© F. Enke Verlag Stuttgart Zeitschrift für Soziologie, Jg. 6, Heft 3, Juli 1977, S. 334-346 Literaturbericht
Solidarisches Handeln lokaler Initiativgruppen — Erklärungsansätze und Forschungs
probleme
Peteif Franz
DeutsWes Insitut für wissenschaftliche Pädagogik, Münster Solidary Action of Local Ad Hoc Protest Groups
Abstract: The topic of this essay is the phenomenon of solidarity, visible in the rising and the actions of protest groups in cities and neighborhoods. Only those groups will be looked at who are chiefly involved in problems of local significance. After the definition of the concept ’’solidary action“ we discuss approaches specifying conditions of its formation but differing in their choice of the independent variables. Finally some research problems are dealt with concerning a) the separation between solidarity as behavior, and solidarity as attitude, b) the researcher’s role in certain data collecting methods.
Inhalt: Gegenstand dieser Abhandlung sind Erscheinungsformen von Solidarität, wie sie in der Entstehung und den Aktionen von Bürgerinitiativen, Stadtteilgruppen etc. zu Tage treten. Es werden Gruppen betrachtet, die sich vorwiegend mit Problemen auf kommunaler Ebene beschäftigen. Nach der Definition des Begriffs „solida
risches Handeln“ werden verschiedene Erklärungsansätze, die Bedingungen des Auftretens von Solidarität nen
nen, miteinander verglichen und kritisiert. Abschließend stehen einige Forschungsprobleme zur Diskussion, die sich aus der Trennung von Verhaltens- und Einstellungssolidarität und aus der Rolle des Forschers bei der An
wendung bestimmter Erhebungsmethoden ergeben.
I. Einleitung
Der in den Klassenauseinandersetzungen und ge
werkschaftlichen Aktionen des 19. Jahrhunderts ge
prägte Begriff der Solidarität wird an dieser Stelle aufgegriffen, um aktuelle kollektive Handlungsfor
men in Bürgerinitiativen, Stadtteilgruppen etc. zu kennzeichnen1. Hierbei kann Solidarität angesehen werden a) als eine der Voraussetzungen der Ent
stehung solcher Gruppen, b) als Folge ihrer Akti
onen und c) als Merkmal der Beziehungen ihrer Mitglieder. Im weiteren Verlauf der Diskussion wird der unter a) genannte Aspekt im Mittelpunkt stehen.
Der Begriff Solidarität besitzt allerdings im sozial
wissenschaftlichen Sprachgebrauch so viele Bedeu
tungsdimensionen, daß es notwendig erscheint, den hier gemeinten Begriffsinhalt zu präzisieren (vgl. Abschn. II). Zu diesem Zweck begrenzen wir auch seinen Anwendungsbereich:
Als gemeinsames Merkmal der hier interessieren
den Initiativgruppen wird ihre Beschäftigung mit Problemen angesehen, die räumlich lokalisierbar sind und auf kommunaler Ebene liegen.
1 Definitionen solcher Gruppen finden sich bei RODEN
STEIN (1974: 4 4 0 und EBERT (1974: 108).
Mit dieser Eingrenzung wird impliziert, daß es sich um regional begrenzte, relativ kleine Gruppen han
delt, im Gegensatz zu den ausgeklammerten (z.B.
Frauengruppen, Initiative gegen Berufsverbote), die überlokal orientiert sind und potentiell zu Massen
bewegungen anwachsen können. Hier eine analytiscl exakte Trennlinie zwischen den Gruppen zu ziehen, fällt schwer, da gesamtgesellschaftliche Probleme sich auch im kommunalen Bereich auswirken und Aktionen von Initiativgruppen auf kommunaler Ebene hervorrufen können (vgl. ZÜRCHER &
CURTIS 1973: 176).
OFFE sieht die Eigenständigkeit der kommunalen Ebene als Ort der politisch-soziologischen Analyse immer wieder durch die Ähnlichkeit der relevan
ten Probleme in den einzelnen Kommunen und ihre Abhängigkeit von zentralstaatlichen Entschei
dungen in Frage gestellt (1975: 305f)2. Wir gehen davon aus, daß der Ort des Handelns der soeben eingegrenzten Initiativgruppen die Gemeinde ist, die Analyse aber, welche Variablen das Handeln
2 Autoren marxistischer Provenienz neigen auf ihrer Suche nach gesellschaftsverändernden Faktoren dazu.
Initiativgruppen ausschließlich auf ihr Potential zur Systemüberwindung zu überprüfen und kommen hier
bei regelmäßig zu negativen Resultaten. Vgl. FASS
BINDER 1971, EMENLAUER 1974 und EVERS 1975.
bestimmen, sich nicht von vornherein auf einen bestimmten Mikro- oder Makrobereich beschrän
ken muß.
U. Definition
Zuerst ist zu überprüfen, welche der überaus zahl
reichen Auffassungen von Solidarität dem gewähl
ten Anwendungsbereich angemessen sein könnte.
1. Der in der Sozialpsychologie geläufige Solidari
tätsbegriff bezieht sich auf die Art und Weise in
terpersonaler Beziehungen (FEGER 1972: 1594).
Beziehungen können solidarisch sein aufgrund ge
meinsamer Persönlichkeitsmerkmale, räumlicher Nähe, gemeinsamer Gefühle und Symbole (BROWN 1965: 72). Solidarität im sozialpsychologischen Sinn läßt sich beschreiben als Zusammengehörig
keitsgefühl, das unter bestimmten Bedingungen zu kooperativem Verhalten führt. In der sozialpsy
chologischen Kleingruppenforschung wird eine Vielzahl solcher Bedingungen genannt, wobei aber oft unklar ist, ob diese Indikatoren oder Ursachen für Solidarität sind (FEGER 1972: 1616)3.
LANTERMANN ist der Ansicht, ,,daß ein so eng umrissener Begriff nur bedingten Erklärungswert haben dürfte für das soziale Verhalten im gesell
schaftlichen Teilbereich Wohnen, der ungleich kom
plexer organisiert ist, und dessen Elemente sich nicht ohne weiteres isolieren lassen“ (1974: 29), begründet dies aber nicht weiter. Theorien über Solidarität und Kooperation, die mit dem sozial
psychologischen Solidaritäts-Begriff arbeiten, las
sen sich u.E. durchaus anwenden zur Erklärung, wie sich gruppenspezifische und persönlichkeits
typische Faktoren auf die Beziehungen der Mit
glieder bestehender Initiativgruppen auswirken (HEINZ & SCHOBER 1973: 12), doch liegen ge
sellschaftliche Konflikte - als Voraussetzung der Entstehung solcher Gruppen — außerhalb ihres Blickfelds.
Bei soziologischen Untersuchungen von Wohnquar- 3 CRAMER & CHAMPION (1975) versuchen mit Hilfe
der faktorenanalytischen Methode die Begriffe »Ko
häsion und »Solidarität1 von Kleingruppen exakter voneinander zu trennen.
4 So etwa bei BROWN: ’’Feelings of solidarity are ex
tremely pleasant; they are one of the best things that life offers“ (1965: 82).
tieren wurde der sozialpsychologische Solidaritäts
begriff angewandt von LEE, der von ’’consentan
eity“ spricht (1968: 242), und von TAMNEY, der Solidarität durch den Ausdruck ’’involvement“ er
setzt, da im erstgenannten Begriff eine positive Wertung enthalten sei (1975: 2)4. CLARK geht in seiner Definition der Gemeinde auch vom sozial
psychologischen Solidaritätsbegriff aus (1973:
409). Allen drei angeführten Beispielen der Be
griffsverwendung ist gemeinsam, daß größere so
ziale Einheiten als die der Kleingruppe untersucht werden, und damit die Grenzen zum Terminus der sozialen Integration einer Gemeinde oder ei
nes ihrer Teüe nicht mehr deutlich zu ziehen sind.
