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Solidarisches Handeln lokaler Initiativgruppen — Erklärungsansätze und Forschungs­probleme

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© F. Enke Verlag Stuttgart Zeitschrift für Soziologie, Jg. 6, Heft 3, Juli 1977, S. 334-346 Literaturbericht

Solidarisches Handeln lokaler Initiativgruppen — Erklärungsansätze und Forschungs­

probleme

Peteif Franz

DeutsWes Insitut für wissenschaftliche Pädagogik, Münster Solidary Action of Local Ad Hoc Protest Groups

Abstract: The topic of this essay is the phenomenon of solidarity, visible in the rising and the actions of protest groups in cities and neighborhoods. Only those groups will be looked at who are chiefly involved in problems of local significance. After the definition of the concept ’’solidary action“ we discuss approaches specifying conditions of its formation but differing in their choice of the independent variables. Finally some research problems are dealt with concerning a) the separation between solidarity as behavior, and solidarity as attitude, b) the researcher’s role in certain data collecting methods.

Inhalt: Gegenstand dieser Abhandlung sind Erscheinungsformen von Solidarität, wie sie in der Entstehung und den Aktionen von Bürgerinitiativen, Stadtteilgruppen etc. zu Tage treten. Es werden Gruppen betrachtet, die sich vorwiegend mit Problemen auf kommunaler Ebene beschäftigen. Nach der Definition des Begriffs „solida­

risches Handeln“ werden verschiedene Erklärungsansätze, die Bedingungen des Auftretens von Solidarität nen­

nen, miteinander verglichen und kritisiert. Abschließend stehen einige Forschungsprobleme zur Diskussion, die sich aus der Trennung von Verhaltens- und Einstellungssolidarität und aus der Rolle des Forschers bei der An­

wendung bestimmter Erhebungsmethoden ergeben.

I. Einleitung

Der in den Klassenauseinandersetzungen und ge­

werkschaftlichen Aktionen des 19. Jahrhunderts ge­

prägte Begriff der Solidarität wird an dieser Stelle aufgegriffen, um aktuelle kollektive Handlungsfor­

men in Bürgerinitiativen, Stadtteilgruppen etc. zu kennzeichnen1. Hierbei kann Solidarität angesehen werden a) als eine der Voraussetzungen der Ent­

stehung solcher Gruppen, b) als Folge ihrer Akti­

onen und c) als Merkmal der Beziehungen ihrer Mitglieder. Im weiteren Verlauf der Diskussion wird der unter a) genannte Aspekt im Mittelpunkt stehen.

Der Begriff Solidarität besitzt allerdings im sozial­

wissenschaftlichen Sprachgebrauch so viele Bedeu­

tungsdimensionen, daß es notwendig erscheint, den hier gemeinten Begriffsinhalt zu präzisieren (vgl. Abschn. II). Zu diesem Zweck begrenzen wir auch seinen Anwendungsbereich:

Als gemeinsames Merkmal der hier interessieren­

den Initiativgruppen wird ihre Beschäftigung mit Problemen angesehen, die räumlich lokalisierbar sind und auf kommunaler Ebene liegen.

1 Definitionen solcher Gruppen finden sich bei RODEN­

STEIN (1974: 4 4 0 und EBERT (1974: 108).

Mit dieser Eingrenzung wird impliziert, daß es sich um regional begrenzte, relativ kleine Gruppen han­

delt, im Gegensatz zu den ausgeklammerten (z.B.

Frauengruppen, Initiative gegen Berufsverbote), die überlokal orientiert sind und potentiell zu Massen­

bewegungen anwachsen können. Hier eine analytiscl exakte Trennlinie zwischen den Gruppen zu ziehen, fällt schwer, da gesamtgesellschaftliche Probleme sich auch im kommunalen Bereich auswirken und Aktionen von Initiativgruppen auf kommunaler Ebene hervorrufen können (vgl. ZÜRCHER &

CURTIS 1973: 176).

OFFE sieht die Eigenständigkeit der kommunalen Ebene als Ort der politisch-soziologischen Analyse immer wieder durch die Ähnlichkeit der relevan­

ten Probleme in den einzelnen Kommunen und ihre Abhängigkeit von zentralstaatlichen Entschei­

dungen in Frage gestellt (1975: 305f)2. Wir gehen davon aus, daß der Ort des Handelns der soeben eingegrenzten Initiativgruppen die Gemeinde ist, die Analyse aber, welche Variablen das Handeln

2 Autoren marxistischer Provenienz neigen auf ihrer Suche nach gesellschaftsverändernden Faktoren dazu.

Initiativgruppen ausschließlich auf ihr Potential zur Systemüberwindung zu überprüfen und kommen hier­

bei regelmäßig zu negativen Resultaten. Vgl. FASS­

BINDER 1971, EMENLAUER 1974 und EVERS 1975.

(2)

bestimmen, sich nicht von vornherein auf einen bestimmten Mikro- oder Makrobereich beschrän­

ken muß.

U. Definition

Zuerst ist zu überprüfen, welche der überaus zahl­

reichen Auffassungen von Solidarität dem gewähl­

ten Anwendungsbereich angemessen sein könnte.

1. Der in der Sozialpsychologie geläufige Solidari­

tätsbegriff bezieht sich auf die Art und Weise in­

terpersonaler Beziehungen (FEGER 1972: 1594).

Beziehungen können solidarisch sein aufgrund ge­

meinsamer Persönlichkeitsmerkmale, räumlicher Nähe, gemeinsamer Gefühle und Symbole (BROWN 1965: 72). Solidarität im sozialpsychologischen Sinn läßt sich beschreiben als Zusammengehörig­

keitsgefühl, das unter bestimmten Bedingungen zu kooperativem Verhalten führt. In der sozialpsy­

chologischen Kleingruppenforschung wird eine Vielzahl solcher Bedingungen genannt, wobei aber oft unklar ist, ob diese Indikatoren oder Ursachen für Solidarität sind (FEGER 1972: 1616)3.

LANTERMANN ist der Ansicht, ,,daß ein so eng umrissener Begriff nur bedingten Erklärungswert haben dürfte für das soziale Verhalten im gesell­

schaftlichen Teilbereich Wohnen, der ungleich kom­

plexer organisiert ist, und dessen Elemente sich nicht ohne weiteres isolieren lassen“ (1974: 29), begründet dies aber nicht weiter. Theorien über Solidarität und Kooperation, die mit dem sozial­

psychologischen Solidaritäts-Begriff arbeiten, las­

sen sich u.E. durchaus anwenden zur Erklärung, wie sich gruppenspezifische und persönlichkeits­

typische Faktoren auf die Beziehungen der Mit­

glieder bestehender Initiativgruppen auswirken (HEINZ & SCHOBER 1973: 12), doch liegen ge­

sellschaftliche Konflikte - als Voraussetzung der Entstehung solcher Gruppen — außerhalb ihres Blickfelds.

Bei soziologischen Untersuchungen von Wohnquar- 3 CRAMER & CHAMPION (1975) versuchen mit Hilfe

der faktorenanalytischen Methode die Begriffe »Ko­

häsion und »Solidarität1 von Kleingruppen exakter voneinander zu trennen.

4 So etwa bei BROWN: ’’Feelings of solidarity are ex­

tremely pleasant; they are one of the best things that life offers“ (1965: 82).

tieren wurde der sozialpsychologische Solidaritäts­

begriff angewandt von LEE, der von ’’consentan­

eity“ spricht (1968: 242), und von TAMNEY, der Solidarität durch den Ausdruck ’’involvement“ er­

setzt, da im erstgenannten Begriff eine positive Wertung enthalten sei (1975: 2)4. CLARK geht in seiner Definition der Gemeinde auch vom sozial­

psychologischen Solidaritätsbegriff aus (1973:

409). Allen drei angeführten Beispielen der Be­

griffsverwendung ist gemeinsam, daß größere so­

ziale Einheiten als die der Kleingruppe untersucht werden, und damit die Grenzen zum Terminus der sozialen Integration einer Gemeinde oder ei­

nes ihrer Teüe nicht mehr deutlich zu ziehen sind.

