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L e b e n s z e i c h e n

vertrauter Dinge Von Burkhard Reinartz 28.11.2021

Autor:

Wenn ich heute an meine Kindheit zurückdenke, sehe ich als erstes eine Single vor mir. Single war in den 60er Jahren nicht die Bezeichnung eines Menschen, der allein ohne feste Beziehung lebt und auf Plattformen wie Parship oder Tinder nach einer passenden Beziehung sucht.

Single nannte man in meiner Kindheit und Jugend eine kleine schwarze Vinyl-Schallplatte mit einem Durchmesser von 17,5 Zentimetern, die sich mit einer Geschwindigkeit von 45 Umdrehungen auf dem Teller eines Plattenspielers drehte. Meine erste große Liebe war eine Single.

Diese kleine Schallplatte hatte ich zufällig im elterlichen Musikschrank entdeckt. Wie jede Single hat- te sie eine Vorder- und Rückseite, auch A- und B-Seite genannt. Auf der B-Seite war Gounods Ave Maria, auf der A-Seite Händels „Ombra mai fu“. Ich war ein sieben Jahre altes, nicht besonders glückliches Kind und kann heute noch genau nachempfinden, was ich beim Hören dieser Platte emp- fand, besonders bei der Händelarie. Ein Gefühl, als würde mich die Klänge umarmen, ein Gefühl von Liebe. „Ombra mai fu“ habe ich damals hunderte Male gehört und ich höre sie heute noch gerne.

Sprecherin:

Täglich spuckt die globalisierte Produktionsmaschine neue Dinge aus. Gleichzeitig verschwinden - von der technischen Entwicklung oder von Modeströmungen überholt - unzählige Dinge: Zuletzt etwa Telefonzellen, Faxgeräte, Tropfkerzen, Filterkaffeemaschinen, Diaprojektoren und Kaugummiauto- maten. Der Blick zurück zeigt, wie rasant sich die Welt der Dinge verändert hat. Von der weißen Kreide auf der grünen Schultafel zum Lernprogramm auf dem Tablet, von technischen Geräten über Kleidungsstücke, Konsumgüter bis zu Wohn- und Stadtlandschaften.

Die deutsch-jüdische Philosophin Hannah Arendt betont, wie wichtig Dinge für das Selbstgefühl der Menschen sind. Sie schreibt:

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Zitator:

Die Dinge stabilisieren insofern menschliches Leben, als sie ihm eine Kontinuität verleihen, die sich daraus ergibt, dass der gleiche Stuhl und der gleiche Tisch den jeden Tag veränderten Menschen mit gleichbleibender Vertrautheit entgegen stehen.

O-Ton Vera King:

Was Arendt hier anspricht, wird oft unterschätzt, da es ganz selbstverständlich abläuft, ohne dass wir darüber nachdenken, also Dinge geben Orientierung und Halt, an ihnen haften Erin- nerungen ebenso wie Bilder der Zukunft. Dinge haben eine wichtige Funktion für die Identi- tätsbildung. Sie sind Bestandteil des Erfahrungsraums, in dem Menschen aufwachsen und sich entwickeln.

Sprecherin:

Vera King lehrt Sozialpsychologie und ist Direktorin des Frankfurter Sigmund-Freud-Instituts. Sie erforscht, wie sich der Wandel auf die Psyche der Menschen und die sozialen Beziehungen auswirkt.

O-Ton Vera King:

Dinge repräsentieren Festigkeit im fortwährenden Fluss der Veränderung.

Da Dinge nicht nur Teil der äußeren Welt sind, sondern auch die Erfahrung strukturieren, kann ihr Verschwinden einen Schmerz oder Traurigkeit oder Erschrecken auslösen. Wir leben in einer Welt mit temporeichen Veränderungen und auch der soziale Wandel selbst rotiert ja schneller. Insofern erneuern sich manche Technologien und damit verbundene

Gebrauchsgegenstände in immer kürzeren Abständen. Und wenn in kurzen Abständen viele Dinge auftauchen, deren Aussehen und Funktion, Bedeutung oder Wert, der ihnen verliehen wird, anders sind als noch kurz zuvor, dann erzeugt das vielfach auch einen gewissen Druck.

