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Archiv "Probleme der Fremdbetreuung von Kindern: Kritik am Tagesmütter-Modell" (05.02.1976)

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Spektrum der Woche Aufsätze -Notizen FORUM

„Eine Tagesmutter ist eine vor ih- rer Heirat berufstätige Frau, die nun als Hausfrau für eine zusätzli- che Aufgabe Zeit zur Verfügung hat; sie ist erzieherisch begabt, hat in der Regel eigene Erziehungser- fahrung als Mutter und nimmt tags- über Kinder in Pflege (Tagespfle- geplatz). Sie betreut üblicherweise diese Kinder bei sich zu Hause und lebt mit ihnen zusammen, so wie sie es mit ihren eigenen Kindern tut. Die Kinder werden ihr ganztags oder auch stundenweise anver- traut." (Aus dem Informationsblatt der schweizerischen Tagesmütter- Initiative)

Die Tagesmütter-Initiativen in der Bundesrepublik Deutschland und in der Schweiz behaupten unter anderm, sie böten eine „echte Al- ternative zur Krippe". Das ist nicht richtig. Es wird vielmehr einem Mißstand ein neuer hinzugefügt.

Denn die Betreuung der Säuglinge und Kleinkinder durch Fremdper- sonen ist in der Regel schädlich für die Kinder. Selbst wenn die Fremd-Bezugsperson des Kindes stets dieselbe bleibt, was die Initia- tiven betonen, so bleibt doch die Tatsache bestehen, daß das Kind täglich zwischen zwei verschiede- nen Müttern und zwei verschiede- nen Umgebungen hin- und herpen- delt. Eine etwas bessere Alternati- ve wäre gegeben, wenn die „Ta- gesmütter" Säuglinge und Klein- kinder in deren Wohnung betreuen würden. Dann bliebe den Kindern wenigstens das „Pendeln" erspart, und die Konstanz der Umgebung bliebe gewahrt. Ferner müßten Säuglinge und Kleinkinder nicht zur Unzeit aus dem Schlaf gerissen werden.

Ein anderer Gesichtspunkt, der in diesem Zusammenhang gesehen werden muß, ist die Rolle der Frau, das Leitbild der Frau, wie es im

„Tagesmütter-Modell" zum Aus- druck kommt. In ihrer heute prakti- zierten Form bleibt die „Tagesmüt- ter-Initiative" ein Flickwerk an der sozialen Misere der Frauen, denn das Bild der Frau, das hier entwor- fen wird, entstammt der patriarcha- lisch-autoritären Gesellschaft. Die Tagesmütter-Initiative unterstützt den Trend der modernen Industrie- gesellschaft, „billige" weibliche Ar- beitskräfte zu gewinnen, und zwar auf Kosten der Kinder. Es wider- spricht jeglicher Logik, wenn vom Staat oder von anderen Institutionen

„Tagesmütter"-Geld gefordert wird zu dem Zweck, deren Bezahlung teilweise zu finanzieren. Richtiger und vernünftiger wäre es, den be- dürftigen Müttern finanzielle Unter- stützung zu verschaffen, damit sie ihre Kinder selbst betreuen kön- nen. Die Tagesmütter-Aktion bringt keinen Fortschritt im Hinblick auf eine Emanzipation der Frau, son- dern sie ist ein weiterer Anpas- sungsmechanismus an die beste- henden gesellschaftlichen Zustän- de. Die Frauen müßten sich aber endlich auch als Mütter emanzipie- ren, d. h. mit ihren Kindern — nicht auf deren Kosten.

Wichtige Aufgaben jeder Mutter Die Betreuung der Säuglinge und Kleinkinder gehört zu den schön- sten und wichtigsten Aufgaben der Frau. Jede Mutter, die ihr Kind nicht selbst betreut und statt des- sen stumpfsinnige und schlecht be- zahlte Arbeit am Fließband oder andere meist untergeordnete Tätig-