2. Hinter der soziologischen Auffassung von Soli
darität steht der Anspruch, daß dieses Phänomen als ’’social fact“ mit Hilfe gesellschaftlicher Fak
toren erklärbar sei5. Das heißt jedoch nicht, daß ein soziologischer Solidaritätsbegriff von vornher
ein für die Verwendung in Theorien über die Ent
stehung von Initiativgruppen besser geeignet ist:
„der soziologische Begriff der Solidarität (umfaßt, P.F.) so allgemeine gesellschaftliche Bewegungen, daß dessen Problematik. . .gerade in seiner weiten Fassung liegt“ (LANTERMANN 1974: 29f). Da
mit ist wohl gemeint, daß sich soziologische Soli
daritätsbegriffe oft auf die Gesellschaft als ganze beziehen und Meßgrößen enthalten, die auf Grup
pen oder Teile der Gesellschaft nicht mehr anwend
bar sind. Solche globalen Ansätze - wie z.B.
DURKHEIMs organische und mechanische Solida
rität — werden im folgenden nicht weiter disku- 2.1. YOUNG setzt sich zum Ziel, das Auftreten von Solidarität mit Hilfe sozialstruktureller Fak
toren zu erklären. An dieser Stelle interessiert zu
nächst seine Definition von Solidarität.
5 DÜRKHEIM vertritt diesen Standpunkt gegenüber der Psychologie: Solidarität ’’is a social fact we can know only through the intermediary of social effects. . .(Die Psychologen, P.F.) have eliminated from the phenomenon all that is peculiarly social in order to retain only the psychological germ whence it developed. It is surely true that solidarity, while being a social fact of the first order, depends on the individual organism. In order to exist, it must be contained in our physical and psychic constitution.
One can thus rigorously limit oneself to studying this aspect. But, in that case, one sees only the most indistinct and least special aspect. It is not even solidarity properly speaking, but rather what makes it possible“ (1964: 67).
336 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 6, Heft 3, Juli 1977, S. 334-346 Er geht in seiner Theorie von der Existenz reakti
ver Subsysteme (’’reactive subsystems“) aus, die in Opposition zur Politik des übergeordneten Sy
stems stehen (1970: 297). In diesem Systeman
satz6 ist die Betrachtungsebene beliebig wählbar, so daß sowohl das politische System eines Staates als auch das einer Gemeinde Ausgangspunkt der Analyse werden können. Reaktive Subsysteme zeichnen sich aus durch Solidarität, ’’defined as the degree to which the social symbols maintained by a group are organized to convey a focused de
finition of the situation“ (YOUNG 1970: 298)7.
298)7.
Diese Definition soll laut YOUNG die Formulie
rung von (zu überprüfenden) Hypothesen erleich
tern (1970: 298), also die Operationalisierung des Komplexes Solidarität ermöglichen. Zur Messung von Solidarität wären folgende Schritte notwendig:
1. Feststellung der relevanten sozialen Symbole des untersuchten Subsystems,
2. Messung, inwieweit die Organisation dieser Sym
bole — die Symbolstruktur — zu einer einheit
lichen Definition der Situation durch die Mit
glieder der des Subsystems führt.
Der erste Schritt beinhaltet die Frage nach den Zielen des Subsystems; im zweiten Schritt wird das Ausmaß an Solidarität bezüglich dieser Ziele bestimmt. Ob hierfür die Art und Weise der Sym
bolstruktur oder die Einheitlichkeit der Situations
definition durch die Mitglieder des Subsystems als Indikator zu nehmen ist, geht aus der Begriffsbe
stimmung aber nicht hervor. Daneben bestehen Probleme der Meßbarkeit der Konstrukte ,Grad an Übereinstimmung der Symbolstruktur4 und D e
finition der Situation4, die erst durch zusätzliche Operationonalisierungsschritte auf die empirische Ebene transferierbar wären.
YOUNG gelingt es, mit seiner Annahme reaktiver Subsysteme verschiedene Betrachungsebenen in 6 Der Systemansatz impliziert folgende Vereinfachungen:
a) Die Aktivität des Subsystems ist an der des überge
ordneten Systems orientiert und nicht an anderen Sub
systemen,
b) das übergeordnete System entsteht aus der Interak
tion kleinerer Einheiten (YOUNG 1970: 297).
7 Die Beziehung von Subsystem zu Gruppe bleibt bei YOUNG unklar (vgl. 1970: 298).
seinen Ansatz zu integrieren, seine Definition des Solidaritätsbegriffs vernachlässigt jedoch den Handlungsaspekt und ist in der vorliegenden Form für empirische Untersuchungen nur anwendbar, wenn spezifischere Meßanweisungen hinzutreten.
2.2. Den Versuch, Solidarität unter Berücksichti
gung des oben angedeuteten historischen Bezugs zu präzisieren, unternimmt v. REITZENSTEIN in einer Analyse der politischen Ziele westdeutscher Gewerkschaften nach 1945. Sie resümiert hierüber:
„Solidarität kommt in dreifacher Hinsicht vor:
Erstens ist sie ein soziales Handeln, das sich in einem bestimmten Bezugsrahmen vollzieht oder selbst ein Bezugssystem abgibt. Zweitens kommt sie, enger gefaßt, als Unmittelbarkeitsbeziehung zwischen den Solidarischen vor. Und drittens zeigt sie sich in der Gleichheitsforderung und uto
pischen Erwartung als erhoffter Zustand der Gesell
schaft“ (v.REITZENSTEIN 1961: 200).
Am ersten Gesichtspunkt des sozialen Handelns in
teressiert, müssen wir auf den „Bezugsrahmen“ ge
nauer eingehen. „Bezugsrahmen“ können wir als notwendige Zusatzinformation über den sozialen Kol text interpretieren, in den solidarischesL Handeln einzuordnen ist und in dem es verständlich wird.
v.REITZENSTEIN geht aus von „einer Vielzahl Solidarischer, die sich aus objektiven wirtschaft
lichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten heraus in einer gleichen Lebens- und Mangellage befind
lich erfährt“ (1961: 200). Während YOUNGs De
finition das Ausmaß an Solidarität mit dem Grad an Übereinstimmung der Situationsdefinition in Beziehung setzt, also annimmt, daß das Be
wußtsein einer bestimmten Lage erst die Voraus
setzung für solidarisches Handeln schafft, geht dies aus der Prämisse von v.REITZENSTEIN nicht so klar hervor, da sie von vornherein von den „Soli
darischen“ spricht. Eine Mangellage kann man durch den Vergleich mit einem Maßstab gesell
schaftlicher Bedürfnisbefriedigung (z.B. Lebens
standard) konstatieren, gemeint ist hiermit eine wahrgenommene Benachteiligung bezüglich der Kriterien des Maßstabs8. Erforderlich ist also die gemeinsame Situationsdefinition, benachteiligt zu sein, resultierend aus dem Vergleich mit den Le- 8 Wenn v.REITZENSTEIN von gemeinsamer Lebenslage
spricht, hat sie den Klassengegensatz kapitalistischer Gesellschaften im Auge, doch ist die umfassende Be
deutung dieses Begriffs auf Initiativgruppen nur be
grenzt anzuwenden, da sich deren Mitglieder oft aus verschiedenen Schichten rekrutieren.
benschancen und -bedingungen anderer sozialer Einheiten. Mit dieser Hypothese der relativen Be
nachteiligung wird implizit eine Erklärung solida
rischen Handelns geboten, die auf MARX zurück
geht (vgl. GESCHWENDER 1973: 49f).
Das solidarische Handeln der Vielzahl richtet sich
„auf ein Gegenüber als einem sozialen Gegenpart4 . . . , demgegenüber sie sich durchzusetzen hat, um - in ihrem Interesse auf das gemeinsame Ziel ge
richtet — die Mangellage zu beheben44 (v.REITZEN
STEIN 1961: 200).