2. Hinter der soziologischen Auffassung von Soli­

darität steht der Anspruch, daß dieses Phänomen als ’’social fact“ mit Hilfe gesellschaftlicher Fak­

toren erklärbar sei5. Das heißt jedoch nicht, daß ein soziologischer Solidaritätsbegriff von vornher­

ein für die Verwendung in Theorien über die Ent­

stehung von Initiativgruppen besser geeignet ist:

„der soziologische Begriff der Solidarität (umfaßt, P.F.) so allgemeine gesellschaftliche Bewegungen, daß dessen Problematik. . .gerade in seiner weiten Fassung liegt“ (LANTERMANN 1974: 29f). Da­

mit ist wohl gemeint, daß sich soziologische Soli­

daritätsbegriffe oft auf die Gesellschaft als ganze beziehen und Meßgrößen enthalten, die auf Grup­

pen oder Teile der Gesellschaft nicht mehr anwend­

bar sind. Solche globalen Ansätze - wie z.B.

DURKHEIMs organische und mechanische Solida­

rität — werden im folgenden nicht weiter disku- 2.1. YOUNG setzt sich zum Ziel, das Auftreten von Solidarität mit Hilfe sozialstruktureller Fak­

toren zu erklären. An dieser Stelle interessiert zu­

nächst seine Definition von Solidarität.

5 DÜRKHEIM vertritt diesen Standpunkt gegenüber der Psychologie: Solidarität ’’is a social fact we can know only through the intermediary of social effects. . .(Die Psychologen, P.F.) have eliminated from the phenomenon all that is peculiarly social in order to retain only the psychological germ whence it developed. It is surely true that solidarity, while being a social fact of the first order, depends on the individual organism. In order to exist, it must be contained in our physical and psychic constitution.

One can thus rigorously limit oneself to studying this aspect. But, in that case, one sees only the most indistinct and least special aspect. It is not even solidarity properly speaking, but rather what makes it possible“ (1964: 67).

(3)

336 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 6, Heft 3, Juli 1977, S. 334-346 Er geht in seiner Theorie von der Existenz reakti­

ver Subsysteme (’’reactive subsystems“) aus, die in Opposition zur Politik des übergeordneten Sy­

stems stehen (1970: 297). In diesem Systeman­

satz6 ist die Betrachtungsebene beliebig wählbar, so daß sowohl das politische System eines Staates als auch das einer Gemeinde Ausgangspunkt der Analyse werden können. Reaktive Subsysteme zeichnen sich aus durch Solidarität, ’’defined as the degree to which the social symbols maintained by a group are organized to convey a focused de­

finition of the situation“ (YOUNG 1970: 298)7.

298)7.

Diese Definition soll laut YOUNG die Formulie­

rung von (zu überprüfenden) Hypothesen erleich­

tern (1970: 298), also die Operationalisierung des Komplexes Solidarität ermöglichen. Zur Messung von Solidarität wären folgende Schritte notwendig:

1. Feststellung der relevanten sozialen Symbole des untersuchten Subsystems,

2. Messung, inwieweit die Organisation dieser Sym­

bole — die Symbolstruktur — zu einer einheit­

lichen Definition der Situation durch die Mit­

glieder der des Subsystems führt.

Der erste Schritt beinhaltet die Frage nach den Zielen des Subsystems; im zweiten Schritt wird das Ausmaß an Solidarität bezüglich dieser Ziele bestimmt. Ob hierfür die Art und Weise der Sym­

bolstruktur oder die Einheitlichkeit der Situations­

definition durch die Mitglieder des Subsystems als Indikator zu nehmen ist, geht aus der Begriffsbe­

stimmung aber nicht hervor. Daneben bestehen Probleme der Meßbarkeit der Konstrukte ,Grad an Übereinstimmung der Symbolstruktur4 und D e­

finition der Situation4, die erst durch zusätzliche Operationonalisierungsschritte auf die empirische Ebene transferierbar wären.

YOUNG gelingt es, mit seiner Annahme reaktiver Subsysteme verschiedene Betrachungsebenen in 6 Der Systemansatz impliziert folgende Vereinfachungen:

a) Die Aktivität des Subsystems ist an der des überge­

ordneten Systems orientiert und nicht an anderen Sub­

systemen,

b) das übergeordnete System entsteht aus der Interak­

tion kleinerer Einheiten (YOUNG 1970: 297).

7 Die Beziehung von Subsystem zu Gruppe bleibt bei YOUNG unklar (vgl. 1970: 298).

seinen Ansatz zu integrieren, seine Definition des Solidaritätsbegriffs vernachlässigt jedoch den Handlungsaspekt und ist in der vorliegenden Form für empirische Untersuchungen nur anwendbar, wenn spezifischere Meßanweisungen hinzutreten.

2.2. Den Versuch, Solidarität unter Berücksichti­

gung des oben angedeuteten historischen Bezugs zu präzisieren, unternimmt v. REITZENSTEIN in einer Analyse der politischen Ziele westdeutscher Gewerkschaften nach 1945. Sie resümiert hierüber:

„Solidarität kommt in dreifacher Hinsicht vor:

Erstens ist sie ein soziales Handeln, das sich in einem bestimmten Bezugsrahmen vollzieht oder selbst ein Bezugssystem abgibt. Zweitens kommt sie, enger gefaßt, als Unmittelbarkeitsbeziehung zwischen den Solidarischen vor. Und drittens zeigt sie sich in der Gleichheitsforderung und uto­

pischen Erwartung als erhoffter Zustand der Gesell­

schaft“ (v.REITZENSTEIN 1961: 200).

Am ersten Gesichtspunkt des sozialen Handelns in­

teressiert, müssen wir auf den „Bezugsrahmen“ ge­

nauer eingehen. „Bezugsrahmen“ können wir als notwendige Zusatzinformation über den sozialen Kol text interpretieren, in den solidarischesL Handeln einzuordnen ist und in dem es verständlich wird.

v.REITZENSTEIN geht aus von „einer Vielzahl Solidarischer, die sich aus objektiven wirtschaft­

lichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten heraus in einer gleichen Lebens- und Mangellage befind­

lich erfährt“ (1961: 200). Während YOUNGs De­

finition das Ausmaß an Solidarität mit dem Grad an Übereinstimmung der Situationsdefinition in Beziehung setzt, also annimmt, daß das Be­

wußtsein einer bestimmten Lage erst die Voraus­

setzung für solidarisches Handeln schafft, geht dies aus der Prämisse von v.REITZENSTEIN nicht so klar hervor, da sie von vornherein von den „Soli­

darischen“ spricht. Eine Mangellage kann man durch den Vergleich mit einem Maßstab gesell­

schaftlicher Bedürfnisbefriedigung (z.B. Lebens­

standard) konstatieren, gemeint ist hiermit eine wahrgenommene Benachteiligung bezüglich der Kriterien des Maßstabs8. Erforderlich ist also die gemeinsame Situationsdefinition, benachteiligt zu sein, resultierend aus dem Vergleich mit den Le- 8 Wenn v.REITZENSTEIN von gemeinsamer Lebenslage

spricht, hat sie den Klassengegensatz kapitalistischer Gesellschaften im Auge, doch ist die umfassende Be­

deutung dieses Begriffs auf Initiativgruppen nur be­

grenzt anzuwenden, da sich deren Mitglieder oft aus verschiedenen Schichten rekrutieren.

(4)

benschancen und -bedingungen anderer sozialer Einheiten. Mit dieser Hypothese der relativen Be­

nachteiligung wird implizit eine Erklärung solida­

rischen Handelns geboten, die auf MARX zurück­

geht (vgl. GESCHWENDER 1973: 49f).