Seit geraumer Zeit werden sogenannte Tagesmütter-In- itiativen sowohl in der Bun- desrepublik Deutschland als auch in der benachbarten Schweiz gestartet. Von seiten des Bundesministeriums für Jugend, Familie und Gesund- heit wird die organisierte Be- treuung von Säuglingen und Kleinkindern durch sogenann- te Tagesmütter begrüßt und gefördert. Von Anfang an standen allerdings vor allem Kinderärzte und Erziehungs- berater diesem Experiment kritisch und sogar ablehnend gegenüber. Dr. med. Helga Fleischhauer-Hardt, Erzie- hungsberatung Reinach/

Schweiz, nimmt das Tages- mütter-Modell kritisch unter die Lupe, indem sie die in- zwischen gesammelten Er- fahrungen mit Änderungsvor- schlägen zum „Tagesmütter- Konzept" verbindet.

keiten ausübt, versäumt die schön- sten Jahre ihres Lebens. Es ist be- kannt und braucht eigentlich nicht betont zu werden, daß das Stillen eines Säuglings und überhaupt die ganz Säuglings- und Kleinkindbe- treuung ein lustvolles, gefühlvolles und für Mutter und Kind außer- ordentlich befriedigendes Erlebnis ist. Es gehört zur weiblichen Se- xualität, daß die Frau ihr Kind stillt und im engen Körperkontakt mit ihm Befriedigung, Freude und Lust empfindet. In unserer vorwiegend von den Bedürfnissen der Männer geprägten Gesellschaft wird diese Seite der weiblichen Sexualität stark unterdrückt.

Erst durch die Erforschung der kindlichen Entwicklung ist es mög- lich geworden, diese Bedeutung der Mutter-Kind-Beziehung wissen- schaftlich zu untermauern. Es bleibt zu hoffen, daß es mit der Zeit gelingen wird, durch entspre- chende Aufklärungsarbeit und psy- chologische Schulung zu errei- chen, daß die Frauen endlich ihre

Probleme der Fremdbetreuung von Kindern

Kritik am Tagesmütter-Modell

Helga Fleischhauer-Hardt

360 Heft 6 vom 5. Februar 1976 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Tagesmütter-Modell

eigene Identität finden. Bisher hat.

sich die Emanzipationsbewegung im wesentlichen in einem Konkur- renzkampf mit den Männern er- schöpft, viele Frauen versuchen immer noch, sich männlichem Verhalten anzupassen. Sie streben nach einer Aufwertung ihrer Per- sönlichkeit und nach größerem Selbstbewußtsein durch Berufstä- tigkeit und setzen sich — wenn sie verheiratet sind und Kinder haben

einer Vielfachbelastung aus, der sie auf die Dauer nicht gewachsen sind (statistisch erwiesene Le- bensverkürzung um fünf Jahre bei Frauen mit Doppelbelastung, also Beruf und Familie). Die „Tagesmüt- ter"-Initiative unterstützt dieses ungesunde Verhalten.

Es wäre dringend notwendig, eine Verbesserung der finanziellen Si- tuation alleinstehender Mütter und von Müttern, die mitverdienen müs- sen, weil das Einkommen des Man- nes nicht zum Lebensunterhalt ausreicht, anzustreben. Mit der Ta- gesmütter-Initiative kann dieses Problem nicht befriedigend gelöst werden. Sie bietet einen Mutterer- satz, der von den Frauen aus unte- ren Sozial- und Einkommens- schichten kaum bezahlt werden kann. Unter den heutigen Bedin- gungen sind die Tagesmütter-Sätze bei den geringen Verdienstmög- lichkeiten der ungelernten Arbeite- rin zu hoch. In der Realität sieht das so aus, daß Mütter aus finan- ziell schwachen Schichten weiter- hin ihre Kinder in die billigeren Krippen geben, während besser verdienende Mütter aus der Mittel- schicht sich eine Tagesmutter lei- sten können. Der gehobene Mittel- stand und die Oberschicht konnten sich seit jeher ein eigenes Kinder- mädchen halten, ihre Kinder also unter wesentlich besseren Bedin- gungen im eigenen Haus betreuen lassen. Das ist die gesellschafts- politisch bedingte Realität.

Ungleiche Startbedingungen für Frauen

In diesem Zusammenhang ist es wichtig, die Lebensmöglichkeiten der modernen Frau zu beleuchten.