Auf die Ebene lokaler Initiativgruppen übertragen heißt dies, daß dem solidarischen Handeln die Situationsdefinition einer Vielzahl von Gemeinde
mitgliedern zugrunde liegt, zumindest in einem Aspekt ihrer Lebens- und Versorgungsbedingungen benachteiligt zu sein. Solidarisches Handeln selbst ist somit ein kollektives Verhalten dieser Vielzahl von Gemeindemitgliedern, das auf die Aufhebung einer empfundenen Benachteiligung gerichtet ist9.
Auf kommunaler Ebene konkurrieren Initiativgrup
pen in ihrer Situations- oder auch Problemdeflni- tion mit Auffassungen anderer Bürgergruppen, pri
vaten Organisationen oder der kommunalen Verwal
tung. Geht man davon aus, „daß soziale Probleme. ..
Produkte eines Prozesses der kollektiven Definition darstellen“ (BLUMER 1973: 149), und dieser De
finitionsprozeß sich aus den Aktivitäten von Grup
pen und institutionellen Reaktionen darauf zusam
mensetzt — nämlich indem erstere Beschwerden äußern und Forderungen an Organisationen und Verwaltung stellen, und diese wiederum darauf reagieren (SPECTOR & KITSUSE 1973: 146, 158) - , so kann man in diesen den „sozialen Gegenpart“
der Initiativgruppen erblicken.
UI. Erklärungsansätze
Das Auftreten kollektiver Aktionen in Gestalt soli
darischen Handelns von Initiativgruppen ist Gegen
stand von Erklärungsversuchen der politischen Sozio
logie. Die hier behandelten Ansätze beziehen sich auf kollektive Aktionen auf kommunaler Ebene, sie sind
9 Ähnlich definiert TURNER sozialen Protest, „worun
ter wir den Protest verstehen, der auf ein echtes Ge
fühl der Benachteiligung zurückgeht und dem es ernst ist im der Absicht, Aktionen zur Verbesserung der La
ge hervorzurufen“ (1973: 169).
nach der Wahl ihrer unabhängigen Variablen geglie
dert.
1. Variablen der Individual- und Wohnumwelt- ebene
1.1. ORBELL & UNO gehen davon aus, daß Be
wohner eines Wohnviertels, die mit den dort gebo
tenen Lebensbedingungen unzufrieden sind, im all
gemeinen drei Wahlmöglichkeiten haben10 11 12:
— sich mit der Situation abfmden,
— Wegzug in ein anderes Wohnviertel oder eine andere Gemeinde,
— Bemühen um eine Änderung der Lebensbedin
gungen am Ort (1972: 471; vgl. auch FRANZ 1976: 141). Die dritte Alternative kann aus in
dividualistischen oder kollektiven Handlungen bestehen
Nun nehmen ORBELL & UNO an, daß Personen, die sich in der Entscheidungsituation befinden, Kosten und Nutzen der verschiedenen Alternati
ven ab wägen und sich für jene entscheiden, die ihnen den größten Nutzen bei geringsten Kosten bietet (1972: 473). Die Einführung dieses ökono
mischen Kalküls ermöglicht es, verschiedenste Fak
toren unter dem Kosten-Nutzen-Aspekt und damit in ihrer Auswirkung auf das Entscheidungsverhal
ten von Bewohnern bestimmter Wohnviertel zu analysieren. So läßt sich schließen, daß Angehöri
gen der Unterschicht — Personen mit geringen fi
nanziellen Ressourcen und relativ kurzer Ausbil
dung — die Alternativen des Wegzugs und der po
litischen Aktivität nicht in derselben Weise offen
stehen wie Mitgliedern höherer Schichten, deren Einkommen den Zugang zu weit mehr Wohnge
bieten öffnet11 und die für politische Partizipation von vornherein größere Ressourcen, z.B. organisato
rische und Verbalisierungsfähigkeiten, einsetzen kön- 10 Sie stützen sich hierbei auf eine Arbeit von HIRSCH-
MAN, der Konsumentenreaktionen auf Leistungsver
schlechterungen von Unternehmen und anderen Orga*
nisationen untersucht und folgende Reaktionsweisen postuliert: a) Abwanderung zu anderen Unternehmen, b) Widerspruch, c) Passivität (1974: 3f, 43).
11 In schichtenmäßig heterogenen Wohngebieten mit gleichen Wohnungen können so Angehörige unterer Schichten größere Wohnzufriedenheit äußern als die höherer Schichten, da für sie die Alternative des Weg
zugs nicht in gleichem Maße realisierbar ist (vgl.
CHAMBOREDON & LEMAIRE 1974: 199f).
12 ’’the model implies that poor people are at a double
338 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 6, Heft 3, Juli 1977, S. 3 3 4 -3 4 6 Durch die Gegenüberstellung der drei Alternativen
wird es möglich, Theorien über horizontale Mobi
lität und Theorien über politische Partizipation auf die gleiche Entscheidungssituation anzuwen
den: „Studies of mobility usually see the only alternative to a move as accepting the present state of affairs in the current neighborhood, and studies of participation usually see the only alter
native to action as apathy or resignation. . . but in neither of these — to our knowledge — is it recognized that these are alternatives, that a person might take political action instead of leaving, or vice versa“ (ORBELL & UNO 1972: 473, Hervorhebung im Original).
In der Mobilitätsforschung werden als mobilitäts
beeinflussende Faktoren häufig die Menge der Probleme im gegenwärtig bewohnten Wohnvier
tel und die Attraktivität anderer Wohnviertel ge
nannt, mit ihnen wird z.B. der Wanderungsprozeß aus den (problemüberladenen) Stadtzentren in die (mehr an Familienbedürfnissen orientierten) Vor
orte zu erklären versucht (ORBELL & UNO 1972:
474f). Die politische Partizipationsforschung unter
sucht vorwiegend Wahlverhalten und Mitgliedschaft in politischen Organisationen in Abhängigkeit von Schicht, Geschlecht, sozialer Integration, Anomie, etc., begreift Partizipation aber nicht als proble
morientierte Handlung: ’’That is the crux of our model: An individual’s participation is seen as response to a need he experiences in his environ
ment (or at least the neighborhood part of it), and as directed toward some agency, usually govern
ment, that has the power to do something about it“ (ORBELL & UNO 1972: 476).
In ihrer empirischen Untersuchung überprüfen ORBELL & UNO die Bedeutung einiger wichti
ger Variablen dieser zwei Forschungsansätze für die Entscheidungssituation von Individuen, denen die genannten drei Alternativen zur Wahl stehen.
Sie messen die Bereitschaft von Großstadtbewoh
nern in den USA, die Probleme in ihrem Wohn
viertel wahrnehmen oder sich solche vorstellen, wegzuziehen und/oder politisch aktiv zu werden, und stellen fest:
disadvantage: they are handicapped in their abüity to use both exit and voice for solving their neighbor
hood problems. In such cases passivity can be rational since a dispassionate assessment of the other alterna
tives could suggest that action of any kind would be a waste of time, energy, and money“ (ORBELL &
UNO 1972: 474; vgl. auch LIPSKY 1972: 181).
1. In innerstädtischen Wohngebieten favorisieren Personen niedrigen Status’ (Indikator: Ausbü- dungsdauer) die Alternative Wegzug, Personen hohen Status’ sowohl Wegzug als auch poli
tische Aktivität. In Stadtrandvierteln entschei
den sich beide Gruppen überwiegend für politi
sche Aktivität (1972: 480).
2. Mit zunehmender Wohndauer im gleichen Vier
tel sinkt die Bereitschaft für politische Aktivi
tät zugunsten von Wegzug (1972: 482).
3. Bei Personen mit Hausbesitz oder sozialer Inte
gration im Wohnviertel wird die Entscheidungs
bereitschaft nicht zugunsten politischer Aktivität beeinflußt (1972: 484).
Den Unterschied in der Nennung von Alternativen in innerstädtischen und Stadtrandgebieten (Ergeb
nis 1) erklären ORBELL & UNO damit, daß in den beiden Wohngegenden jeweils andersgeartete Probleme vorherrschen: die innerstädtischen Prob
leme werden dabei von den Autoren durch poli
tische Aktivitäten schwerer lösbar interpretiert als die in den Vororten auftretenden, deren Lö
sung mit geringeren Kosten verbunden zu sein scheint (1972: 488).