Das solidarische Handeln der Vielzahl richtet sich

„auf ein Gegenüber als einem sozialen Gegenpart4 . . . , demgegenüber sie sich durchzusetzen hat, um - in ihrem Interesse auf das gemeinsame Ziel ge­

richtet — die Mangellage zu beheben44 (v.REITZEN­

STEIN 1961: 200).

Auf die Ebene lokaler Initiativgruppen übertragen heißt dies, daß dem solidarischen Handeln die Situationsdefinition einer Vielzahl von Gemeinde­

mitgliedern zugrunde liegt, zumindest in einem Aspekt ihrer Lebens- und Versorgungsbedingungen benachteiligt zu sein. Solidarisches Handeln selbst ist somit ein kollektives Verhalten dieser Vielzahl von Gemeindemitgliedern, das auf die Aufhebung einer empfundenen Benachteiligung gerichtet ist9.

Auf kommunaler Ebene konkurrieren Initiativgrup­

pen in ihrer Situations- oder auch Problemdeflni- tion mit Auffassungen anderer Bürgergruppen, pri­

vaten Organisationen oder der kommunalen Verwal­

tung. Geht man davon aus, „daß soziale Probleme. ..

Produkte eines Prozesses der kollektiven Definition darstellen“ (BLUMER 1973: 149), und dieser De­

finitionsprozeß sich aus den Aktivitäten von Grup­

pen und institutionellen Reaktionen darauf zusam­

mensetzt — nämlich indem erstere Beschwerden äußern und Forderungen an Organisationen und Verwaltung stellen, und diese wiederum darauf reagieren (SPECTOR & KITSUSE 1973: 146, 158) - , so kann man in diesen den „sozialen Gegenpart“

der Initiativgruppen erblicken.

UI. Erklärungsansätze

Das Auftreten kollektiver Aktionen in Gestalt soli­

darischen Handelns von Initiativgruppen ist Gegen­

stand von Erklärungsversuchen der politischen Sozio­

logie. Die hier behandelten Ansätze beziehen sich auf kollektive Aktionen auf kommunaler Ebene, sie sind

9 Ähnlich definiert TURNER sozialen Protest, „worun­

ter wir den Protest verstehen, der auf ein echtes Ge­

fühl der Benachteiligung zurückgeht und dem es ernst ist im der Absicht, Aktionen zur Verbesserung der La­

ge hervorzurufen“ (1973: 169).

nach der Wahl ihrer unabhängigen Variablen geglie­

dert.

1. Variablen der Individual- und Wohnumwelt- ebene

1.1. ORBELL & UNO gehen davon aus, daß Be­

wohner eines Wohnviertels, die mit den dort gebo­

tenen Lebensbedingungen unzufrieden sind, im all­

gemeinen drei Wahlmöglichkeiten haben10 11 12:

— sich mit der Situation abfmden,

— Wegzug in ein anderes Wohnviertel oder eine andere Gemeinde,

— Bemühen um eine Änderung der Lebensbedin­

gungen am Ort (1972: 471; vgl. auch FRANZ 1976: 141). Die dritte Alternative kann aus in­

dividualistischen oder kollektiven Handlungen bestehen

Nun nehmen ORBELL & UNO an, daß Personen, die sich in der Entscheidungsituation befinden, Kosten und Nutzen der verschiedenen Alternati­

ven ab wägen und sich für jene entscheiden, die ihnen den größten Nutzen bei geringsten Kosten bietet (1972: 473). Die Einführung dieses ökono­

mischen Kalküls ermöglicht es, verschiedenste Fak­

toren unter dem Kosten-Nutzen-Aspekt und damit in ihrer Auswirkung auf das Entscheidungsverhal­

ten von Bewohnern bestimmter Wohnviertel zu analysieren. So läßt sich schließen, daß Angehöri­

gen der Unterschicht — Personen mit geringen fi­

nanziellen Ressourcen und relativ kurzer Ausbil­

dung — die Alternativen des Wegzugs und der po­

litischen Aktivität nicht in derselben Weise offen­

stehen wie Mitgliedern höherer Schichten, deren Einkommen den Zugang zu weit mehr Wohnge­

bieten öffnet11 und die für politische Partizipation von vornherein größere Ressourcen, z.B. organisato­

rische und Verbalisierungsfähigkeiten, einsetzen kön- 10 Sie stützen sich hierbei auf eine Arbeit von HIRSCH-

MAN, der Konsumentenreaktionen auf Leistungsver­

schlechterungen von Unternehmen und anderen Orga*

nisationen untersucht und folgende Reaktionsweisen postuliert: a) Abwanderung zu anderen Unternehmen, b) Widerspruch, c) Passivität (1974: 3f, 43).

11 In schichtenmäßig heterogenen Wohngebieten mit gleichen Wohnungen können so Angehörige unterer Schichten größere Wohnzufriedenheit äußern als die höherer Schichten, da für sie die Alternative des Weg­

zugs nicht in gleichem Maße realisierbar ist (vgl.

CHAMBOREDON & LEMAIRE 1974: 199f).

12 ’’the model implies that poor people are at a double

(5)

338 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 6, Heft 3, Juli 1977, S. 3 3 4 -3 4 6 Durch die Gegenüberstellung der drei Alternativen

wird es möglich, Theorien über horizontale Mobi­

lität und Theorien über politische Partizipation auf die gleiche Entscheidungssituation anzuwen­

den: „Studies of mobility usually see the only alternative to a move as accepting the present state of affairs in the current neighborhood, and studies of participation usually see the only alter­

native to action as apathy or resignation. . . but in neither of these — to our knowledge — is it recognized that these are alternatives, that a person might take political action instead of leaving, or vice versa“ (ORBELL & UNO 1972: 473, Hervorhebung im Original).

In der Mobilitätsforschung werden als mobilitäts­

beeinflussende Faktoren häufig die Menge der Probleme im gegenwärtig bewohnten Wohnvier­

tel und die Attraktivität anderer Wohnviertel ge­

nannt, mit ihnen wird z.B. der Wanderungsprozeß aus den (problemüberladenen) Stadtzentren in die (mehr an Familienbedürfnissen orientierten) Vor­

orte zu erklären versucht (ORBELL & UNO 1972:

474f). Die politische Partizipationsforschung unter­

sucht vorwiegend Wahlverhalten und Mitgliedschaft in politischen Organisationen in Abhängigkeit von Schicht, Geschlecht, sozialer Integration, Anomie, etc., begreift Partizipation aber nicht als proble­

morientierte Handlung: ’’That is the crux of our model: An individual’s participation is seen as response to a need he experiences in his environ­

ment (or at least the neighborhood part of it), and as directed toward some agency, usually govern­

ment, that has the power to do something about it“ (ORBELL & UNO 1972: 476).

In ihrer empirischen Untersuchung überprüfen ORBELL & UNO die Bedeutung einiger wichti­

ger Variablen dieser zwei Forschungsansätze für die Entscheidungssituation von Individuen, denen die genannten drei Alternativen zur Wahl stehen.

Sie messen die Bereitschaft von Großstadtbewoh­

nern in den USA, die Probleme in ihrem Wohn­

viertel wahrnehmen oder sich solche vorstellen, wegzuziehen und/oder politisch aktiv zu werden, und stellen fest:

disadvantage: they are handicapped in their abüity to use both exit and voice for solving their neighbor­

hood problems. In such cases passivity can be rational since a dispassionate assessment of the other alterna­

tives could suggest that action of any kind would be a waste of time, energy, and money“ (ORBELL &

UNO 1972: 474; vgl. auch LIPSKY 1972: 181).

1. In innerstädtischen Wohngebieten favorisieren Personen niedrigen Status’ (Indikator: Ausbü- dungsdauer) die Alternative Wegzug, Personen hohen Status’ sowohl Wegzug als auch poli­

tische Aktivität. In Stadtrandvierteln entschei­

den sich beide Gruppen überwiegend für politi­

sche Aktivität (1972: 480).