Im Zuge der Gleichberechtigung auf politischer Ebene hat sich zu- mindest das gesellschaftliche Be- wußtsein so weit gewandelt, daß der Frau heute eher ein Recht auf Mitsprache eingeräumt wird. Dis- kriminiert wird sie allerdings im- mer noch durch vergleichsweise schlechtere Löhne und geringere Aufstiegschancen. Das beginnt bei der Berufswahl der Mädchen. Je- des Mädchen sollte aber heute selbstverständlich gleiche Möglich- keiten und Chancen haben, einen guten Beruf zu erlernen, wie die Knaben. In der Erziehung sollte vermehrt Wert darauf gelegt wer- den, die Eigenständigkeit und Ei- genart der weiblichen Persönlich- keit zu achten.

Da Familienplanung möglich ist, kann jede Frau weitgehend ihre berufliche Karriere bestimmen. Sie kann sich heute entscheiden für Beruf oder Familie und Kinder. Wer Kinder wählt, muß auf Berufsaus- übung verzichten, solange die Kin- der ihre Mutter nötig brauchen, das sind mindestens die ersten fünf Le- bensjahre. Während der späteren Kindheit kann die Mutter stufenwei- se in ihren Beruf zurückkehren, wenn sie das will. Im Vorschul- und Primarschulalter der Kinder (ab etwa fünf Jahren) ist Halbtagsar- beit für die Mutter durchaus mög- lich, jedoch würde eine Mutter von mehreren Schul- und Vorschulkin- dern sich mit einer Vollberufstätig- keit zuviel zumuten. Für Vorschul- und Schulkinder stellt die Tages- mütter-Initiative also eine durchaus brauchbare Einrichtung zur Verfü- gung. Bei guter Auswahl der Er- satzfamilien kann ein Kind sich darin wohl fühlen und die Tren- nung von seiner Mutter halbtags ertragen, ohne darunter zu leiden, wenn es den notwendigen Entwick- lungsstand erreicht hat. Allerdings darf in dieser Beziehung nicht ver- allgemeinert werden. Es gibt Kin- der, die eine solche Trennung auch im Schulalter noch nicht gut verar- beiten. Man sollte auf jeden Fall Zwang und Überredung vermeiden.

Die Interessen des Kindes sollten stets an erster Stelle stehen. Dafür haben vor allem Mutter und Vater

zu sorgen, indem sie sich von ei- nem Kinderpsychologen oder einer entsprechenden Fachperson bera- ten lassen.

Es ist bedauerlich, daß in der „Ta- gesmütter"-Initiative zudem ein er- neuter Anlaß zur Rollenaufsplitte- rung der modernen Frau gegeben wird. Die Bezeichnung „Tagesmut- ter" weist in diese Richtung. Man hätte besser eine neutrale Bezeich- nung für diesen Zweck gewählt, z. B. „Tagesbetreuerin". Eine Mut- ter ist nicht ersetzbar. Es gibt bio- logisch bedingte Verhaltensbezie- hungen zwischen Mutter und Kind, die nicht übertragbar oder aus- tauschbar sind. Das Neugeborene kennt bereits die Stimme, den Herzrhythmus und den Schritt- rhythmus seiner Mutter. Überdies sollte jedes Kind im ersten Lebens- jahr möglichst lange gestillt wer- den (bis zu 8 oder 12 Monaten).

Schon aus diesem Grund ist eine Fremdbetreuung nicht möglich.

Auch die durch das Stillen geför- derten seelischen Beziehungen sind in einer normalen Mutter-Kind- Beziehung von ganz besonderer In- tensität und können nicht von einer anderen Frau in gleichem Maß ge- geben werden.

Psychologische Aspekte der Tagesmütter-Initiative

Hier sollen gegenüber der „Tages- mütter"-Initiative die Interessen der Kinder vertreten werden. Wenn man ein Kind fragt, wen es am lieb- sten habe und bei wem es am lieb- sten sei, dann lautet die Antwort:

die Mutter, bei der Mutter. Selbst wenn das betreffende Kind keine sehr gute Mutter-Kind-Beziehung erlebt hat, erfolgt diese Antwort in der Regel. Leider können die klei- nen Kinder sich noch nicht zur Wehr setzen gegen Manipulatio- nen, unter denen sie leiden. Eine Trennung von seiner Mutter ist für jedes Kind, besonders für das klei- ne, ein sehr einschneidendes Er- lebnis. Die Störanfälligkeit der kindlichen Entwicklung ist in der ersten Lebenszeit besonders groß.