ORBELL & UNO messen die Bereitschaft zu einem bestimmten Handeln, nicht aber das Auf
treten dieses Handelns selbst. Daraus ergeben sich Probleme, die in Abschn. IV aufgegriffen werden. Für die Ergebnisse hat dies zur Folge, daß bei gleicher Bereitschaft zu zwei Handlungs
alternativen nicht angegeben werden kann, wel
che der beiden tatsächlich ergriffen würde. Bei politischer Aktivität unterscheiden die Autoren nicht mehr zwischen individualistischer und kol
lektiver Handlungsbereitschaft, so daß solidari
sches Handeln nicht immer die Konsequenz die
ser Altemativenwahl sein muß. Sie konzentrieren ihr Interesse auf die Handlungen politische Aktivi
tät und Wegzug, die dritte Alternative wird als Residualgröße gesehen, unter die alle anderen Verhaltensweisen subsumiert werden, so z.B.
langanhaltende Apathie, vorübergehende politi
sche Untätigkeit, aber auch aggressive Handlun
gen gegenüber anderen Bewohnern, die durch Probleme im Wohnviertel ausgelöst werden kön
nen (vgl. BALL 1968: 892; FRANZ J9 7 6 : 134).
Es wäre zu fragen, ob solche Verhaltensweisen nicht wieder Auswirkungen auf die Entscheidun
gen der anderen Bewohner des Viertels haben.
Man muß auch sehen, daß die Alternative Weg
zug nicht nur aus Gründen der Problemfülle des gegenwärtig bewohnten Viertels oder der Attrak
tivität anderer Wohnquartiere gewählt wird, son
dern oft auch wider Willen, z.B. als Folge beruf
licher Mobilität oder bei der Einweisung in ein Obdachlosenlager.
Eine andere Problematik der Untersuchung liegt darin, daß zwar häufig verwendete Variablen aus der Mobilitäts- und Partizipationsforschung mit der individuellen Tendenz, bestimmte Alternati
ven zu ergreifen, korreliert werden, die Interpre
tation der so erhaltenen Werte bei ORBELL &
UNO aber immer wieder zeigt, daß damit noch lange nicht alle relevanten Faktoren der individu
ellen Kosten-Nutzen-Rechnung in der Entschei
dungssituation erfaßt sind. Je genauer man die Situation in einzelne Variablen differenziert, desto mehr ist man genötigt, Annahmen über den Kos
ten- oder Nutzeffekt verschiedener Bedingungen zu treffen, die erst empirisch zu überprüfen wären.
Zu welcher Alternative neigen Bewohner attrak
tiver Wohnungen in innnerstädtischen Wohnvier
teln? Warum werden langjährige Bewohner eines von Sanierung bedrohten Viertels plötzlich poli
tisch aktiv? Die Beantwortung dieser Fragen er
fordert es, Situationsvariablen zu berücksichtigen , die in der Untersuchung von ORBELL & UNO nicht auftreten.
Ihre Leistung besteht darin, durch ihren Ansatz überraschende Verbindungen zwischen Mobilitäts
und Partizipationsforschung hergestellt und neue Möglichkeiten zur Erklärung des Verhaltens von Gemeindemitgliedern bezüglich kommunaler Pro
bleme geboten zu haben. In ihrer Untersuchung weisen sie nach, daß eine Reihe von Faktoren ei
ne geringere Bedeutung für die Bereitschaft, poli
tisch zu handeln, haben, als ihnen bisher zugemes
sen wurde.
1.2. Eine Untersuchung für den westdeutschen Be
reich stellt die von LANTERMANN dar, der Aus
wirkungen psychischer, sozialer und physischer Faktoren der Wohnumwelt auf die Solidaritäts
bereitschaft13 der Bewohner dreier städtischer
13 LANTERMANNs Auffassung von Solidarität ist nahe
zu mit der des in diesem Aufsatz definierten solida
rischen Handelns identisch. Die Bereitschaft hierzu bezieht sich auf:
Wohnquartieren überprüft. In seiner ersten Hypo
these postuliert er, daß ,,Ausprägungsgrade der sozialen Balance und der Bereitschaft zum solida
rischen Handeln von Bewohnern städtischer Wohn
quartiere. .. in einer umgekehrten U-Beziehung zu einander (stehen, P.F.)“ (1974: 35). Unter so
zialer Balance versteht LANTERMANN (1974:
32ff) einen psychologischen Tatbestand, der die Mitte auf einer Skala bezeichnet, mit welcher die individuelle Beurteilung des sozialen Kontakts im Wohnquartier gemessen wird. Die Meßskala reicht von fehlendem (soziale Deprivation) bis zu über
mäßigem Kontakt (soziale Überlastung). Wenn
„das Individuum sich in einem Zustand der Aus
geglichenheit hinsichtlich der Kontakt- und Kom
munikationsmöglichkeiten befindet“ (LANTER
MANN 1974: 32) — also in sozialer Balance — , soll die Solidaritätsbereitschaft groß, bei sozialer Deprivation und Überlastung jeweüs gering sein.
Der Begriff ,soziale Balance* ist eng verwandt mit dem der ,unvollständigen Integration* in der Stadt
soziologie, der der sozialen Deprivation mit dem der Anomie (vgl. LANTERMANN 1974: 35).
Die erste Hypothese wird durch die Befragungsda
ten bestätigt (LANTERMANN 1974: 101). Will man dieses Ergebnis mit dem Befund von ORBELL
& UNO vergleichen14 * 2 3 4, daß soziale Integration im Wohnviertel die Bereitschaft zu politischer Aktivi
tät nicht beeinflußt, so ist zu klären, ob deren Auf
fassung von sozialer Integration — gemessen mit der einzigen Frage ”Do most of your friends live around here, or do they live somewhere else? “ (1972: 483)
— mit der der sozialen Balance bei LANTERMANN korrespondiert, der den befragten Personen sieben THURSTONE-skalierte Statements vorlegt (vgl.
1974: 140). Es sind zwei Interpretationen möglich:
a) die Begriffe entsprechen sich, da die Existenz von Freunden im Wohnviertel ausgeglichene Kontakt
„1. konkrete Forderungen zur Veränderung einzel
ner oder mehrerer Aspekte der Wohnumwelt;
2. konkrete Angriffe von außen, die von den Be
wohnern als eine Beeinträchtigung Aller aufge
faßt werden;
3. Forderungen und Angriffe, die nur durch ge
meinsames Handeln aller Betroffenen durchsetz
bar bzw. abwehrbar sind,
4. Ziele und Forderungen, die nicht oder nur schwer auf dem normalen institutionalisierten Wege durchsetzbar sind“ (1974: 31).
14 Der Vergleich wird dadurch erschwert, daß ORBELL
& UNO sich auf Personen mit Problemperzeption be
ziehen, LANTERMANN erhebt diese Variable nicht.
340 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 6, Heft 3, Juli 1977, S. 334-346 möglichkeiten bietet, folglich widersprechen sich
die Befunde, b) soziale Integration ist äquivalent zu sozialer Überlastung, da Freunde im Wohnvier
tel vermehrt soziale Kontrolle ausüben, folglich wi
dersprechen sich die Befunde nicht.
Seine zweite Hypothese gliedert LANTERMANN in a) „Das Zusammenwirken von sozialer Homoge
nität, Aufgelockertheit des äußeren Erscheinungs
bildes sowie eine zentrale Lage korrespondiert mit einer relativ hohen Solidaritäts-Bereitschaft“ (1974:
26), b) „Ein Zusammentreffen von sozialer Hetero
genität, Monotonie des äußeren Erscheinungsbildes und Randlage korrespondiert mit einer relativ ge
ringen Solidaritäts-Bereitschaft“ (1974: 36)15.