2. Mit zunehmender Wohndauer im gleichen Vier­

tel sinkt die Bereitschaft für politische Aktivi­

tät zugunsten von Wegzug (1972: 482).

3. Bei Personen mit Hausbesitz oder sozialer Inte­

gration im Wohnviertel wird die Entscheidungs­

bereitschaft nicht zugunsten politischer Aktivität beeinflußt (1972: 484).

Den Unterschied in der Nennung von Alternativen in innerstädtischen und Stadtrandgebieten (Ergeb­

nis 1) erklären ORBELL & UNO damit, daß in den beiden Wohngegenden jeweils andersgeartete Probleme vorherrschen: die innerstädtischen Prob­

leme werden dabei von den Autoren durch poli­

tische Aktivitäten schwerer lösbar interpretiert als die in den Vororten auftretenden, deren Lö­

sung mit geringeren Kosten verbunden zu sein scheint (1972: 488).

ORBELL & UNO messen die Bereitschaft zu einem bestimmten Handeln, nicht aber das Auf­

treten dieses Handelns selbst. Daraus ergeben sich Probleme, die in Abschn. IV aufgegriffen werden. Für die Ergebnisse hat dies zur Folge, daß bei gleicher Bereitschaft zu zwei Handlungs­

alternativen nicht angegeben werden kann, wel­

che der beiden tatsächlich ergriffen würde. Bei politischer Aktivität unterscheiden die Autoren nicht mehr zwischen individualistischer und kol­

lektiver Handlungsbereitschaft, so daß solidari­

sches Handeln nicht immer die Konsequenz die­

ser Altemativenwahl sein muß. Sie konzentrieren ihr Interesse auf die Handlungen politische Aktivi­

tät und Wegzug, die dritte Alternative wird als Residualgröße gesehen, unter die alle anderen Verhaltensweisen subsumiert werden, so z.B.

langanhaltende Apathie, vorübergehende politi­

sche Untätigkeit, aber auch aggressive Handlun­

gen gegenüber anderen Bewohnern, die durch Probleme im Wohnviertel ausgelöst werden kön­

nen (vgl. BALL 1968: 892; FRANZ J9 7 6 : 134).

Es wäre zu fragen, ob solche Verhaltensweisen nicht wieder Auswirkungen auf die Entscheidun­

gen der anderen Bewohner des Viertels haben.

(6)

Man muß auch sehen, daß die Alternative Weg­

zug nicht nur aus Gründen der Problemfülle des gegenwärtig bewohnten Viertels oder der Attrak­

tivität anderer Wohnquartiere gewählt wird, son­

dern oft auch wider Willen, z.B. als Folge beruf­

licher Mobilität oder bei der Einweisung in ein Obdachlosenlager.

Eine andere Problematik der Untersuchung liegt darin, daß zwar häufig verwendete Variablen aus der Mobilitäts- und Partizipationsforschung mit der individuellen Tendenz, bestimmte Alternati­

ven zu ergreifen, korreliert werden, die Interpre­

tation der so erhaltenen Werte bei ORBELL &

UNO aber immer wieder zeigt, daß damit noch lange nicht alle relevanten Faktoren der individu­

ellen Kosten-Nutzen-Rechnung in der Entschei­

dungssituation erfaßt sind. Je genauer man die Situation in einzelne Variablen differenziert, desto mehr ist man genötigt, Annahmen über den Kos­

ten- oder Nutzeffekt verschiedener Bedingungen zu treffen, die erst empirisch zu überprüfen wären.

Zu welcher Alternative neigen Bewohner attrak­

tiver Wohnungen in innnerstädtischen Wohnvier­

teln? Warum werden langjährige Bewohner eines von Sanierung bedrohten Viertels plötzlich poli­

tisch aktiv? Die Beantwortung dieser Fragen er­

fordert es, Situationsvariablen zu berücksichtigen , die in der Untersuchung von ORBELL & UNO nicht auftreten.

Ihre Leistung besteht darin, durch ihren Ansatz überraschende Verbindungen zwischen Mobilitäts­

und Partizipationsforschung hergestellt und neue Möglichkeiten zur Erklärung des Verhaltens von Gemeindemitgliedern bezüglich kommunaler Pro­

bleme geboten zu haben. In ihrer Untersuchung weisen sie nach, daß eine Reihe von Faktoren ei­

ne geringere Bedeutung für die Bereitschaft, poli­

tisch zu handeln, haben, als ihnen bisher zugemes­

sen wurde.

1.2. Eine Untersuchung für den westdeutschen Be­

reich stellt die von LANTERMANN dar, der Aus­

wirkungen psychischer, sozialer und physischer Faktoren der Wohnumwelt auf die Solidaritäts­

bereitschaft13 der Bewohner dreier städtischer

13 LANTERMANNs Auffassung von Solidarität ist nahe­

zu mit der des in diesem Aufsatz definierten solida­

rischen Handelns identisch. Die Bereitschaft hierzu bezieht sich auf:

Wohnquartieren überprüft. In seiner ersten Hypo­

these postuliert er, daß ,,Ausprägungsgrade der sozialen Balance und der Bereitschaft zum solida­

rischen Handeln von Bewohnern städtischer Wohn­

quartiere. .. in einer umgekehrten U-Beziehung zu einander (stehen, P.F.)“ (1974: 35). Unter so­

zialer Balance versteht LANTERMANN (1974:

32ff) einen psychologischen Tatbestand, der die Mitte auf einer Skala bezeichnet, mit welcher die individuelle Beurteilung des sozialen Kontakts im Wohnquartier gemessen wird. Die Meßskala reicht von fehlendem (soziale Deprivation) bis zu über­

mäßigem Kontakt (soziale Überlastung). Wenn

„das Individuum sich in einem Zustand der Aus­

geglichenheit hinsichtlich der Kontakt- und Kom­

munikationsmöglichkeiten befindet“ (LANTER­

MANN 1974: 32) — also in sozialer Balance — , soll die Solidaritätsbereitschaft groß, bei sozialer Deprivation und Überlastung jeweüs gering sein.

Der Begriff ,soziale Balance* ist eng verwandt mit dem der ,unvollständigen Integration* in der Stadt­

soziologie, der der sozialen Deprivation mit dem der Anomie (vgl. LANTERMANN 1974: 35).

Die erste Hypothese wird durch die Befragungsda­

ten bestätigt (LANTERMANN 1974: 101). Will man dieses Ergebnis mit dem Befund von ORBELL

& UNO vergleichen14 * 2 3 4, daß soziale Integration im Wohnviertel die Bereitschaft zu politischer Aktivi­

tät nicht beeinflußt, so ist zu klären, ob deren Auf­

fassung von sozialer Integration — gemessen mit der einzigen Frage ”Do most of your friends live around here, or do they live somewhere else? “ (1972: 483)

— mit der der sozialen Balance bei LANTERMANN korrespondiert, der den befragten Personen sieben THURSTONE-skalierte Statements vorlegt (vgl.

1974: 140). Es sind zwei Interpretationen möglich:

a) die Begriffe entsprechen sich, da die Existenz von Freunden im Wohnviertel ausgeglichene Kontakt­

„1. konkrete Forderungen zur Veränderung einzel­

ner oder mehrerer Aspekte der Wohnumwelt;

2. konkrete Angriffe von außen, die von den Be­

wohnern als eine Beeinträchtigung Aller aufge­

faßt werden;

3. Forderungen und Angriffe, die nur durch ge­

meinsames Handeln aller Betroffenen durchsetz­

bar bzw. abwehrbar sind,

4. Ziele und Forderungen, die nicht oder nur schwer auf dem normalen institutionalisierten Wege durchsetzbar sind“ (1974: 31).

14 Der Vergleich wird dadurch erschwert, daß ORBELL

& UNO sich auf Personen mit Problemperzeption be­

ziehen, LANTERMANN erhebt diese Variable nicht.