Wie kein anderes Lebewesen kommt der Mensch in einem unrei- DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 6 vom 5. Februar 1976 361

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Spektrum der Woche Aufsätze - Notizen Tagesmütter-Modell

fen Stadium seiner Entwicklung zur Welt; Portmann spricht von einer

„physiologischen Frühgeburt". Für die erste Betreuung, Ernährung und Pflege ist die leibliche Mutter schon aus rein biologischen Grün- den die einzig richtige Person.

Die künstliche Ernährung der Säug- linge in unserer Kultur ist ein Miß- stand, dem leider nur schwer bei- zukommen ist. Brustkinder gedei- hen nachweislich besser, haben weniger Verdauungsstörungen und sind weniger krankheitsanfällig als mit der Flasche ernährte Kinder.

Die enge körperlich-seelische Be- ziehung von Mutter und Kind ist wichtig für seine ganze spätere Ent- wicklung. Im ersten Dialog (Spitz) entwickelt sich auch das Urvertrau- en (Erikson). Diese Beziehung kann sich nur entfalten, wenn sie nicht gestört wird durch Trennung des Kindes von seiner Mutter. Bei Kindern, die zwischen einer Krippe oder „Tagesmutter" und ihrer Fa- milie hin- und herpendeln, wird die Entwicklung einer konstanten Be- ziehung zu einer Mutterfigur erheb- lich erschwert. Um welchen Preis dies heute vielen Kindern zugemutet wird, sehen wir u. a. am Anwach- sen von Verhaltensstörungen bei Kindern aus Familien, in denen bei- de Eltern berufstätig sind.

Im ganzen Kleinkindalter bis zur Schulreife bleibt das Kind eng an die Mutter gebunden, die ihm als Ort der Zuflucht und Geborgenheit jederzeit zur Verfügung stehen sollte. Vielfältige wissenschaftliche Studien haben die Notwendigkeit dieser Bindung gezeigt.

Vielfältige Sozialkontakte wünschenswert

Diese Tatsache der engen körper- lich-seelischen Bindung an die Mutter und auch an den Vater schließt in keiner Weise die Not- wendigkeit vielfältiger anderer So- zialkontakte aus, die heute in der Kleinfamilie nicht mehr in ausrei- chendem Maße gewährleistet sind.

Es liegt deshalb an der Initiative der einzelnen Eltern, für sich und ihre Kinder den Rahmen der Klein- familie zu öffnen und Gemeinschaf-

ten mit gleichgesinnten Familien anzustreben, um auf diese Weise die verlorengegangenen Kontakt- möglichkeiten der Großgruppe wie- der zu schaffen. „Tagesmütter"

können in solchen Gruppen nütz- lich sein, aber erst ab einem Alter der Kinder, in dem eine längere Trennung von der Mutter ertragbar ist. Mancherorts schließen sich heute auch Familien zu Gruppen zusammen, in denen auf der Basis der gegenseitigen Hilfeleistung die Kinder stundenweise von befreun- deten Frauen gehütet werden, mei- stens in den eigenen Wohnungen, also in der gewohnten Umgebung der Kinder. Dies hat viele Vorteile, sowohl psychologische als auch finanzielle. Es entstehen auch kei- ne finanziellen Abhängigkeiten, wie sie zwischen „Tagesmutter" und Eltern notwendig sind.

Wenn man an einer guten Betreu- ung der Kleinkinder interessiert ist, dann sollte die Vermittlung von Säuglingen und Kleinkindern an sogenannte Ersatzmütter ausge- schlossen sein. Zum jetzigen Zeit- punkt kann noch eine Änderung des „Tagesmütter-Konzeptes" vor- genommen werden. Im Interesse und zum Schutz der Säuglinge und Kleinkinder sei dies dringend emp- fohlen. Um die Notwendigkeit die- ses Vorschlages zu betonen, muß nochmals darauf hingewiesen wer- den, daß die gefühlsmäßigen Be- ziehungen innerhalb seiner eigenen Familie, das Gefühlsklima, gerade für die Entwicklung des Säuglings und des Kleinkindes unbedingt not- wendig sind.