Überprüft wird die Hypothese an einer Stichpro
be von männlichen Bewohnern dreier Wohngebie
te, die sich hinsichtlich der unabhängigen Variab
len unterscheiden16. Eine durchgerechnete Vari
anzanalyse bestätigt Teü a), aber nicht Teü b) der Hypothese17. In eine anschließende Kausal
analyse werden nebenher erhobene Variablen miteinbezogen, von denen vermutet wird, daß sie die Solidaritäts-Bereitschaft beeinflussen. Die
se sind Zahl der Kinder, Wohndauer, Alter und gewerkschaftliche Aktivität. Alle Variablen zu
sammen erklären 58 % der Gesamtvarianz der Solidaritäts-Bereitschaft; der Faktor .gewerkschaft
liche Aktivität6 trägt etwa 10 %, die in der zwei
ten Hypothese genannten drei Variablen jeweüs nur 5 % zur Erklärung bei (LANTERMANN
1974: 120). Ein Vergleich mit der Studie von ORBELL & UNO wäre nur bezüglich der Varia
blen geographische Lage6 (innerstädtisches ver
sus Stadtrand-Wohngebiet) möglich, diese wird 15 Er setzt die unabhängigen Variablen auch noch zum
Grad der sozialen Balance in Beziehung. Dieser Teil der Hypothese wird hier aber nicht diskutiert.
16 Wohngebiet I: sozial homogen, monoton, Randlage;
Wohngebiet II: sozial heterogen, monoton, Randlage;
Wohngebiet III: sozial homogen, aufgelockert, zen
tral;
Die an zweiter und dritter Stelle genannten objekti
ven Merkmale entsprechen auch der subjektiven Wahr
nehmung der Befragten (LANTERMANN 1974: 95).
Im Resümee sieht er die Unterschiede in den Merk
malsausprägungen als nicht ausreichend an (1974:
124f).
17 Die drei unabhängigen Variablen erklären 7,5 % der Gesamt-Varianz der Solidaritätswerte (signifikant auf dem 1 %-Niveau). Die Unterschiede zwischen Wohn
gebieten I, II und Wohngebiet III sind signifikant, nicht jedoch die zwischen I und II (LANTERMANN 1974: 108).
aber von LANTERMANN nicht getrennt von So
zialstruktur und Erscheinungsbüd untersucht18 *. Die Arbeit von LANTERMANN erhält einen ein
geschränkten Erklärungswert dadurch, daß nicht Solidaritätsbereitschaft bezüglich bestimmter, im Wohngebiet wahrgenommener Probleme gemessen, sondern eine allgemeine vorhandene Disposition zu solidarischem Handeln postuliert wird, die mit be
stimmten Wohnumwelt-Variablen kovariieren soll.
In den statements des Meßinstruments werden aber implizit Vermutungen über das Auftreten bestimm
ter Probleme (z.B. fehlende Kinderspielplätze, Miet
wucher) in Wohngebieten getroffen (vgl. hierzu auch unten Abschn. IV). An sich wird also nur die
Solidaritätsbereitschaft hinsichtlich der in den Statements angesprochenen Probleme erfragt. Ob diese jedoch auch für die Bewohner der untersuch
ten Wohngebieten reale Probleme darstellen, wird nicht überprüft, d.h. der Faktor .Problemwahrneh
mung6 in seiner Auswirkung auf die Solidaritäts- Bereitschaft nicht berücksichtigt.
Davon abgesehen ist sich LANTERMANN der Schwierigkeit der Aufgabe bewußt, die relevan
ten Variablen, die die Solidaritätsbereitschaft be
einflussen, aus dem Faktorenbündel,Wohnumwelt4 zu extrahieren. „Diese Problematik allerdings ist nicht nur für diese Arbeit typisch, sondern gilt für jede empirische Analyse von Teübereichen mensch
lichen Verhaltens und Erlebens sowie deren innere Begründung. Es werden sich immer noch Ursachen anftihren lassen, die die .unabhängige Variable6 wiederum bedingen, ohne daß diese in die jeweili
ge empirische Untersuchung miteingingen. Nur unter der Bedigung der Erfassung aller relevanten Ursachen einer Situation wäre dieses Problem lös
bar, ein Vorgehen, das auf prinzipielle Schwierig
keiten stoßen würde“ (LANTERMANN 1974:
123).
18 Erwähnenswert ist noch, daß beide Untersuchungen einen kurvilinearen Zusammenhang zwischen Wohn
dauer und Solidaritäts-Bereitschaft ermitteln mit einem Maximum der abhängigen Variablen zwischen 2 - 4 (LANTERMANN 1974: 123) bzw. 3 - 6 Jahren (ORBELL & UNO 1972: 482). Bei letzteren güt der Zusammenhang allerdings nur für suburbane Wohngebiete.
2 Variablen der kommunalen politischen und so
zialen Struktur•
2.1. Im Gegensatz zu LANTERMANN und ORBELL & UNO mißt EISINGER ausgeführte politische Aktivitäten, die Erwähnung in der Pres
se gefunden haben. Er geht von der Frage aus, ob Äußerungen politischen Protests in amerikani
schen Städten abhängen von Bedingungen der Struktur der politischen Einflußmöglichkeiten (’’opportunity structure“) ihrer Bewohner. Diese Opportunitätsstruktur ist eine Funktion des Aus
maßes, in dem Gruppen in der Gemeinde Zugang zu Macht erringen und das kommunale politische System beeinflussen können (EISINGER 1973:
25). Er versteht politischen Protest als ”a host of types of collective manifestations, disruptive in nature, designed to provide ’relatively powerless people4 with bargaining leverage in the political process“ (1973: 13)19, gerichtet gegen Ziele und Maßnahmen kommunaler Verwaltung.
EISINGER sieht für die Erklärung zwei plausible Argumentationsweisen: a) Protest als Frustrations
reaktion von Gruppen angesichts verschlossener politischer Einflußschancen, b) Protest als Folge einer kleinen Verbesserung der Einflußschancen, wenn die Erwartungen im Wandel sich erhöhen, dieser aber nicht schnell genug eintritt(1973: 14f).
Seine konkurrierenden Hypothesen — a) Protest herrscht in Gemeinden mit geringen Einflußchan
cen der Bewohner vor, b) Protest herrscht in Ge
meinden vor, die zugleich Anzeichen relativ gerin
ger und relativ großer Einflußchancen aufwei
sen — überprüft er an einem Sample von 43 Städ
ten mit einer Einwohnerzahl zwischen 100 000 und 1 Million, wobei Hypothese b) bestätigt wird.
Die Anzahl der Proteste wird anhand von Artikeln in den entsprechenden Lokalzeitungen festgestellt (EISINGER 1973: 15). Als Indikatoren geringer Einflußchancen werden angesehen
a) die Existenz eines angestellten Stadtdirektors
19 Er versucht, kollektive Gewalttätigkeit (z.B. die US- amerikanischen Rassenunruhen) hiervon abzugrenzen, da er zu deren Erklärung andere Faktoren als relevant ansieht: Politischer Protest enthalte nur implizit Ge
waltandrohung und sei vorwiegend auf kommunale Probleme beschränkt, kollektive Gewalttätigkeit ent
stehe meist aufgrund gesamgesellschaftlicher Proble
me (EISINGER 1973: 13f).
(manager), da dieser keinen Wählern verantwort
lich ist,
b) Kommunalwahlen mit Kandidaten, die nicht par
teigebunden sind (nonpartisanship), da so parteipoli
tische Kontroversen über kommunale Probleme aus- bleiben,
c) ein Wahlmodus (at-large elections), durch den oft auf ein bestimmtes Wohngebiet beschränkte Minder
heiten gegenüber größeren Gruppen in der Gemeinde benachteiligt werden (EISINGER 1973: 16f)20.
Größere Einflußchancen sollen durch die Existenz eines gewählten Bürgermeisters, von Kommunalwah
len mit parteigebundenen Kandidaten und durch einen Wahlmodus (ward elections) gegeben sein, durch den lokale Minderheiten mehr Vertreter in den Gemeinderat entsenden können21 *.
