DIE INDISCHEN TEMPELLEGENDEN VON DER SICH MELKENDEN KUH
UND DEM BLUTENDEN LINGAM
von Gabriella Eichinger Ferro-Luzzi, Rom
Die beiden Legenden finden sich in großer Zahl auf dem ganzen indischen Sub¬
kontinent verstreut und erzählen gewöhnlich von der wundersamen Entdeckung
eines Lingams oder einer Götterstatue.
Auf den einfachsten Nenner gebracht, lautet die Milchlegende folgendermaßen:
Ein Hirte bemerkt, daß eine seiner Kühe keine Milch mehr gibt. Er beobachtet sie
von nun an genau und stellt fest, daß sie von sich aus ihre Milch an einer gewissen
Stelle ausströmen läßt. Man sieht nach und entdeckt einen Stein, der, auf Gmnd
des außergewöhnlichen Betragens der Kuh, als Lingam erkannt wird und dem man
somit einen Tempel errichtet.
Die einfachste Form der Blutlegende erzählt folgendes: Beim Pflügen, Graben,
Roden usw. dringt Blut aus der Erde, das, wie sich herausstellt, von einem verwun¬
deten Lingam herrührt. Wieder beeilt man sich, einen Tempel zu bauen.
Die besonders häufige Verbindung dieser Sthalapuräna mit Svayambhülinga-
tempeln (selbstentstandene Linga) legt den Schluß nahe, daß es sich ursprünglich um Z/Wg^alegenden handelte, die auch auf Tempel anderer Sivaitischer Götter sowie auf visnuitische Tempel und Dorfschreine ausgedehnt wurden. Ja es gjbt sogar ferne
Anklänge bei christlichen und mohammedanischen Kultbauten in Indien. Diese
vorläufige Mitteilung beabsichtigt u.a. zu untersuchen, wamm gerade diese beiden Erzählungen eine so starke Faszination auf die legendenbildende indische Phantasie ausgeübt haben.
Sowohl die Milch- wie auch die Blutlegende haben die primäre Aufgabe zu erklä¬
ren, wamm an einer gewissen Stelle ein Tempel erbaut wurde. Vermutlich waren es
diese Funktionsgleichheit sowie die Tatsache, daß beide Erzählungen zueinander in
stmkturellem und psychologischem Gegensatz stehen, die in einer Reihe von Fällen zu ihrer Verknüpfimg führten.
Die verschiedenen Versionen beider Legenden zeichnen sich durch außerordent¬
liche Uniformität aus, und die Varianten beschränken sich meistens darauf, die ein¬
zelnen Elemente der Erzählung durch andere, gleichwertige, zu ersetzen, ohne deren
Ablauf zu ändern. In den kombinierten Legenden sowie in Sthalapuräna von Nicht-
lingatempeln kommt es dagegen gelegenüich zu Inversionen.
Wenngleich das erste Anliegen der Legenden religiöser Natur ist, lassen sich aus
ihnen auch wirtschaftliche und soziale Verhältnisse ablesen. Während die Milch¬
legende eindeutig zum Leben der Viehzüchter gehört und sich vorwiegend auf der
Höhe des trockenen Dekkans findet, ist die Blutiegende psychologisch mit den
Ackerbauern und Sammlern verbunden, deren Pflug und Grabstock die Muttererde
verletzen und darüber hinaus Lebewesen zerstören.
XX. Deutscher Orientalistentag 1977 in Erlangen
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Die Legenden lieben es, Personen von gegensätzlichen Rängen auftreten zu las¬
sen, wie niedere oder unberührbare Kasten auf der einen Seite und Brahmanen und
Könige auf der anderen. Das Verdienst der Entdeckung der Gottheit jedoch gebührt fast in allen Fällen einer am unteren Ende der gesellschaftlichen Stufenleiter stehen¬
den Kaste, womit wohl anerkannt werden soU, daß diese in einer besonders innigen, weil älteren Beziehung zu den ün Tempel verehrten Göttern steht.
Die große Beliebtheit der beiden Erzählungen dürfte sich aus gewissen typisch indischen Vorstellungen erklären. Die Müchlegende betont die kulturelle Bedeutung der Müch in Indien als einem der 5 heiligen Produkte der Kuh und die Heüigkeit der Kuh selber. Außerdem ülustriert sie den Ritus des Abhiseka, des rituellen Bades der indischen Götter. Trotz seiner oberflächlichen Ähnlichkeit mit der antiken Sal¬
bung ist der Abhiseka bei genauerer Betrachtung ein speziell mit dem Lingam ver¬
bundenes Ritual. Sogar eine in der rituellen Praxis eingetretene gewisse Vermi¬
schung von Abhiseka und Naivedya (Speiseopfer) spiegelt sich in der Müchlegende
wider. Manchmal melkt sich die Kuh, um einen Abhiseka auszuführen, und manch¬
mal, um ein Speiseopfer darzubringen.