Die Familie ist die Urzelle der menschlichen Gesellschaft, in ihr lernt das Kind die ersten sozialen Verhaltensweisen. Die Familie bleibt immer und in jeder Kultur das wichtigste Modell, an dem sich das Verhalten der Kinder orientiert.

Dazu ein Beispiel: In den sozialisti- schen Ländern des Ostblocks, die in der Vergangenheit politisch die Auflösung der traditionellen Fami- lienstruktur angestrebt hatten, wird heute wieder die Wichtigkeit der Familie stark betont, und sie wird bewußt gefördert. Man hat aus Er-

fahrung gelernt, daß es keine an- deren Möglichkeiten einer guten Kinderbetreuung gibt. In Ungarn erhalten die Mütter, die ihre Kinder selbst betreuen, während der erste drei Jahre des Kindes ein Mütter- geld, in der CSSR erhalten sie im ersten Jahr eine Beihilfe.

• Warum sollte es in unserer

„Wohlstandsgesellschaft" nicht auch ein Müttergeld für diejenigen Mütter geben, die es dringend be- nötigen? Das zu erreichen, wäre eine lohnende Aufgabe für die päd- agogischen und sozialtherapeuti- schen Berufsverbände. Das Mütter- geld könnte eher dazu beitragen, eine gute Betreuung der Kinder in ihrer eigenen Familie von ihrer ei- genen Mutter zu gewährleisten.

Obwohl sie eine „Familienbetreu- ung" der Kinder propagiert, trägt die „Tagesmütter"-Initiative jedoch dazu bei, ein geordnetes Familien- schema gerade der Kinder aus so- zial benachteiligten Schichten nicht mehr sicher zu gewährleisten.

Die mütterliche Zärtlichkeit, die sich vor allem in körperlichen Äu- ßerungen des Liebkosens, Schmu- sens usw. im zärtlichen Zuspruch und in der fröhlichen Begeisterung für das eigene Kind äußert, kann von einer „Tagesmutter" nicht in dem Maße dem fremden Kind ge- geben werden, wie es die Mutter vermag. Säuglingen und Kleinkin- dern entsteht daraus ein echtes Mangelgefühl. In einer Fremdfami- lie kann ein Kind niemals auf die gleiche Art und Weise akzeptiert und geliebt werden wie in der eige- nen. Es bedürfte auch einer beson- deren Schulung während der Aus- bildung der „Tagesmütter", um den Frauen diese Zärtlichkeitshaltung den Kindern gegenüber richtig zu zeigen. Damit wären wir an dem Punkt, an dem die Kritik am heu- te praktizierten „Tagesmütter"-Sy- stem selbst ansetzen muß.

Auswahl, Ausbildung

und Beratung von „Tagesmüttern"

Ein nicht einfach zu lösendes Pro- blem ist die Auswahl der Tagesbe- treuerinnen. Solange noch keine 362 Heft 6 vom 5. Februar 1976 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Spektrum der Woche Aufsätze -Notizen Tagesmütter-Modell

regelrechte Ausbildung organisiert ist, während der die Frauen sich in- tensiv mit den an sie gestellten Aufgaben und auf sie zukommen- den Probleme bei der Betreuung eines „Fremdkindes" auseinander- setzen können, bleibt die Entschei- dung über die Eignung einer Frau als Tagesbetreuerin weitgehend dem Zufall überlassen. Auch erfah- rene Ärzte und Psychologen brau- chen einige Zeit, um die Eignung einer Frau festzustellen. Selbst nach gründlicher Abklärung kön- nen Schwierigkeiten auftreten, die nur durch eine gut funktionierende Beratung der Tagesbetreuerinnen und Eltern überwunden werden können.

Ob ein Kind unter einer Placierung leidet oder ob es sie gut erträgt, läßt sich nicht so leicht feststellen und zeigt sich meistens erst später.