EISINGER stellt eingangs die Behauptung auf, daß die verschiedenen Komponenten der Opportunitäts
struktur einer Gemeinde einen Kontext büden, in dessen Rahmen sich die (kommunal-)politischen Ak
tivitäten abspielen (1973: 11), also auch die Perso
nen, die Protestverhalten zeigen, sich an diesem Kon
text orientieren. In der Untersuchung werden die Strukturkomponenten anhand von Statistiken und Gemeindehandbüchern bestimmt, es wird aber nicht überprüft, ob dieser so ermittelte Kontext mit der Wahrnehmung der Gemeindemitglieder überein
stimmt. Dies ist deshalb einzuwenden, da EISIN
GER eine Hypothese aufstellt und bestätigt, die in enger Beziehung zu der Revolutionstheorie von DAVIES steht (vgl. EISINGER 1973: 15, Fußnote 24), von der GESCHWENDER zeigt, daß sie be
stimmte Annahmen über die Wahrnehmung der po
tentiell revolutionären Individuen beinhaltet, die dazu führen, „daß tatsächliche Bedingungen der Benachteiligung weniger wichtig sind, als die Ent
wicklung einer bestimmten Vorstellung, relativ zu einem anderen möglichen Stand der Dinge unge
20 Würde man versuchen, diese Hypothesen in der BRD zu testen, müßten andere Merkmale an die Stelle die
ser Indikatoren treten (vgl. HEINER 1976: 130).
21 Neben diesen Merkmalen der formellen Opportuni
tätsstruktur wird als Indikator ihres informellen As
pekts der Grad der Machtkonzentration in der Ge
meinde anhand des Verhältnisses von ’’white collar zu ’’blue collar”-Positionen ermittelt. Die Gültigkeit dieser Messung ist jedoch umstritten (vgl. EISIN
GER 1973: 19).
342 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 6, Heft 3, Juli 1977, S. 334-346 rechterweise benachteiligt zu sein“ (1973: 47). So
kommt es, daß EISINGER zwar Vermutungen über die individuelle Perzeption der Einflußchan
cen äußert (vgl. z.B. 1973: 22, 25), diese aber nicht empirisch belegen kann.
2.2 Der strukturelle Erklärungsversuch des Auftre
tens von Solidarität22 bei YOUNG besteht aus der Hypothese: ” If subsystem is highly differentiated relative to its centrality in the system, it will develop solidarity. That is, the greater the differentiation- centrality ratio, the greater the solidarity“ (1970:
301). ’Differenzierung4, gemessen an Indizes der An
zahl unterschiedlicher Institutionen oder am Aus
bildungsniveau der Individuen in einem Subsystem, verwendet er äquivalent zur funktionalistischen Auf
fassung des Begriffs, schwieriger ist dagegen der Be
griff der relativen Zentralität eines Subsystems —
’’the degree to which the system ’recognizes4 the subsystem44 (YOUNG 1970: 300f) — zu fassen. Hier kämen auf verschiedenen Systemebenen unterschied
liche Indikatoren in Betracht, z.B. das Ausmaß der politischen Repräsentation des Subsystems im Sy
stem, die Anzahl der Verkehrsverbindungen oder der Umfang der Wirtschaftbeziehungen beider Systeme: entscheidend für hohe (geringe) Zentra
lität ist eine relativ große (kleine) Anzahl von Kommunikationskanälen zwischen beiden Syste
men (YOUNG 1970: 301).
An verschiedenen historischen sozialen Bewegun
gen illustriert YOUNG die Erklärungskraft seiner Theorie, indem er jeweilige strukturelle Bedingun
gen als relativ stark differenziert interpretiert und den jeweiligen Subsystemen geringe Zentralität be
scheinigt (1970: 302ff). Zur Erklärung solidarischen Handelns lokaler Initiativgruppen wäre als System
ebene die kommunale Ebene zu wählen, entspre
chend der Hypothese müßten jene Subsysteme die größte Solidarität zeigen, die im Verhältnis zu ihrer Differenzierung relativ geringe Zentralität aufweisen.
Sind nun aber Bewohner von Obdachlosenunterkünf
ten (Differenzierung mittels Ausbildungsniveau: ge
ring; Zentralität mittels politischer Repräsenta
tion: gering) oder Bewohner von Wohnquartieren der oberen Mittelschicht (Differenzierung: hoch;
Zentralität: hoch) potentiell solidarischer? Hier
aus ergeben sich schon die Schwierigkeiten dieser Theorie, das Verhältnis beider unabhängiger Va
riablen als Zahl bestimmen zu müssen, also den 22 YOUNGs Solidaritäts-Definition wird oben im Abschn.
II 2.1. diskutiert.
Einfluß jeder der beiden nach irgendwelchen Kri
terien abzuschätzen23. Die Möglichkeit, daß auf eine bestimmte Relation von Differenzierung und Zentralität noch andere Reaktionen als Solidari
tät (z.B. Isolation) erfolgen können, wird von YOUNG zwar angedeutet, aber nicht eingehender verfolgt (1970: 305).
Trotz der unterschiedlichen Nomenklatur der Theo
rien von YOUNG und EISINGER kann man Paralle len der Begriffe ,Zentralität4 und ,Opportunitäts
struktur4 erkennen, wenn man als Indikator für er- steren das Ausmaß der politischen Repräsentation wählt und zunehmende Differenzierung (mit dem Indikator Ausbildungsniveau) als kovariant dem Steigen des Erwartungsniveaus24 ansieht, das EISIN
GER als Vorbedingung des Auftretens von Protest in seiner zweiten Hypothese angibt.
2.3. Diejenigen Theorien, die das Auftreten (intra- kommunaler Konflikte zum Erklärungsziel haben, können dann für unsere Fragestellung herangezogen werden, wenn ihre Konfliktdefinition das fragliche Explanandum enthält. Mit der Definition von KREP
& WENGER von Konflikt ”as a social process in which overt opposition occurs between two or more interacting units of social organization because of an event. . .that is related to the vested interests of these social units44 (1973: 160) kann man solidari
sches Handeln als jene Teilklasse sozialer Prozesse auf kommunaler Ebene auffassen, in denen sich lok;
le Initiativgruppen und kommunale Verwaltung als
’’social units44 gegenüberstehen. Aus den Bedingun
gen, die KREPS & WENGER für das Auftreten von kommunalen Konflikten angeben (vgl. 1973: 161), ist aber nicht ableitbar, ob der resultierende Kon
flikt unter Teilnahme von Initiativgruppen abläuft oder nicht25’26.
23 Darüber hinaus können unterschiedliche Indizes zu entgegengesetzten Werten führen: mit dem Index ,Zahl der Verkehrsverbindungen' hätte ein innerstäd
tisches Slumviertel hohe, ein suburbanes Wohngebiet geringe Zentralität.
24 Dieser Argumentation bedient sich YOUNG in der Diskussion eines seiner Beispiele (vgl. 1970: 304).
25 In einer Übersicht stellen KREPS & WENGER zusam
men, welche Teilnehmer (Individuen, Gruppen, Orga
nisationen) vermutlich an bestimmten Arten von Kon
flikten beteiligt sein werden, begründen dies aber nich (vgl. 1973: 164).
26 Ähnliche Schwierigkeiten stellen sich ein bei dem Ver-
3. Variablen der politischen und sozialen Makro
struktur
Die Kriterien für die folgende Auswahl einiger Aus
sagen der Spätkapitalismus-Theorie von OFFE et al.
orientieren sich am eingangs erwähnten Erkenntnis
interesse, die Darstellung ist daher bruchstückhaft und verkürzt um bestimmte Teile dieser Theorie.