(7)

340 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 6, Heft 3, Juli 1977, S. 334-346 möglichkeiten bietet, folglich widersprechen sich

die Befunde, b) soziale Integration ist äquivalent zu sozialer Überlastung, da Freunde im Wohnvier­

tel vermehrt soziale Kontrolle ausüben, folglich wi­

dersprechen sich die Befunde nicht.

Seine zweite Hypothese gliedert LANTERMANN in a) „Das Zusammenwirken von sozialer Homoge­

nität, Aufgelockertheit des äußeren Erscheinungs­

bildes sowie eine zentrale Lage korrespondiert mit einer relativ hohen Solidaritäts-Bereitschaft“ (1974:

26), b) „Ein Zusammentreffen von sozialer Hetero­

genität, Monotonie des äußeren Erscheinungsbildes und Randlage korrespondiert mit einer relativ ge­

ringen Solidaritäts-Bereitschaft“ (1974: 36)15.

Überprüft wird die Hypothese an einer Stichpro­

be von männlichen Bewohnern dreier Wohngebie­

te, die sich hinsichtlich der unabhängigen Variab­

len unterscheiden16. Eine durchgerechnete Vari­

anzanalyse bestätigt Teü a), aber nicht Teü b) der Hypothese17. In eine anschließende Kausal­

analyse werden nebenher erhobene Variablen miteinbezogen, von denen vermutet wird, daß sie die Solidaritäts-Bereitschaft beeinflussen. Die­

se sind Zahl der Kinder, Wohndauer, Alter und gewerkschaftliche Aktivität. Alle Variablen zu­

sammen erklären 58 % der Gesamtvarianz der Solidaritäts-Bereitschaft; der Faktor .gewerkschaft­

liche Aktivität6 trägt etwa 10 %, die in der zwei­

ten Hypothese genannten drei Variablen jeweüs nur 5 % zur Erklärung bei (LANTERMANN

1974: 120). Ein Vergleich mit der Studie von ORBELL & UNO wäre nur bezüglich der Varia­

blen geographische Lage6 (innerstädtisches ver­

sus Stadtrand-Wohngebiet) möglich, diese wird 15 Er setzt die unabhängigen Variablen auch noch zum

Grad der sozialen Balance in Beziehung. Dieser Teil der Hypothese wird hier aber nicht diskutiert.

16 Wohngebiet I: sozial homogen, monoton, Randlage;

Wohngebiet II: sozial heterogen, monoton, Randlage;

Wohngebiet III: sozial homogen, aufgelockert, zen­

tral;

Die an zweiter und dritter Stelle genannten objekti­

ven Merkmale entsprechen auch der subjektiven Wahr­

nehmung der Befragten (LANTERMANN 1974: 95).

Im Resümee sieht er die Unterschiede in den Merk­

malsausprägungen als nicht ausreichend an (1974:

124f).

17 Die drei unabhängigen Variablen erklären 7,5 % der Gesamt-Varianz der Solidaritätswerte (signifikant auf dem 1 %-Niveau). Die Unterschiede zwischen Wohn­

gebieten I, II und Wohngebiet III sind signifikant, nicht jedoch die zwischen I und II (LANTERMANN 1974: 108).

aber von LANTERMANN nicht getrennt von So­

zialstruktur und Erscheinungsbüd untersucht18 *. Die Arbeit von LANTERMANN erhält einen ein­

geschränkten Erklärungswert dadurch, daß nicht Solidaritätsbereitschaft bezüglich bestimmter, im Wohngebiet wahrgenommener Probleme gemessen, sondern eine allgemeine vorhandene Disposition zu solidarischem Handeln postuliert wird, die mit be­

stimmten Wohnumwelt-Variablen kovariieren soll.

In den statements des Meßinstruments werden aber implizit Vermutungen über das Auftreten bestimm­

ter Probleme (z.B. fehlende Kinderspielplätze, Miet­

wucher) in Wohngebieten getroffen (vgl. hierzu auch unten Abschn. IV). An sich wird also nur die

Solidaritätsbereitschaft hinsichtlich der in den Statements angesprochenen Probleme erfragt. Ob diese jedoch auch für die Bewohner der untersuch­

ten Wohngebieten reale Probleme darstellen, wird nicht überprüft, d.h. der Faktor .Problemwahrneh­

mung6 in seiner Auswirkung auf die Solidaritäts- Bereitschaft nicht berücksichtigt.

Davon abgesehen ist sich LANTERMANN der Schwierigkeit der Aufgabe bewußt, die relevan­

ten Variablen, die die Solidaritätsbereitschaft be­

einflussen, aus dem Faktorenbündel,Wohnumwelt4 zu extrahieren. „Diese Problematik allerdings ist nicht nur für diese Arbeit typisch, sondern gilt für jede empirische Analyse von Teübereichen mensch­

lichen Verhaltens und Erlebens sowie deren innere Begründung. Es werden sich immer noch Ursachen anftihren lassen, die die .unabhängige Variable6 wiederum bedingen, ohne daß diese in die jeweili­

ge empirische Untersuchung miteingingen. Nur unter der Bedigung der Erfassung aller relevanten Ursachen einer Situation wäre dieses Problem lös­

bar, ein Vorgehen, das auf prinzipielle Schwierig­

keiten stoßen würde“ (LANTERMANN 1974:

123).

18 Erwähnenswert ist noch, daß beide Untersuchungen einen kurvilinearen Zusammenhang zwischen Wohn­

dauer und Solidaritäts-Bereitschaft ermitteln mit einem Maximum der abhängigen Variablen zwischen 2 - 4 (LANTERMANN 1974: 123) bzw. 3 - 6 Jahren (ORBELL & UNO 1972: 482). Bei letzteren güt der Zusammenhang allerdings nur für suburbane Wohngebiete.

(8)

2 Variablen der kommunalen politischen und so­

zialen Struktur•

2.1. Im Gegensatz zu LANTERMANN und ORBELL & UNO mißt EISINGER ausgeführte politische Aktivitäten, die Erwähnung in der Pres­

se gefunden haben. Er geht von der Frage aus, ob Äußerungen politischen Protests in amerikani­

schen Städten abhängen von Bedingungen der Struktur der politischen Einflußmöglichkeiten (’’opportunity structure“) ihrer Bewohner. Diese Opportunitätsstruktur ist eine Funktion des Aus­

maßes, in dem Gruppen in der Gemeinde Zugang zu Macht erringen und das kommunale politische System beeinflussen können (EISINGER 1973:

25). Er versteht politischen Protest als ”a host of types of collective manifestations, disruptive in nature, designed to provide ’relatively powerless people4 with bargaining leverage in the political process“ (1973: 13)19, gerichtet gegen Ziele und Maßnahmen kommunaler Verwaltung.

EISINGER sieht für die Erklärung zwei plausible Argumentationsweisen: a) Protest als Frustrations­

reaktion von Gruppen angesichts verschlossener politischer Einflußschancen, b) Protest als Folge einer kleinen Verbesserung der Einflußschancen, wenn die Erwartungen im Wandel sich erhöhen, dieser aber nicht schnell genug eintritt(1973: 14f).

Seine konkurrierenden Hypothesen — a) Protest herrscht in Gemeinden mit geringen Einflußchan­

cen der Bewohner vor, b) Protest herrscht in Ge­

meinden vor, die zugleich Anzeichen relativ gerin­

ger und relativ großer Einflußchancen aufwei­

sen — überprüft er an einem Sample von 43 Städ­

ten mit einer Einwohnerzahl zwischen 100 000 und 1 Million, wobei Hypothese b) bestätigt wird.