Die Folgen einer schlechten Pla- cierung sind für die Kinder schwer- wiegend, und auch den betroffe- nen Tagesbetreuerinnen und den Eltern wird mehr geschadet als ge- nützt. Es ist daher sehr wichtig, daß die Auswahl der Tagesbetreue- rinnen unter dem Gesichtspunkt der Eignung und Fähigkeit ge- schieht.

Im vorliegenden Konzept der Ta- gesmütter-Initiative sind diese Kri- terien noch nicht genügend klar dargestellt. Solange die „Tages- mütter"-Initianten keine gründliche Ausbildung der Tagesbetreuerin- nen anbieten und durchführen kön- nen, stellt die Auswahl der Frauen ein Problem dar, das sorgfältig ge- löst werden muß. Hier gibt es nur den Weg über erfahrene Fachleute, die außer der Eignung der Tages- betreuerin den Entwicklungsstand und das Verhalten der ihr anver- trauten Kinder beurteilen können.

• Es ist wichtig, bei der Auswahl der Tagespflegeplätze die Interes- sen und Bedürfnisse der Kinder in den Vordergrund zu stellen. Des- halb sollten qualifizierte Berater zur Verfügung stehen, die auch im Verlauf der Placierung feststellen können, wie das Kind sich entwik- kelt, ob es glücklich ist oder ob es

leidet. Denn die Gefahr besteht, daß weder Tagesbetreuerin noch Eltern leichtere Verhaltensstörun- gen des Kindes bemerken, sei es aus Unkenntnis oder weil sie selbst mit der Situation zufrieden sind und keine Störfaktoren sehen wol- len.

Die im schweizerischen „Tages- mütter"-Konzept vorgesehene Per- son des „Betreuers" der Tages- mütter sollte daher ebenfalls und nicht zuletzt die Entwicklung und das Verhalten der placierten Kin- der im Auge halten. Wie wichtig und nötig eine solche Betreuung ist, wurde anläßlich einer Diskus- sion über das Tagesmütter-Pro- blem deutlich, bei der die für an- wesende Sozialarbeiterinnen und andere Fachleute erschreckende Meinung vertreten wurde, zum Be- ruf der „Tagesmutter" reiche als Voraussetzung durchaus der „ge- sunde Menschenverstand". Daß er eben nicht reicht, bezeugte am gleichen Abend eine „Tagesmut- ter" selbst durch ihre Frage: „Was soll ich nur tun? Ich weiß nicht mehr, wie ich mich verhalten soll, mein Kind ist so eifersüchtig auf das Tageskind."

Wenn praktizierende „Tagesmüt- ter" nicht zur Lösung dieses häufig in Pflegefamilien auftretenden Pro- blems in der Lage sind, dann muß wohl jedem Einsichtigen klar sein, daß eine gründliche Vorbereitung durch sorgfältige Ausbildung für alle Tagesbetreuerinnen durchge- führt werden muß. Das „schwedi- sche Modell" zeigt diesbezüglich einige Mängel. Auch sogenannte

„Gruppengespräche" reichen als Ausbildungsersatz nicht aus. Die Tagesbetreuerinnen brauchen ei- ne grundlegende Schulung, wie sie auch sonst für jeden pädagogi- schen Beruf üblich ist. Diese Schu- lung dürfte nicht zu einer „Schnell- bleiche" ausarten, sie müßte sich über eineinhalb bis zwei Jahre er- strecken.

Der oft gebrachte Einwand, daß jede Mutter ihre Kinder auch

„recht erziehen" könne, ist in die- ser Hinsicht nicht stichhaltig, denn erstens verläuft die Erziehung der

Kinder in sehr vielen Familien man- gelhaft, worüber Kindergärtnerin- nen, Lehrer, Ärzte und Erziehungs- berater „ein Lied singen" können;

und zweitens geschieht die „Erzie- hung" der eigenen Kinder in der Familie vorwiegend durch emotio- nales Verhalten. Sie verläuft relativ unkompliziert, wenn positive Ge- fühlsbeziehungen zwischen Eltern und Kindern das Familienklima be- stimmen. Eih „Fremdkind" tritt nicht in diesen innigen Gefühlskon- takt zur Pflegefamilie. Gefühle las- sen sich auch nicht erzwingen, da- her kann eine gute Pflegefamilie dem Fremdkind sicher ein gewis- ses Maß an Zuneigung mit Nest- wärme geben, jedoch nicht in der gleichen Art wie die leiblichen El- tern. Deshalb muß die Tagesbe- treuerin wissen, wie sie sich dem Tageskind gegenüber verhalten muß, und sie muß auch lernen, ein ihr gefühlsmäßig nicht nahestehen- des Kind richtig zu verstehen.

