten zu bespre- chen, Erfahrungen auszutauschen.
Man wird von der Seite angeschaut, die Kinder und Eltern werden, wenn sie wegen anderer Krankheiten den Haus-/Kinderarzt aufsuchen, „distan- ziert“ behandelt. Und dann fühle ich
mich doch oft recht allein gelassen, wenn man dann auch noch im Bei- packzettel lesen muß, daß die Medi- kamente Kindern unter 12 Jahren nicht gegeben werden sollten.
Roswitha Götze-Pelka
Ärztin für Neurologie und Psychiatrie 2. Südwieke 180
26817 Rhauderfehn
Der Beitrag von Martinius ist ge- rade zum gegenwärtigen Zeitpunkt sehr verdienstvoll, weil er der Verord- nung von Psychopharmaka im Kin- des- und Jugendalter den richtigen Stellenwert zuordnet und mit Vor- würfen aufräumt, die litaneimäßig in der Öffentlichkeit wiederholt werden, obwohl sie durch vorhandene Zahlen
konterkariert werden. Ich erlaube mir dennoch drei Anmerkungen:
« Ein lithiuminduzierter Tre- mor sollte nicht mit Anxiolytika, son- dern durch Senkung des Lithium- Blutspiegels und gegebenenfalls Be- ta-Rezeptoren-Blocker behandelt werden.
¬ Zur Behandlung des hyperki- netischen Syndroms sollten besser nicht global „Amphetamine“, son- dern die tatsächlich in Frage kom- menden und positiv bewerteten Ein- zelsubstanzen genannt werden: Fe- netyllin (Captagon) sowie Methyl- phenidat (Ritalin) sind für diese Indi- kation von der Aufbereitungskom- mission B3 positiv bewertet worden, während für Amfetaminil, das als
„AN1“ sich leider immer noch auf dem Markt befindet, schon 1992 eine Negativ-Monographie publiziert wur- de, das heißt, daß alle beanspruchten Indikationen abgelehnt wurden.
Die Entwicklung spezifisch wirksamer Pharmaka zur Behandlung pathologischer Aggressivität wäre ein großer Fortschritt; die bislang zu „Se- renika“ vorgelegten Ergebnisse waren aber enttäuschend. Das Psychophar- makon mit der am besten tierexperi- mentell und am Menschen belegten antiaggressiven Wirkung beziehungs- weise Wirksamkeit ist eindeutig Lithi- um, das leider zu wenig eingesetzt wird. Gerade bei nichtsozialisierba- ren Kindern mit pathologischer Ag- gressivität haben amerikanische Studi- en klar gezeigt, daß Lithiumsalze hier die gleiche Wirksamkeit haben wie das Neuroleptikum Haloperidol mit ver- gleichsweise aber sehr viel geringeren Nebenwirkungen. Dies ist im Hinblick auf die serotonin-agonistischen Effek- te von Lithium und den Zusammen- hang von Aggressivität und Störungen des Serotonin-Stoffwechsels auch von theoretischem Interesse. Neuroleptika dagegen haben keine spezifischanti- aggressiven Wirkungen.
Prof. Dr. med.
Bruno Müller-Oerlinghausen Leiter der Forschergruppe Klinische Psychopharmakologie Psychiatrische Klinik der Freien Universität Berlin Eschenallee 3
14050 Berlin
Schon allein die Häufigkeit von psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter sprechen für das Po- stulat des Autors zum Handeln. Ent- sprechende Literaturangaben zur In- zidenz von zum Beispiel Depressio- nen liegen zwischen 0,9 und 4,9 Pro- zent, in kinderpsychologischen Klini- A-2157 Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 34–35, 26. August 1996 (53)
Psychopharmaka im
Kindes- und Jugendalter
Zu dem Beitrag von Prof. Dr. med.
Joest Martinius in Heft 8/1996
Vorurteile abbauen
Lithiumbehandlung vorteilhaft
Vorteile von
Phytotherapeutika
ken zwischen 1,8 und 59 Prozent (1, 2). Die Konfrontation mit diesen Er- krankungen zu einem früheren Le- benszeitpunkt und die Chronifizie- rungstendenz erhöhen die Dringlich- keit, Maßnahmen zu ergreifen.
Leider integriert der Autor nicht die Phytotherapie in das Spektrum medikamentöser Maßnahmen. Hier- zu hätte er gute Gründe:
« Phytotherapeutika werden bei Kindern häufig verordnet – dies bestätigt auch der Autor.
¬ Die Betrachtung der Risiken der Arzneimitteltherapie hat für die angesprochene Patientengruppe er- höhte Priorität. Es besteht eine nicht unberechtigte „Chemie“-Angst. Qua- litativ hochwertige Phytotherapeuti- ka besitzen eine dokumentierte, sehr gute Verträglichkeit.
Gerade pflanzliche Psycho- pharmaka haben in letzter Zeit auch in randomisierten, kontrollierten, doppelblinden Studien eine gute Wirksamkeit bei leichten und mittel- schweren Formen von Depression, Angst, Unruhe unter Beweis gestellt.
Hierzu gehören Spezialextrakte von Johanniskraut, Kava-Kava, Baldri- an/Melisse.