Die Anzahl der Proteste wird anhand von Artikeln in den entsprechenden Lokalzeitungen festgestellt (EISINGER 1973: 15). Als Indikatoren geringer Einflußchancen werden angesehen

a) die Existenz eines angestellten Stadtdirektors

19 Er versucht, kollektive Gewalttätigkeit (z.B. die US- amerikanischen Rassenunruhen) hiervon abzugrenzen, da er zu deren Erklärung andere Faktoren als relevant ansieht: Politischer Protest enthalte nur implizit Ge­

waltandrohung und sei vorwiegend auf kommunale Probleme beschränkt, kollektive Gewalttätigkeit ent­

stehe meist aufgrund gesamgesellschaftlicher Proble­

me (EISINGER 1973: 13f).

(manager), da dieser keinen Wählern verantwort­

lich ist,

b) Kommunalwahlen mit Kandidaten, die nicht par­

teigebunden sind (nonpartisanship), da so parteipoli­

tische Kontroversen über kommunale Probleme aus- bleiben,

c) ein Wahlmodus (at-large elections), durch den oft auf ein bestimmtes Wohngebiet beschränkte Minder­

heiten gegenüber größeren Gruppen in der Gemeinde benachteiligt werden (EISINGER 1973: 16f)20.

Größere Einflußchancen sollen durch die Existenz eines gewählten Bürgermeisters, von Kommunalwah­

len mit parteigebundenen Kandidaten und durch einen Wahlmodus (ward elections) gegeben sein, durch den lokale Minderheiten mehr Vertreter in den Gemeinderat entsenden können21 *.

EISINGER stellt eingangs die Behauptung auf, daß die verschiedenen Komponenten der Opportunitäts­

struktur einer Gemeinde einen Kontext büden, in dessen Rahmen sich die (kommunal-)politischen Ak­

tivitäten abspielen (1973: 11), also auch die Perso­

nen, die Protestverhalten zeigen, sich an diesem Kon­

text orientieren. In der Untersuchung werden die Strukturkomponenten anhand von Statistiken und Gemeindehandbüchern bestimmt, es wird aber nicht überprüft, ob dieser so ermittelte Kontext mit der Wahrnehmung der Gemeindemitglieder überein­

stimmt. Dies ist deshalb einzuwenden, da EISIN­

GER eine Hypothese aufstellt und bestätigt, die in enger Beziehung zu der Revolutionstheorie von DAVIES steht (vgl. EISINGER 1973: 15, Fußnote 24), von der GESCHWENDER zeigt, daß sie be­

stimmte Annahmen über die Wahrnehmung der po­

tentiell revolutionären Individuen beinhaltet, die dazu führen, „daß tatsächliche Bedingungen der Benachteiligung weniger wichtig sind, als die Ent­

wicklung einer bestimmten Vorstellung, relativ zu einem anderen möglichen Stand der Dinge unge­

20 Würde man versuchen, diese Hypothesen in der BRD zu testen, müßten andere Merkmale an die Stelle die­

ser Indikatoren treten (vgl. HEINER 1976: 130).

21 Neben diesen Merkmalen der formellen Opportuni­

tätsstruktur wird als Indikator ihres informellen As­

pekts der Grad der Machtkonzentration in der Ge­

meinde anhand des Verhältnisses von ’’white collar zu ’’blue collar”-Positionen ermittelt. Die Gültigkeit dieser Messung ist jedoch umstritten (vgl. EISIN­

GER 1973: 19).

(9)

342 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 6, Heft 3, Juli 1977, S. 334-346 rechterweise benachteiligt zu sein“ (1973: 47). So

kommt es, daß EISINGER zwar Vermutungen über die individuelle Perzeption der Einflußchan­

cen äußert (vgl. z.B. 1973: 22, 25), diese aber nicht empirisch belegen kann.

2.2 Der strukturelle Erklärungsversuch des Auftre­

tens von Solidarität22 bei YOUNG besteht aus der Hypothese: ” If subsystem is highly differentiated relative to its centrality in the system, it will develop solidarity. That is, the greater the differentiation- centrality ratio, the greater the solidarity“ (1970:

301). ’Differenzierung4, gemessen an Indizes der An­

zahl unterschiedlicher Institutionen oder am Aus­

bildungsniveau der Individuen in einem Subsystem, verwendet er äquivalent zur funktionalistischen Auf­

fassung des Begriffs, schwieriger ist dagegen der Be­

griff der relativen Zentralität eines Subsystems —

’’the degree to which the system ’recognizes4 the subsystem44 (YOUNG 1970: 300f) — zu fassen. Hier kämen auf verschiedenen Systemebenen unterschied­

liche Indikatoren in Betracht, z.B. das Ausmaß der politischen Repräsentation des Subsystems im Sy­

stem, die Anzahl der Verkehrsverbindungen oder der Umfang der Wirtschaftbeziehungen beider Systeme: entscheidend für hohe (geringe) Zentra­

lität ist eine relativ große (kleine) Anzahl von Kommunikationskanälen zwischen beiden Syste­

men (YOUNG 1970: 301).

An verschiedenen historischen sozialen Bewegun­

gen illustriert YOUNG die Erklärungskraft seiner Theorie, indem er jeweilige strukturelle Bedingun­

gen als relativ stark differenziert interpretiert und den jeweiligen Subsystemen geringe Zentralität be­

scheinigt (1970: 302ff). Zur Erklärung solidarischen Handelns lokaler Initiativgruppen wäre als System­

ebene die kommunale Ebene zu wählen, entspre­

chend der Hypothese müßten jene Subsysteme die größte Solidarität zeigen, die im Verhältnis zu ihrer Differenzierung relativ geringe Zentralität aufweisen.

Sind nun aber Bewohner von Obdachlosenunterkünf­

ten (Differenzierung mittels Ausbildungsniveau: ge­

ring; Zentralität mittels politischer Repräsenta­

tion: gering) oder Bewohner von Wohnquartieren der oberen Mittelschicht (Differenzierung: hoch;

Zentralität: hoch) potentiell solidarischer? Hier­

aus ergeben sich schon die Schwierigkeiten dieser Theorie, das Verhältnis beider unabhängiger Va­

riablen als Zahl bestimmen zu müssen, also den 22 YOUNGs Solidaritäts-Definition wird oben im Abschn.

II 2.1. diskutiert.

Einfluß jeder der beiden nach irgendwelchen Kri­

terien abzuschätzen23. Die Möglichkeit, daß auf eine bestimmte Relation von Differenzierung und Zentralität noch andere Reaktionen als Solidari­

tät (z.B. Isolation) erfolgen können, wird von YOUNG zwar angedeutet, aber nicht eingehender verfolgt (1970: 305).

Trotz der unterschiedlichen Nomenklatur der Theo­

rien von YOUNG und EISINGER kann man Paralle len der Begriffe ,Zentralität4 und ,Opportunitäts­

struktur4 erkennen, wenn man als Indikator für er- steren das Ausmaß der politischen Repräsentation wählt und zunehmende Differenzierung (mit dem Indikator Ausbildungsniveau) als kovariant dem Steigen des Erwartungsniveaus24 ansieht, das EISIN­

GER als Vorbedingung des Auftretens von Protest in seiner zweiten Hypothese angibt.

2.3. Diejenigen Theorien, die das Auftreten (intra- kommunaler Konflikte zum Erklärungsziel haben, können dann für unsere Fragestellung herangezogen werden, wenn ihre Konfliktdefinition das fragliche Explanandum enthält. Mit der Definition von KREP

& WENGER von Konflikt ”as a social process in which overt opposition occurs between two or more interacting units of social organization because of an event. . .that is related to the vested interests of these social units44 (1973: 160) kann man solidari­

sches Handeln als jene Teilklasse sozialer Prozesse auf kommunaler Ebene auffassen, in denen sich lok;

le Initiativgruppen und kommunale Verwaltung als

’’social units44 gegenüberstehen. Aus den Bedingun­

gen, die KREPS & WENGER für das Auftreten von kommunalen Konflikten angeben (vgl. 1973: 161), ist aber nicht ableitbar, ob der resultierende Kon­

flikt unter Teilnahme von Initiativgruppen abläuft oder nicht25’26.