Bei Kleinkindern spielt dieses

„richtige Verstehen" eine bedeu- tende Rolle, da es durch „Signale"

erfolgt und nicht durch Worte. Die leibliche Mutter erfaßt und begreift diese Signale ihres Kindes in der Regel „instinktiv" und beantwortet sie richtig. Eine Ersatzmutter muß diese Zeichensprache des Kindes aber erst mühsam lernen. Je be- gabter sie ist, d. h. je mehr Einfüh- lungsvermögen sie besitzt, um so leichter wird ihr das gelingen. Al- lerdings braucht sie dazu nicht so lange Zeit, wenn sie durch gute Schulung auf den Umgang mit Kin- dern vorbereitet ist. In dem heute praktizierten „Tagesmütter-System"

liegt diese Ausbildung bezüglich der emotionalen Beziehung zwi- schen Fremdkind und Tagesbe- treuerin leider noch im argen. Des- halb sei mit Nachdruck darauf hin- gewiesen, daß in dieser Hinsicht mehr getan werden muß und daß, solange eine gute Ausbildung noch nicht gewährleistet ist, Ldie Berater der Tagesbetreuerinnen , in der Lage sein sollten, das seelische Befinden des Tageskindes' zu be- obachten. Die Folge: Fachleute müssen diese Beratung überneh- men. I>

364 Heft 6 vom 5. Februar 1976 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Änderungsvorschläge zum „Tagesmütter-Konzept"

1. In den ersten drei bis fünf Le- bensjahren des Kindes je nach Entwicklungsstand sollte keine Fremdbetreuung vermittelt werden.

In Fällen, in denen die Mutter des Kindes verdienen muß, sollten Gel- der von staatlichen oder anderen Institutionen den Müttern zur Ver- fügung gestellt werden, damit sie ihre Kinder selbst betreuen können.

2. In besonderen Notfällen sollten die Tagesbetreuerinnen Säuglinge oder Kleinkinder oder auch mehre- re Kinder einer Mutter, die tags- über abwesend sein muß, in deren Wohnung betreuen, damit den Kin- dern das „Pendeln" erspart bleibt.

Daß die Tagesbetreuerin ihre eige- nen Kinder mitbringen kann, ist selbstverständlich. Die Betreuung zu Hause in der eigenen Wohnung ist für die betroffenen Kinder die bessere Lösung, wenn auch nicht die beste. Sie sollte auf absolute Notfälle beschränkt bleiben und für Säuglinge und Kleinkinder mög- lichst über mehrere Jahre von der- selben Tagesbetreuerin durchge- führt werden (Konstanz der Be- zugsperson).

3. Im Vorschul- und Primarschulal- ter können Kinder unter günstigen Voraussetzungen während mehre- rer Stunden bis halbtags eine Tren- nung von der Mutter ertragen. Aber auch hierbei ist Vorsicht geboten.

Kein Kind darf genötigt oder über- redet werden. Von Fall zu Fall soll- ten Fachleute die Eltern beraten, ob eine Plazierung des Kindes zu verantworten ist. Für Frauen mit mehreren Kindern ist eine Halbtags- beschäftigung das Maximum, was sie neben ihrem Haushalt und der Kindererziehung leisten können.

Vollbeschäftigung ist schädlich für Mutter und Kinder. Bei Teilzeit- oder Halbtagsarbeit der Mutter ist der Einsatz von gut ausgebildeten Tagesbetreuerinnen gerechtfertigt.

Jedoch sollten von einer Frau nicht mehr als fünf Kinder — einschließ- lich der eigenen — betreut werden und höchstens zwei Kinder der gleichen Entwicklungsstufe.