3.1. Erster Ausgangspunkt ist die Disparitätsthese, die besagt, daß die in frühkapitalistischen Gesell
schaften vorherrschende vertikale Dimension sozia
ler Ungleichheit (Klassengegensatz) an Bedeutung verliert gegenüber einer alle Schichten und Klassen betreffenden ungleichgewichtigen Befriedigung von Bedürfnissen, die überwiegend oder ausschließlich durch Kollektivgüter abgedeckt werden (BERG
MANN, OFFE et al. 1969: 8lf)27. Die Disparitä
ten ergeben sich daraus, daß die politischen Ent
scheidungsträger jenen Bedürfnissen und Problem
bereichen, die die Funktionsfähigkeit des Systems
— insbesondere des ökonomischen — bedrohen, Priorität einräumen und darauf entsprechend mit finanziellen und anderen Ressourcen reagieren, während Problembereiche, die die Funktionsfähig
keit des Systems nur in geringem Maße belasten, entsprechend weniger aufwendig bearbeitet werden und daher hinter einem tatsächlich möglichen Stand der Bedürfnisbefriedigung Zurückbleiben (BERG
MANN, OFFE et al. 1969: 83f). Hat diese Diskre
panz in einem bestimmten Bereich die Deprivation und Frustration der betroffenen Bevölkerungsgrup
pen zur Folge, besteht die Chance, daß die kollek
tive Deprivation zum politischen Konflikt um
schlägt, wie z.B. in der Entstehung von Bürgeriniti
ativen28 .
such, mit dem Ansatz von GAMSON das Auftreten solidarischen Handelns zu erklären. Er unterscheidet zwischen konventionellen kommunalen Konflikten und Konflikten, von denen man annimmt, daß die Art und Weise, in der sie ausgetragen werden, die herkömmlichen Normen der Konfliktaustragung verletzt (1966: 71). Solidarisches Handeln von Ini
tiativgruppen ist aber nicht ohne weiteres mit der letzteren Form von kommunalem Konflikt gleich
zusetzen.
27 Diese These wird abgeleitet aus einer Theorie des Funktions- und Strukturwandels des politischen Systems in entwickelten kapitalistischen Gesellschaf
ten.
28 „Dabei verstehen wir unter ,Bürgerinitiativen' alle Aktionen, die sich auf eine Verbesserung der dis- paritären Bedürfnisbereiche richten. . .und die weder
3.2. Nimmt sich das politisch-administrative Sy
stem dann doch dieser vernachlässigten Problem
bereiche an, sieht OFFE im „Vordringen von Le
gitimationsforderungen im Infrastrukturbereich“
(1973: 202) ein weiteres Konfliktpotential. Er geht davon aus, daß der wirtschaftliche Wachs
tumsprozeß Folgeprobleme (z.B. Umweltschäden) und Engpässe (z.B. Wohungsknappheit) entstehen läßt, deren Beseitigung in spätkapitalistischen Ge
sellschaften Aufgabe des Staates ist. Die Aktivität des politisch-administrativen Systems in dieser Richtung beseitigt zwar die anstehenden Probleme mehr oder minder, hat aber die Eigenschaft, wie
derum neue Folgeprobleme nach sich zu ziehen (z.B. Versorgungsschwierigkeiten in neuerbauten Stadtrandvierteln) (1973: 203). Werden diese zu Konflikten aktualisiert, so wird die Legitimation des politisch-administrativen Handelns in Frage gestellt.
„Aus dieser Perspektive bedeutet Legitimation die Anstrengung einer planenden Verwaltung, die aus ih
rer Tätigkeit resultierenden Folgekonflikte abzuweh
ren oder zu beschwichtigen, um sich so die dissensfreie Vertrauensbasis zu verschaffen, die sie für Planungen gerade im Infrastrukturbereich (mit ihrem notorisch hohen ,Konsensbedarf) benötigt“ (OFFE 1973: 204).
3.3. Beide Ansätze liefern mehr eine Erklärung, wo
— hier im Infrastrukturbereich — Deprivationen auf- treten werden. Bedingungen, unter denen diese De
privationen zu solidarischem Handeln führen, werden nicht genannt, mit der Ausnahme, daß die professio
nalisierte Intelligenz am ehesten als fähig erachtet wird, Deprivationen in politische Aktionen umzu
setzen (BERGMANN, OFFE et al. 1969: 87).
Die Angemessenheit beider Ansätze beruht auch mit darauf, ob die grundlegenden Theoreme der gegen
seitigen Abhängigkeit von politischem und ökono
mischen System zutreffen. Davon abgesehen wäre die Behauptung, daß in spätkapitalistischen Gesell
schaften nur ein bestimmter (unzureichender) Stand der Bedürfnisbefriedigung möglich ist, erst empirisch zu überprüfen, und zwar unter Einbeziehung indi
vidueller Wahrnehmungs- und Bedürfnisstruktu- bloße Formen kollektiver Selbsthilfe sind noch sich darauf beschränken, den offiziösen Instanzenzug des politischen Systems zu mobilisieren; sie bringen viel
mehr Formen der Selbstorganisation der unmittel
bar Betroffenen hervor, die ebenso wie ihre Aktions
formen im System der politischen Institutionen nicht vorgesehen sind" (OFFE 1971: 159, Hervorhebun
gen im Original).
344 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 6, Heft 3, Juli 1977, S. 334-346 ren29. Zu überprüfen wäre auch die Annahme,
daß politisch-administratives Handeln im Infra
strukturbereich in der Regel Folgeprobleme er
zeugt, zu der die Disparitätsthese in gewissem Wi
derspruch steht, da sie gerade das Nicht-Handeln des politischen Systems als Konfliktursache sieht.
IV. Forschungsprobleme
1. Wie bereits konstatiert, unterscheiden die mit den aufgeführten Theorien verbundenen empirischen Untersuchungen sich bezüglich der Meßmethoden von Solidarität: ORBELL & UNO und LANTER- MANN erfassen mittels Fragebogen die Bereit
schaft zu solidarischem Handeln, während EISIN
GER das Auftreten desselben anhand von Zei
tungsartikeln fest stellt. Somit wird bei ersteren eine Einstellung ermittelt, von der angenommen wird, daß sie ausschlaggebend für die Realisierung solidarischen Handelns ist. Hier ist nicht der Ort, die Debatte über die Attitüden-Verhaltenskonsi- stenz neu aufzurollen, doch sind gerade wegen der Behauptung einer engen Beziehung zwischen ver
baler Äußerung und tatsächlichem Verhalten an dieser Stelle einige kritische Bemerungen ange
bracht. Für das Verhältnis von Einstellung und Verhalten ist nach EHRLICH zu berücksichtigen,
daß a) attitüdenkonsistentes Verhalten nur ausge
übt werden kann, wenn auch die Gelegenheit hierfür zur Verfügung steht (1969: 32), b) das Wissen, wel
ches Verhalten attitüdenkonsistent ist, und die Gele
genheit, es auszuüben, für sein Realisation nicht aus
reichen, wenn nicht gelernt wird, eigene Fähigkeiten und Ressourcen kompetent einzusetzen30, c) manche Attitüden, insbesondere radikal-politische, unter Um
ständen nur in verbales Verhalten umsetzbar sind (1969: 31).
Diese intervenierenden Variablen können so wirken, daß die Kausalkette von der Handlungsbereitschaft zur Handlung unterbrochen wird, umso mehr, wenn man annimmt, daß für die Durchführung politischer Protestaktionen persönliche Ressourcen und Fähig- 29 In anderem Zusammenhang fordert dies KRÜGER,
für den die Frage nach der Möglichkeit und Reich
weite von Sozialpolitik in kapitalistischen Gesell
schaften nur durch Rückbezug auf bedürfnistheore
tische Maßstäbe beantwortbar ist (1976: 160f).
30 ”An ostensibly inconsistent act may indicate only the actor’s deficient skill, his lack o f resources, or his inability to organize his resources for effective behavior“ (EHRLICH 1969: 32).
keiten eine große Rolle spielen (vgl. LIPSKY 1972) Hinzu kommt, daß Forscher und Befragte unter
schiedliche Auffassungen haben können, wie das je- weüige attitüdenkonsistente Verhalten auszusehen hat, z.B. wenn beide — um den Terminus von OR
BELL & UNO zu gebrauchen — unterschiedliche Kosten-Nutzen-Salden für die Verhaltenskonsequen zen ansetzen.