Auch in der BluÜegende findet sich ein ausgesproohen indisches Kulturelement.
Die der Verletzung der Gottheit innewdinende Grausamkeit entspricht gewissen
Charakterzügen Sivas und seiner Famüienmitglieder sowie der Dorfgöttinnen, und
tatsächhch bezieht sich die Blutlegende fast ünmer auf sie und fehlt fast völlig bei den sanfteren Göttern visnuitischer Prägung.
Das zentrale Gegensatzpaar von Müch und Blut, das die Hauptursache für die
Verknüpfung der beiden Legenden sein dürfte, hat dagegen ku^rspezifische und
universeUe Bedeutung. Es erfreut sich in Indien wahrscheirüich deshalb so großer Beliebtheit, weü es mindestens drei Dichotomien in sich schließt: die Reinheit der Müch ün Gegensatz zur Unreinheit des Blutes, die nährende und lebenserhaltende
Flüssigkeit Müch ün Gegensatz zum Blut als Ausdmck von Gewalt und Tod sowie
der farbliche Gegensatz von Weiß und Rot, dem die Legenden noch manchmal den
weiteren von Schwarz hinzufügen.
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DIE GOTTESVORSTELLUNG IM TIRUVASAGAM
von Albrecht Frenz, Ulm
1. GOTTES EXISTENZ
a) Sivas Gottheit
Siva ist der Eine', außer dem nichts ist; Er ist der Einzige, der Viele, der Erste, der Letzte, das Ende und die Mitte, der Einzige des Alls, der höchste Herr, der Erste
vor der Zeit und ohne Tod, der Uranfängliche und der Erste von Urbeginn. Er ist
der Ewige; Er ist Gott, Gott der Götter; Herr, Herr der Herren, Herr der Himmli¬
schen, Herr und Herrscher der Seele, der Höchste, König, König der Himmlischen und Seiner Stadt. Siva ist das Leben, das Licht, die Liebe, der glorreiche Pfad und
der wahre Weg, die QueUe, der Reine, der Retter, der Gnädige, der Seiende, der
Strahlende, die Summe der Welt und ihr Schöpfer, der Unvergleichliche, der Urhe¬
ber und der Urgmnd von allem, der Vollkommene, der Wahre, die Weisheit und der
Wirkliche, der jeden Ort erfüllt: „Ich allein bin" (3,146). Das Timvasagam arbeitet den Gottesbegriff scharf heraus, sowohl was die göttliche Seite - vor allem ist Siva der Schöpfer von allem - als auch, wie gleich zu zeigen ist, was die menschliche
Seite Gottes angeht. Damit bahnt sich bereits die durchstoßende Kraft an, mit der
Manikkavasagar die Nahtstelle Gottes mit dem Menschen herausstellt und sie ent¬
fädelt, ohne sie zu verletzen.
b) Sivas Menschsein
Siva zeichnet sich mit Asche, reitet auf dem BuUen, hält den Dreizack, trägt den
Halbmond, die Ganga, die Nadatrommel, die Axt, die Flamme, die Schlange, das
TigerfeU; Er besiegt das Böse, bildet mit Seiner Gefährtin eine Gestalt. Siva wech¬
selt Seine Gestalt und Form und hat doch keine; Er ist der Trickreiche; Er ißt das Gift; Er ist der Helfer, der Gütige, der Vater, der Barmherzige, der Floßgleiche, der
Mutterähnliche, der Ferne und der Nahe. Seine Füße tragen Blumen und Ringe zum
Schmuck und tanzen an jedem Ort.
Wie Siva mit Seinen göttlichen Attributen ganz auf der götüichen Seite steht, so
rückt Er mit Seinen anthropomorphen Zügen ganz auf die menschliche Seite. Damit
ist der Theologie Manikkavasagars die Möglichkeit gegeben, ans eigentliche Problem
heranzuführen: Wie verträgt sich Gottes Allmacht mit der Vergänglichkeit des Men¬
schen? Wie begegnet Gott dem Menschen, was erwartet Er vom Menschen, und wie
reagiert der Mensch auf Gottes Nahekommen, was bringt oder tut der Mensch, um
1 Dieser Arbeit liegt folgender Text zugrunde: Albrecht Frenz und P. Nagarajan,/)as Tiruva¬
sagam von Manikkavasagar, Karaikudi 1977; Belegstellen cf. Index, pp. 269sqq.
XX. Deutscher Orientalistentag 1977 in Erlangen'