Tagesmütter-Modell

Kein Kind verzichtet in der Regel freiwillig auf seine Mutter. Wir Er- wachsenen sind verpflichtet, die Bedürfnisse unserer Kinder zu be- achten und zu befriedigen, soweit dies möglich ist. Deshalb sind Vor- sicht und Kritik geboten, wenn neue Möglichkeiten der Fremdbe- treuung für Kinder geschaffen wer- den.

Literatur bei der Verfasserin Anschrift der Verfasserin:

Dr. med. Helga Fleischhauer-Hardt Erziehungsberatung Reinach Langrüttiweg 10

CH-4153 Reinach/Schweiz

ZITAT

Selbstverwaltung

und Selbstverantwortung Im Gesundheitswesen ist natürlich insgesamt eine Ko- stensteigerung zu beobach- ten; das fängt zum Beispiel bei den Krankenhäusern an Da gibt es eine lange Ver- weildauer. Da sind die Zeiten vorbei, als Schwestern noch für ein ,Vergelts-Gott` den Pflegedienst übernahmen.

Heute ist die 40-Stunden-Wo- che eingeführt, das kostet natürlich alles Geld. Der zweite Bereich ist der Arznei- mittelbereich, der sehr teuer ist; der dritte Bereich sind die Arzthonorare, und der vierte Bereich, so würde ich das bezeichnen: ist das Ver- halten der Versicherten selbst.

Die Krankenkassen ... sind Selbstverwaltungseinrichtun- gen. Und ich denke, daß die Gremien dieser Selbstverwal- tungseinrichtungen genau so eine Verantwortung zu über- nehmen haben wie politisch Verantwortliche ..."

Walter Arendt, Bundesmini- ster für Arbeit und Sozialord- nung.

BRIEFE AN DIE REDAKTION

HALBE WIRKUNG

Die ab Januar 1976 verordnete Bleire- duzierung der Kraftstoffe wird zur Fol- ge haben, daß andere die Klopffestig- keit sichernde nicht minder giftige Stof- fe verwendet werden. Hat dies der Ge- setzgeber nicht bedacht?

Weniger Blei — weniger Tote?

Im Heft 44/1975 brachten Sie unter dem Titel „Dramatische Folgen"

eine Betrachtung über das Benzin- bleigesetz. Natürlich waren diese Ausführungen für Ihre motorisier- ten Leser bestimmt und dürfen deshalb sicherlich nicht auf die Goldwaage des vorbeugenden Ge- sundheitsschutzes gelegt werden.

Ich möchte aber darauf hinweisen, daß nach einem Bericht von Brown et al. in „Nature" vom 25. Septem- ber 1975 die Sterberate in San Francisco während der Ölkrise im ersten Vierteljahr 1974 bei einem Rückgang des Benzinabsatzes um 9,5 Prozent um 13,4 Prozent ab- sank. Es taucht die Frage auf, ob nicht auch die Reduktion des Blei- gehalts der Autoabgase ab 1. Janu- ar 1976 ähnlich günstige Folgen haben wird. Zweifellos stellt Blei (anorganischer Staub und Dampf von organischen Bleiverbindungen) einen extrem gefährlichen Be- standteil der Autoabgase dar, wenn nicht den gefährlichsten. Es wäre zu wünschen, daß unsere Epide- miologen alles tun, um diese groß- artige Gelegenheit voll zu nutzen.

Der Hoffnung, daß es zu einer star- ken Herabsetzung der Sterberate kommen wird, steht allerdings ent- gegen, daß die Erdölindustrie zur Erhaltung der Klopffestigkeit jetzt wohl vermehrt Benzol, Toluol usw.

zusetzen wird und daß der Gesetz- geber dagegen keinerlei Vorkeh- rungen getroffen hat. Diese Gifte dringen bei Undichtigkeiten im Vergaser und Treibstoffsystem in den Fahrgastraum ein und entwei- chen wahrscheinlich wie auch z. B.

Bleitetraäthyl zum Teil unverbrannt dem Motor. Benzol ist außerordent- lich krebsgefährlich. Das Blei, das jetzt nur noch in geringerem Maße zugesetzt wird, begünstigt kanzero- gene Wirkungen von eingeatmeten Giften durch Zerstörung von Freß-

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 6 vom 5. Februar 1976 365

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