Es wäre also für jene Forschungsansätze, die auf die Solidaritätsbereitschaft abzielen, zu fordern, daß sie die Bedingungen der Situation, in der die Einstei lung geäußert wird, mitberücksichtigen31 *, d.h. sowo Mikro- als auch Makro-Variablen in ihrer Auswirkun auf die Kosten-Nutzen-Rechnung der Individuen be züglich eines bestimmten Verhaltens analysieren.
Dies wird nicht erreicht durch die Vorgabe fiktive!
Problemsituationen, wie es ORBELL & UNO (1972: 477) und LANTERMANN (1974: 140) in ihren Untersuchungen praktizieren, da nicht voraus zusetzen ist, daß diese Situationen auch für die Be fragten relevant sind, d.h. mit vorhandenen Pro
blemen im Wohngebiet übereinstimmen, und die beabsichtigte Verhaltensreaktion darauf aus den oben genannten Gründen nicht der hinsichtlich der tatsächlich relevanten Probleme entsprechen muß52.
Diese Schwierigkeiten erwachsen der nonreaktiven Ermittlung solidarischen Handelns EISINGERS nicht, doch ergibt sich der Nachteil, daß der Forscher auf eine selektive Berichterstattung an
gewiesen ist. Je nachdem, welche Variablen man erheben will, wird diese Methode mehr oder we
niger gut geeignet sein: Größe, Ziele und Pro
blemausrichtung von Initiativgruppen sind auf diese Weise einfacher zu ermitteln als Variablen auf der Individualebene, wie z.B. Schichtzugehö
rigkeit, soziale Integration, etc..
2. Eine weitere Möglichkeit wäre die direkte Er
fassung solidarischen Handelns durch den Unter-
31 Dies versucht GREENBERG, der zwar auch von Einstellungen ausgeht, aber gleichzeitig verschiedene Situationsvariablen (historische Entwicklung des Wohn Viertels, Art der Subkultur, Gruppenbewußtsein, po
litische Entfremdung) in die Diskussion miteinbezieht (1974: 4f, 124ff).
32 Wül man Informationen über das Aktionspotential der Bewohner eines Wohnviertels gewinnen - wie z.B. in der Gemeinwesenarbeit - , ist man allerdings zuerst auf Einstellungsfragen angewiesen.
suchenden selbst, also Feldforschung mittels teil
nehmender Beobachtung und/oder Interviews. Vor
aussetzung hierfür ist ein bestimmter Umfang an Vorinformationen, um gewisse Situationen danach einschätzen zu können, ob Solidarität in ihnen auftritt. Bei der Anwendung dieser Methoden stellt sich ein weiteres Forschungsproblem: das der Rol
le des Forschers im sozialen Feld. Die Schwierig
keit besteht darin, Zugang zu Mitgliedern von Ini
tiativgruppen oder deren Vorläufern zu finden. Daß die übliche Strategie des neutralen Befragers (mit Hinweis auf die wissenschaftliche Bedeutung der Untersuchung) bei politisch aktiven Gruppen immer anwendbar ist, ist zu bezweifeln, da gerade solche Gruppen Personen in ihrer Umgebung sehr schnell danach beurteilen, wie sie zu den Aktionszielen stehen, neutrale Positionen leicht der Gegenseite zurechnen (vgl. BERGER 1974: 47f) und so In
terviews oder das Teilnehmen des Forschers ver
weigern33 . Die Alternative zum Rückzug aus dem Feld — eine Parteinahme zugunsten der jeweiligen Initiativgruppe und intensivere Teilnahme des For
schers an den ihn interessierenden Prozessen — wirft jedoch nicht nur Probleme auf unter dem Gesichtspunkt einer veränderten Forschungsstrate
gie, die größere Risiken der Verletzung des Ob
jektivitätsanspruchs in sich birgt, sie hat vielmehr forschungsethische Konsequenzen, wenn man vor
aussetzt, daß der Forscher gegenüber der unter
suchten Population glaubwürdig bleiben will. Die Konsequenzen bestehen z.B. darin, daß er zumin
dest einen Teil der Ziele der jeweiligen Initiativ
gruppe (politisch) unterstützt und versuchen muß, zu antizipieren, welche Auswirkungen eine Publi
kation der Untersuchungsergebnisse auf die Gruppe haben könnte.
3. Diese Ausführungen lassen erkennen, daß kon
ventionelle Forschungsmethoden umso weniger adäquat sind, je weiter sich der Forscher in das Feld konfligierender sozialer und politischer Inte
ressen hineinbegibt. Man wird ihn nach seinen Zielen fragen und erst akzeptieren, wenn er neben 33 Für Untersuchungen über den Rassenkonflikt ver
deutlicht dies HORTON sehr drastisch: ”If conflict continues to increase between whites and Negroes in the United States, the liberal sociologist studying the ‘Negro problem' had better arm himself with more than his questionnaire. A militant Negro respondent may take him for the social problem, the sociologist as an agent of white society and the scientific purveyor of order theory and contain
ment policy“ (1966: 713).
einem theoretischen Interesse an den Entstehungs
bedingungen solidarischen Handelns gleichzeitig ein praktisches Interesse an den Lebensbedingun
gen der Population, die er untersuchen will, vor
weisen kann.
Eine so motivierte Forschung wäre nur noch als Handlungsforschung zu betreiben: ihr „Forschungs
ziel besteht nicht ausschließlich darin, soziologi
sche theoretische Aussagen zu überprüfen oder zu gewinnen, sondern darin, gleichzeitig praktisch verändernd in gesellschaftliche Zusammenhänge einzugreifen“ (KLÜVER & KRÜGER 1972: 76).
Ob damit jedoch auch das Dilemma umgangen werden kann, daß auch die prognosekräftigste Theorie über die Entstehung von Solidarität dazu verwendet werden kann, sie zu verhindern, sei da
hingestellt.
Literatur
BALL, R.A., 1968: A Poverty Case: The Analgesie Subculture of the Southern Appalachians, American Sociological Review 3 3 ,8 5 -8 9 5 .
BERGER, H., 1974: Untersuchungsmethode und soziale Wirklichkeit. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
BERGMANN, J., OFFE, C. et al., 1969: Herrschaft, Klassenverhältnis und Schichtung. In: Spätkapitalis
mus oder Industriegesellschaft? Verhandlungen des 16. Deutschen Soziologentages, hersg. von Th. W.
Adorno, Stuttgart: Enke.
BLUMER, H., 1973: Soziale Probleme als kollektives Verhalten. In: Theorien kollektiven Verhaltens, Band 2, hersg. von W.R. Heinz & P. Schober. Darm
stadt und Neuwied: Luchterhand.
BROWN, R., 1965: Social Psychology. New York und London: Free Press.
CHAMBOREDON, J.-Cl. & LEMAIRE, M., 1974: Räum
liche Nähe und soziale Distanz. In: Materialien zur Siedlungssoziologie, hersg. von P. Atteslander & B.
Hamm. Köln: Kiepenheuer & Witsch.
CLARK, D.B., 1973: The Concept of Community: A Re-Examination. Sociological Review 21, 397-416.
CRAMER, J.A., CHAMPION, D.J., 1975: Toward the Clarification of Solidarity. Pacific Sociological Review 18, 292—309.
DÜRKHEIM, E., 1964: The Division of Labor in So
ciety. New York und London: Free Press.
EBERT, Th., 1974: Bürgerinitiativen. In: Die Stadt in der Bundesrepublik Deutschland, hersg. von W.
Pehnt. Suttgart: Reclam jun..
EHRLICH, H.J., 1969: Attitudes, Behavior, and the Intervening Variables. American Sociologist 4, 29—34.
EISINGER, P.K., 1973: The Conditions of Protest Behavior in American Cities. American Political Science Review 67, 1 1 -28.
EMENLAUER, R., 1974: Zum Praxisbezug einer poli
tisch-ökonomischen Theorie kommunaler Konflikte.