Autor:

Wer heute einen jungen Menschen fragen würde, ob er schon mal etwas von „Bandsalat“ gehört hät- te, würde vielleicht neben einem Schulterzucken die Antwort bekommen: „Eine gesunde vegane Vor- speise?“ Dass es sich beim Bandsalat um die Störung einer Kompaktkassette handelt, deren Mag- netbänder sich beim Ab-Vor- oder Zurückspulen aufs übelste ineinander verwickelt haben, kann nur jemand wissen, der wie ich in den 1980er Jahren leidenschaftlicher Musikhörer war.

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Klar nahm ich mit meinen Kassetten auch Platten auf, aber das beste war es, abends vor dem Radio zu hocken und im WDR Alan Bangs' "Nightflight" aufzunehmen oder auf BFBS die „John Peel- Session“. Die Ära der Kompaktkassette war die Stunde des Radios. Und die der mixed tapes:

Collagen aus unterschiedlichsten Musikstücken, die man aus dem Radio aufnahm. Von den Euryth- mics über die Cure bis zu David Bowie.

Sprecherin:

Die 27jährige Valerie hat die Endphase des Booms der Kompaktkassette noch miterlebt. Nicht Mu- sikkassetten, sondern mit Geschichten bespielte Kassetten waren ihr Ein und Alles. Besonders eine Kassette mit dem Sprecher Rufus Beck hatte es ihr angetan.

O-Ton Valerie:

Ich hatte als Kind ganz, ganz viele Kassetten mit einem Kassettenrekorder und habe sehr gerne Harry Potter gehört. Und irgendwann wurden dann aus den Kassetten CDs. Die CDs habe ich bis heute, obwohl weder an meinem Laptop noch an irgendeinem anderen Gerät ich irgendwie die Möglichkeit habe, diese CDs abzuspielen. Aber für mich sind sie superwichtig.

Auch bei meinem Umzug habe ich die immer mitgenommen. Ich benutze sie nicht, aber ich weiß, dass es sie gibt.

Sprecherin:

Was zeigt, wie wichtig vertraute Dinge für das Wohlgefühl der Menschen sind.

O-Ton Valerie:

Ich glaube, genau das erinnert mich an meine Kindheit oder an früher. Es ist schon wie so ein Stück Heimat, vielleicht auch so ein Stück Zuhause, was ich mitnehmen kann. Und während meiner Schulzeit war ich mal für drei Monate im Ausland und da war das für mich besonders die Stimme von Rufus Beck wie als wäre das alles so vertraut wie die Stimme meiner Mutter.

Sprecherin:

CD-Player, Mini-Disk, Walkman, MP3-Player. Inzwischen ist das Smartphone das universale Spei- cher- und Abspielgerät für Musik. Es integriert darüber hinaus eine Vielzahl weiterer technischer Funktionen wie Internetzugriff, E-Mail-Austausch, Fotografieren und das Streamen von Filmen. So ist das Smartphone in einem Zeitraum von gerade mal 17 Jahren zum neuen elektronischen Universal-

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ding geworden. Menschen haben zu ihren Smartphones eine seltsame Beziehung, meint der Wiener Kulturphilosoph Konrad Paul Liessmann:

O-Ton Konrad Paul Liessmann:

Wenn wir uns in ein Ding verlieben, verlieben wir uns nicht in einen konkreten Gegenstand, sondern in eine abstrakte Gattung, wir verlieben uns in die Idee IPhone. Den konkreten Ge- genstand tauschen wir jedes halbe Jahr aus. Wir haben ja nicht mehr wie in einer handwerk- lich geprägten Kultur lebenslange Beziehungen zu Dingen. Auf der einen Seite sind die Dinge für uns essentiell wichtig, sie sind omnipräsent und auf der anderen Seite gibt es nichts flüch- tigeres als Dinge.

Sprecherin:

Konrad Paul Liessmann forscht über die Beziehung von Menschen und Dingen.

Und stellt fest, dass sich diese Beziehung immer stärker verändert: vom Besitz der alten Dinge zum Zugriff auf die neuen elektronischen Dinge. Zugriff, Zugang, Access sind die Schlüsselbegriffe des digitalen Zeitalters. Früher gehörten Dinge wie Videokassetten oder CDs den Menschen. Heute abonniert man bei Spotify oder Netflix den vorübergehenden Zugang zu Musik und Filmen. Der Kul- turphilosoph Byung-Chul Han bringt die Folgen dieses Wandels so auf den Punkt:

Zitator:

Intimität und Innerlichkeit zeichnen den Besitz aus. Konsumartikel landen heute schnell auf dem Müll, weil wir sie nicht mehr besitzen. Die wichtigen realen Dinge in meinem Leben sind ein Behälter von Gefühlen und Erinnerungen. Die Geschichte, die den Dingen durch einen langen Gebrauch zu- wächst, beseelt sie zu Herzensdingen. Die modernen Konsumgüter sind indiskret, aufdringlich, ge- schwätzig. Vom eigenen Leben geht kaum etwas in sie ein.