23 Darüber hinaus können unterschiedliche Indizes zu entgegengesetzten Werten führen: mit dem Index ,Zahl der Verkehrsverbindungen' hätte ein innerstäd­

tisches Slumviertel hohe, ein suburbanes Wohngebiet geringe Zentralität.

24 Dieser Argumentation bedient sich YOUNG in der Diskussion eines seiner Beispiele (vgl. 1970: 304).

25 In einer Übersicht stellen KREPS & WENGER zusam­

men, welche Teilnehmer (Individuen, Gruppen, Orga­

nisationen) vermutlich an bestimmten Arten von Kon­

flikten beteiligt sein werden, begründen dies aber nich (vgl. 1973: 164).

26 Ähnliche Schwierigkeiten stellen sich ein bei dem Ver-

(10)

3. Variablen der politischen und sozialen Makro­

struktur

Die Kriterien für die folgende Auswahl einiger Aus­

sagen der Spätkapitalismus-Theorie von OFFE et al.

orientieren sich am eingangs erwähnten Erkenntnis­

interesse, die Darstellung ist daher bruchstückhaft und verkürzt um bestimmte Teile dieser Theorie.

3.1. Erster Ausgangspunkt ist die Disparitätsthese, die besagt, daß die in frühkapitalistischen Gesell­

schaften vorherrschende vertikale Dimension sozia­

ler Ungleichheit (Klassengegensatz) an Bedeutung verliert gegenüber einer alle Schichten und Klassen betreffenden ungleichgewichtigen Befriedigung von Bedürfnissen, die überwiegend oder ausschließlich durch Kollektivgüter abgedeckt werden (BERG­

MANN, OFFE et al. 1969: 8lf)27. Die Disparitä­

ten ergeben sich daraus, daß die politischen Ent­

scheidungsträger jenen Bedürfnissen und Problem­

bereichen, die die Funktionsfähigkeit des Systems

— insbesondere des ökonomischen — bedrohen, Priorität einräumen und darauf entsprechend mit finanziellen und anderen Ressourcen reagieren, während Problembereiche, die die Funktionsfähig­

keit des Systems nur in geringem Maße belasten, entsprechend weniger aufwendig bearbeitet werden und daher hinter einem tatsächlich möglichen Stand der Bedürfnisbefriedigung Zurückbleiben (BERG­

MANN, OFFE et al. 1969: 83f). Hat diese Diskre­

panz in einem bestimmten Bereich die Deprivation und Frustration der betroffenen Bevölkerungsgrup­

pen zur Folge, besteht die Chance, daß die kollek­

tive Deprivation zum politischen Konflikt um­

schlägt, wie z.B. in der Entstehung von Bürgeriniti­

ativen28 .

such, mit dem Ansatz von GAMSON das Auftreten solidarischen Handelns zu erklären. Er unterscheidet zwischen konventionellen kommunalen Konflikten und Konflikten, von denen man annimmt, daß die Art und Weise, in der sie ausgetragen werden, die herkömmlichen Normen der Konfliktaustragung verletzt (1966: 71). Solidarisches Handeln von Ini­

tiativgruppen ist aber nicht ohne weiteres mit der letzteren Form von kommunalem Konflikt gleich­

zusetzen.

27 Diese These wird abgeleitet aus einer Theorie des Funktions- und Strukturwandels des politischen Systems in entwickelten kapitalistischen Gesellschaf­

ten.

28 „Dabei verstehen wir unter ,Bürgerinitiativen' alle Aktionen, die sich auf eine Verbesserung der dis- paritären Bedürfnisbereiche richten. . .und die weder

3.2. Nimmt sich das politisch-administrative Sy­

stem dann doch dieser vernachlässigten Problem­

bereiche an, sieht OFFE im „Vordringen von Le­

gitimationsforderungen im Infrastrukturbereich“

(1973: 202) ein weiteres Konfliktpotential. Er geht davon aus, daß der wirtschaftliche Wachs­

tumsprozeß Folgeprobleme (z.B. Umweltschäden) und Engpässe (z.B. Wohungsknappheit) entstehen läßt, deren Beseitigung in spätkapitalistischen Ge­

sellschaften Aufgabe des Staates ist. Die Aktivität des politisch-administrativen Systems in dieser Richtung beseitigt zwar die anstehenden Probleme mehr oder minder, hat aber die Eigenschaft, wie­

derum neue Folgeprobleme nach sich zu ziehen (z.B. Versorgungsschwierigkeiten in neuerbauten Stadtrandvierteln) (1973: 203). Werden diese zu Konflikten aktualisiert, so wird die Legitimation des politisch-administrativen Handelns in Frage gestellt.

„Aus dieser Perspektive bedeutet Legitimation die Anstrengung einer planenden Verwaltung, die aus ih­

rer Tätigkeit resultierenden Folgekonflikte abzuweh­

ren oder zu beschwichtigen, um sich so die dissensfreie Vertrauensbasis zu verschaffen, die sie für Planungen gerade im Infrastrukturbereich (mit ihrem notorisch hohen ,Konsensbedarf) benötigt“ (OFFE 1973: 204).

3.3. Beide Ansätze liefern mehr eine Erklärung, wo

— hier im Infrastrukturbereich — Deprivationen auf- treten werden. Bedingungen, unter denen diese De­

privationen zu solidarischem Handeln führen, werden nicht genannt, mit der Ausnahme, daß die professio­

nalisierte Intelligenz am ehesten als fähig erachtet wird, Deprivationen in politische Aktionen umzu­

setzen (BERGMANN, OFFE et al. 1969: 87).

Die Angemessenheit beider Ansätze beruht auch mit darauf, ob die grundlegenden Theoreme der gegen­

seitigen Abhängigkeit von politischem und ökono­

mischen System zutreffen. Davon abgesehen wäre die Behauptung, daß in spätkapitalistischen Gesell­

schaften nur ein bestimmter (unzureichender) Stand der Bedürfnisbefriedigung möglich ist, erst empirisch zu überprüfen, und zwar unter Einbeziehung indi­

vidueller Wahrnehmungs- und Bedürfnisstruktu- bloße Formen kollektiver Selbsthilfe sind noch sich darauf beschränken, den offiziösen Instanzenzug des politischen Systems zu mobilisieren; sie bringen viel­

mehr Formen der Selbstorganisation der unmittel­

bar Betroffenen hervor, die ebenso wie ihre Aktions­

formen im System der politischen Institutionen nicht vorgesehen sind" (OFFE 1971: 159, Hervorhebun­

gen im Original).

(11)

344 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 6, Heft 3, Juli 1977, S. 334-346 ren29. Zu überprüfen wäre auch die Annahme,

daß politisch-administratives Handeln im Infra­

strukturbereich in der Regel Folgeprobleme er­

zeugt, zu der die Disparitätsthese in gewissem Wi­

derspruch steht, da sie gerade das Nicht-Handeln des politischen Systems als Konfliktursache sieht.

IV. Forschungsprobleme

1. Wie bereits konstatiert, unterscheiden die mit den aufgeführten Theorien verbundenen empirischen Untersuchungen sich bezüglich der Meßmethoden von Solidarität: ORBELL & UNO und LANTER- MANN erfassen mittels Fragebogen die Bereit­

schaft zu solidarischem Handeln, während EISIN­

GER das Auftreten desselben anhand von Zei­

tungsartikeln fest stellt. Somit wird bei ersteren eine Einstellung ermittelt, von der angenommen wird, daß sie ausschlaggebend für die Realisierung solidarischen Handelns ist. Hier ist nicht der Ort, die Debatte über die Attitüden-Verhaltenskonsi- stenz neu aufzurollen, doch sind gerade wegen der Behauptung einer engen Beziehung zwischen ver­

baler Äußerung und tatsächlichem Verhalten an dieser Stelle einige kritische Bemerungen ange­

bracht. Für das Verhältnis von Einstellung und Verhalten ist nach EHRLICH zu berücksichtigen,

daß a) attitüdenkonsistentes Verhalten nur ausge­

übt werden kann, wenn auch die Gelegenheit hierfür zur Verfügung steht (1969: 32), b) das Wissen, wel­

ches Verhalten attitüdenkonsistent ist, und die Gele­

genheit, es auszuüben, für sein Realisation nicht aus­

reichen, wenn nicht gelernt wird, eigene Fähigkeiten und Ressourcen kompetent einzusetzen30, c) manche Attitüden, insbesondere radikal-politische, unter Um­

ständen nur in verbales Verhalten umsetzbar sind (1969: 31).