Literatur
1. Trott GE, Friese HJ, Badura F, Warnke A:
Depressive Syndrome bei Kindern und Ju- gendlichen. Dtsch Ärztebl 1994; 43 A:
2939–2945 [Heft 43]
2. Essau CA, Petermann U: Depression bei Kindern und Jugendlichen. Z Klin Psychol Psychopathol Psychother 1995; 43: 18–33 3. Hänsel R, Keller K, Rimpler H, Schneider
G (Hrsg.): Hagers Handbuch der Pharma- zeutischen Praxis Bd 4–6. Springer, 1994, Berlin, Heidelberg, New York
Dr. med. P. Laux
Dr. Willmar Schwabe Arzneimittel Postfach 41 09 25
76209 Karlsruhe
Der als Übersicht geschriebene Artikel hat im Detail Fragen offenge- lassen und auch aufgeworfen, von de- nen nur einige in den Zuschriften von Müller-Oerlinghausen und von Laux angesprochen werden. Beide Diskus- sionsbemerkungen bejahen die Mög- lichkeit, psychoaktiv wirkende Sub- stanzen bei psychisch auffälligen und
kranken Kindern anzuwenden. Die- ser Konsens unterstreicht die zentrale Botschaft des Artikels. Wenn Müller- Oerlinghausen zum Einzelaspekt des therapeutischen Umganges mit den Nebenwirkungen der Lithiumbe- handlung anmerkt, einem lithiumin- dizierten Tremor sei am einfachsten mit Dosisverminderung oder der Ga- be von Beta-Rezeptoren-Blockern zu begegnen, so kann dem zugestimmt werden. Die Angabe, Benzodiazepi- ne einzusetzen, basiert auf einer älte- ren Empfehlung, die sich aus der gün- stigen Wirkung auf medikamentös in- duzierte extrapyramidal-motorische Symptome herleitet. Amphetamine wurden in Tabelle 1 unter „Psychosti- mulantien“ aufgeführt. Methyl- phenidat (namentlich erwähnt in Ta- belle 2) gehört chemisch zu den Am- phetaminen und ist in der Tat das bei hyperkinetischen Kindern am mei- sten verordnete Medikament. Dieser Sachverhalt ist unter Ärzten, die hy- perkinetische Kinder behandeln, so bekannt, daß eine ausdrückliche Er- wähnung nicht für erforderlich gehal- ten wurde.
Und was die antiaggressive Wir- kung von Lithium bei Kindern und Jugendlichen betrifft, so fehlen in der deutschsprachigen Literatur entspre- chende Belege. Mit Blick auf die posi- tiven Berichte aus den USA haben wir bei entsprechender Indikation Li- thium eingesetzt und damit die günsti- ge Wirkung schwachpotenter Neuro- leptika nicht erreichen können. Ha- loperidol wäre ohnehin nicht das Neuroleptikum der Wahl.
Laux kritisiert, daß Phytothera- peutika nicht erwähnt wurden. Ich hätte psychoaktiv wirksame Phyto- therapeutika gern empfohlen, wenn sie bei Kindern auf ihre Wirkungen und Nebenwirkungen tatsächlich so gut untersucht wären wie zum Bei- spiel herkömmliche Antidepressiva.
Die Tatsache, daß Hyperikum, Kava- Kava und andere auch bei Kindern häufig verordnet werden, ersetzt kei- ne nach den Vorschriften durchge- führte Prüfung. Auch Phytopharma- ka wirken über biochemische Vorgän- ge, die erwünschte und unerwünschte Wirkungen nach sich ziehen. Die durch Johanniskraut auslösbare Pho- tosensibilisierung ist gewiß keine harmlose Nebenwirkung.
Bedauerlicherweise ist die Bereit- schaft, bei Kindern klinische Prüfun- gen durchzuführen, wegen der extrem strengen Auflagen und der öffentli- chen Kritik minimal. Wir wären sonst viel weiter mit unserem Bemühen, je nach Wirksamkeit und Risiken gezielt synthetisierte oder pflanzliche Medi- kamente einzusetzen.
Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. med. Joest Martinius Institut und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Heckscher Klinik
Heckscherstraße 4 80804 München
A-2158
M E D I Z I N DISKUSSION/FÜR SIE REFERIERT
(54) Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 34–35, 26. August 1996
Schlußwort
Seit 1984 ist in einer Reihe von Studien gezeigt worden, daß die Rau- cher häufiger einen Morbus Crohn entwickeln als Nichtraucher. Ob der Nikotinkonsum den Verlauf der Crohnschen Erkrankung beeinflußt, ist bislang nicht untersucht worden.
Die Essener Autoren untersuch- ten bei 346 Patienten mit Morbus Crohn, die zwischen 1989 und 1992 stationär behandelt worden waren, die Rauchgewohnheiten. Bei den Rauchern lagen die Rezidivraten nach fünf Jahren bei 43 Prozent, nach zehn Jahren bei 64 Prozent, bei Nichtrauchern nur bei 26 bezie- hungsweise 33 Prozent. Nur für Frau- en ließ sich eine eindeutige Dosis- Wirkungs-Kurve bezüglich der An- zahl der gerauchten Zigaretten nach- weisen.
Die Autoren kommen zu dem Schluß, daß das Krankheitsbild des Morbus Crohn durch den Nikotin- konsum ungünstig beeinflußt wird.
Da Raucher etwa doppelt so häufig operiert werden mußten wie Nicht- raucher, sollte auf einen Verzicht des Nikotinkonsums gedrängt werden. w
Breuer-Katschinski BD, Holländer N, Goebel H: Effect of cigarette smoking on the course of Crohn’s disease. Europ J Gastroenterol & Hepatol 1996; 8: 225–228 Abteilung für Gastroenterologie, Medi- zinische Universitätsklinik, Hufeland- straße 55, 45122 Essen