O-Ton Konrad Paul Liessmann:

Man muss aber auch sagen, dass moderne Technologien diese emotionale Bindung an einen konkreten einzelnen Gegenstand wirklich schwer machen. Ich kann mich noch erinnern, ich kann eine emotionale Beziehung zu einer klassischen analogen Schallplatte in einer wunder- schönen Hülle entwickeln. Es ist schon wesentlich schwieriger, eine solche Beziehung zu ei- ner CD zu entwickeln und es ist unmöglich, eine Beziehung zu einem MP3-file zu entwickeln.

Ich kann zu einer Datei, die nur aus Nullen und Einsen besteht keine emotionale Beziehung entwickeln, obwohl diese Datei haargenau dieselbe Musik enthält, die auf der Schall

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platte gespeichert ist Wir haben es interessanterweise im Prozess der Digitalisierung auch mit einer Entdinglichung der Dinge zu tun.

Sprecherin:

Inzwischen hat sich auch Valerie von der CD als materiellem Träger ihrer Lieblingsmusik bezie- hungsweise Lieblingsliteratur verabschiedet.

O-Ton Valerie:

Heute benutze ich dann Spotify zum Beispiel oder auch YouTube oder Netflix, so Streaming Anbieter eben. Okay, dann benutzt man jetzt das. Und es ist ja auch definitiv praktischer, wenn man jetzt die Audiodatei einfach nur digital hat.

Sprecherin:

Eine problematische Seite der Digitalisierung sieht die junge Frau allerdings schon. Der Wandel von der analogen Welt der alten Dinge zu den neuen elektronischen Dingen ginge auch mit gewissen Verlusten einher.

O-Ton Valerie:

Dadurch, dass es Spotify gibt und man Musik so schnell abrufen kann, ist es ja nichts mehr besonderes, dass man jetzt eine Woche wartet, bis man ein Hörspiel hört, einen Monat war- tet, bis endlich die neue CD rauskommt .In der Hinsicht würde ich sagen, hat sich das auf je- den Fall geändert, dass man einfach viel schneller Zugriff hat auf die Dinge und es auch viel selbstverständlicher wahrnimmt und auch gar nicht mehr in der Hinsicht diesen Wert fest- macht.

O-Ton Ingrid:

Ja, das ist wahr, dass ich ja noch an vielen Dingen hänge. Zum Beispiel noch meine Schall- platten habe, meine CDs habe, also viele Fotos, ich ja vieles noch zu Hause habe und natür- lich auch ein paar Sachen aus der neuen Welt wie Smartphone oder so nutze. Ich glaube, ich habe noch eher mit Leuten zu tun, die noch ein bisschen mehr an den alten Dingen hängen.

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Sprecherin:

Ingrid gehört zur Generation Sechzig plus und erlebt den Übergang von der analogen zur digitalen Welt problematischer als Valerie. Sie schreibt gerne mit der Hand und betont, dass es einen enor- men Unterschied macht, ob sie sich Fotos auf dem Bildschirm anschaut oder ihre analogen Fotoal- ben durchblättert.

O-Ton Ingrid:

Also die Fotos, da habe ich zum Beispiel keine Lust, hier die im PC zu haben. Aber ich gucke mir sehr oft meine Alben an.

Ich denke schon, dass man mit Fotos auf jeden Fall mehr Emotionen und Erinnerungen ver- bindet, als wenn man das im Computer einfach so durch geht.

Autor:

Jahrzehntelang hatte ich eine analoge Spiegelreflex-Kamera. Für meine erste Mexikoreise Ende der 1970er Jahre nahm ich aus Kostengründen nur drei Dia Filme mit. Drei Filme gleich 106 Fotos. Klingt heute doch grotesk angesichts grenzenloser digitaler Möglichkeiten – oder? Und doch habe ich mit dieser Begrenzung auch etwas dazu gewonnen. Kostbare Augenblicke extremer Wachheit und Kon- zentration mit der ganz bewussten Entscheidung: Drücke ich jetzt auf den Auslöser oder lieber doch nicht?