Diese intervenierenden Variablen können so wirken, daß die Kausalkette von der Handlungsbereitschaft zur Handlung unterbrochen wird, umso mehr, wenn man annimmt, daß für die Durchführung politischer Protestaktionen persönliche Ressourcen und Fähig- 29 In anderem Zusammenhang fordert dies KRÜGER,

für den die Frage nach der Möglichkeit und Reich­

weite von Sozialpolitik in kapitalistischen Gesell­

schaften nur durch Rückbezug auf bedürfnistheore­

tische Maßstäbe beantwortbar ist (1976: 160f).

30 ”An ostensibly inconsistent act may indicate only the actor’s deficient skill, his lack o f resources, or his inability to organize his resources for effective behavior“ (EHRLICH 1969: 32).

keiten eine große Rolle spielen (vgl. LIPSKY 1972) Hinzu kommt, daß Forscher und Befragte unter­

schiedliche Auffassungen haben können, wie das je- weüige attitüdenkonsistente Verhalten auszusehen hat, z.B. wenn beide — um den Terminus von OR­

BELL & UNO zu gebrauchen — unterschiedliche Kosten-Nutzen-Salden für die Verhaltenskonsequen zen ansetzen.

Es wäre also für jene Forschungsansätze, die auf die Solidaritätsbereitschaft abzielen, zu fordern, daß sie die Bedingungen der Situation, in der die Einstei lung geäußert wird, mitberücksichtigen31 *, d.h. sowo Mikro- als auch Makro-Variablen in ihrer Auswirkun auf die Kosten-Nutzen-Rechnung der Individuen be züglich eines bestimmten Verhaltens analysieren.

Dies wird nicht erreicht durch die Vorgabe fiktive!

Problemsituationen, wie es ORBELL & UNO (1972: 477) und LANTERMANN (1974: 140) in ihren Untersuchungen praktizieren, da nicht voraus zusetzen ist, daß diese Situationen auch für die Be fragten relevant sind, d.h. mit vorhandenen Pro­

blemen im Wohngebiet übereinstimmen, und die beabsichtigte Verhaltensreaktion darauf aus den oben genannten Gründen nicht der hinsichtlich der tatsächlich relevanten Probleme entsprechen muß52.

Diese Schwierigkeiten erwachsen der nonreaktiven Ermittlung solidarischen Handelns EISINGERS nicht, doch ergibt sich der Nachteil, daß der Forscher auf eine selektive Berichterstattung an­

gewiesen ist. Je nachdem, welche Variablen man erheben will, wird diese Methode mehr oder we­

niger gut geeignet sein: Größe, Ziele und Pro­

blemausrichtung von Initiativgruppen sind auf diese Weise einfacher zu ermitteln als Variablen auf der Individualebene, wie z.B. Schichtzugehö­

rigkeit, soziale Integration, etc..

2. Eine weitere Möglichkeit wäre die direkte Er­

fassung solidarischen Handelns durch den Unter-

31 Dies versucht GREENBERG, der zwar auch von Einstellungen ausgeht, aber gleichzeitig verschiedene Situationsvariablen (historische Entwicklung des Wohn Viertels, Art der Subkultur, Gruppenbewußtsein, po­

litische Entfremdung) in die Diskussion miteinbezieht (1974: 4f, 124ff).

32 Wül man Informationen über das Aktionspotential der Bewohner eines Wohnviertels gewinnen - wie z.B. in der Gemeinwesenarbeit - , ist man allerdings zuerst auf Einstellungsfragen angewiesen.

(12)

suchenden selbst, also Feldforschung mittels teil­

nehmender Beobachtung und/oder Interviews. Vor­

aussetzung hierfür ist ein bestimmter Umfang an Vorinformationen, um gewisse Situationen danach einschätzen zu können, ob Solidarität in ihnen auftritt. Bei der Anwendung dieser Methoden stellt sich ein weiteres Forschungsproblem: das der Rol­

le des Forschers im sozialen Feld. Die Schwierig­

keit besteht darin, Zugang zu Mitgliedern von Ini­

tiativgruppen oder deren Vorläufern zu finden. Daß die übliche Strategie des neutralen Befragers (mit Hinweis auf die wissenschaftliche Bedeutung der Untersuchung) bei politisch aktiven Gruppen immer anwendbar ist, ist zu bezweifeln, da gerade solche Gruppen Personen in ihrer Umgebung sehr schnell danach beurteilen, wie sie zu den Aktionszielen stehen, neutrale Positionen leicht der Gegenseite zurechnen (vgl. BERGER 1974: 47f) und so In­

terviews oder das Teilnehmen des Forschers ver­

weigern33 . Die Alternative zum Rückzug aus dem Feld — eine Parteinahme zugunsten der jeweiligen Initiativgruppe und intensivere Teilnahme des For­

schers an den ihn interessierenden Prozessen — wirft jedoch nicht nur Probleme auf unter dem Gesichtspunkt einer veränderten Forschungsstrate­

gie, die größere Risiken der Verletzung des Ob­

jektivitätsanspruchs in sich birgt, sie hat vielmehr forschungsethische Konsequenzen, wenn man vor­

aussetzt, daß der Forscher gegenüber der unter­

suchten Population glaubwürdig bleiben will. Die Konsequenzen bestehen z.B. darin, daß er zumin­

dest einen Teil der Ziele der jeweiligen Initiativ­

gruppe (politisch) unterstützt und versuchen muß, zu antizipieren, welche Auswirkungen eine Publi­

kation der Untersuchungsergebnisse auf die Gruppe haben könnte.

3. Diese Ausführungen lassen erkennen, daß kon­

ventionelle Forschungsmethoden umso weniger adäquat sind, je weiter sich der Forscher in das Feld konfligierender sozialer und politischer Inte­

ressen hineinbegibt. Man wird ihn nach seinen Zielen fragen und erst akzeptieren, wenn er neben 33 Für Untersuchungen über den Rassenkonflikt ver­

deutlicht dies HORTON sehr drastisch: ”If conflict continues to increase between whites and Negroes in the United States, the liberal sociologist studying the ‘Negro problem' had better arm himself with more than his questionnaire. A militant Negro respondent may take him for the social problem, the sociologist as an agent of white society and the scientific purveyor of order theory and contain­

ment policy“ (1966: 713).

einem theoretischen Interesse an den Entstehungs­

bedingungen solidarischen Handelns gleichzeitig ein praktisches Interesse an den Lebensbedingun­

gen der Population, die er untersuchen will, vor­

weisen kann.

Eine so motivierte Forschung wäre nur noch als Handlungsforschung zu betreiben: ihr „Forschungs­

ziel besteht nicht ausschließlich darin, soziologi­

sche theoretische Aussagen zu überprüfen oder zu gewinnen, sondern darin, gleichzeitig praktisch verändernd in gesellschaftliche Zusammenhänge einzugreifen“ (KLÜVER & KRÜGER 1972: 76).

Ob damit jedoch auch das Dilemma umgangen werden kann, daß auch die prognosekräftigste Theorie über die Entstehung von Solidarität dazu verwendet werden kann, sie zu verhindern, sei da­

hingestellt.

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Referenzen

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