Später das Ritual des sorgfältigen Rückspulens des Films. Das Warten auf die Entwicklung im heimi- schen Fotolabor. Und dann – endlich – die Projektion der Dias auf die weiße Rauhfaserwand der Wohngemeinschaftsküche.

Solche Erfahrungen kann mir mein Smartphone heute nicht so einfach bieten.

Klar kannst du auch mit digitaler Technik toll fotografieren. Aber es erfordert enorme Bewusstheit und Disziplin, sich nicht in den grenzenlosen Möglichkeiten der digitalen Fotografie zu verlieren. Und so in Beliebigkeit zu enden.

Zitator:

Einst lebten wir auf dem Land, dann in Städten und von jetzt ab im Netz Mark Zuckerberg, Facebook-Gründer

Sprecherin:

Bereits Mitte der 1990er Jahre bemerkte der Medienphilosoph Vilém Flusser:

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Zitator:

Undinge dringen gegenwärtig von allen Seiten in unsere Umwelt und sie verdrängen die Dinge. Man nennt diese Undinge Informationen.

Sprecherin:

Der koreanische Kulturphilosoph Byung-Chul-Han führt diese Gedanken im Jahr 2021weiter:

Zitator:

Nicht Dinge, sondern Informationen bestimmen heute die Lebenswelt. Wir bewohnen nicht mehr Er- de und Himmel, sondern Google Earth und die Cloud. Die Welt wird zunehmend unfassbarer und gespenstischer. Nichts ist hand- und dingfest.

Dinge sind Ruhepole des Lebens. Sie sind heute von Informationen überlagert. Informationen sind alles andere als Ruhepole des Lebens. Es ist nicht möglich bei Informationen zu verweilen. Sie ha- ben eine sehr schmale Aktualitätsspanne. Sie leben vom Reiz der Überraschung. Schon aufgrund ihrer Flüchtigkeit destabilisieren sie das Leben. Der Tsunami der Information versetzt das kognitive System selbst in Unruhe.

O-Ton Lutz Jäncke:

Das heißt, unser Gehirn wird bombardiert mit vielen Informationen, die wir gar nicht mehr ent- sprechend wählen können. Wir switchen hin und her und haben nicht mehr genügend Zeit oder nehmen uns nicht mehr genügend Zeit, in die Tiefe zu gehen. Und demzufolge müssen wir uns anpassen, mit unserem Gehirn Fähigkeiten zu entwickeln, aus dieser Masse der In- formation jenes zu wählen, was für uns relevant ist und das Irrelevante zu hemmen und zu unterdrücken.

Sprecherin:

Der Neurowissenschaftler Lutz Jäncke erforscht an der Universität Zürich Risiken und Chancen der digitalen Welt .

O-Ton Lutz Jäncke:

Alles, was wir durchdringen wollen - gedanklich beispielsweise - oder wenn wir mit Menschen in Kontakt treten wollen, Beziehung aufbauen wollen oder wenn wir etwas lernen wollen, alles das braucht Zeit. Und das ist eben der Neurophysiologie des Gehirns geschuldet.

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Denn Sie brauchen einfach, um etwas Neues zu erwerben, tiefer in ihrem Gehirn einzupflan- zen oder Bindungen mit anderen Menschen aufzubauen, einfach deswegen Zeit, damit Ihr Gehirn sich anpasst.

Sprecherin:

Ähnlich wie Lutz Jäncke warnt auch die Sozialpsychologin Vera King vor den Folgen der Informa- tionsflut.

O-Ton Vera King:

Reizüberflutung bedeutet, dass es zu viel Neues gibt, das auf die Menschen einströmt und bezogen auf die zahllosen digitalen Angebote, dass man scheinbar dauernd unendliche Opti- onen vor sich hat, die auch immer den Eindruck erzeugen, dass man eigentlich, wenn man sich für eine Sache entschieden hat, doch noch nicht lange genug gesucht haben könnte, weil es ja im Grunde noch ganz viele mögliche bessere Optionen gibt. Das verdeutlicht, dass in dem Moment, wo der Eindruck entsteht, man kann aus einem riesigen Spektrum von Dingen oder Möglichkeiten auswählen, das Gefühl dafür „Worauf kommt es mir jetzt an“ oder „Was ist eigentlich das Entscheidende?“ eher verloren geht.

Sprecherin:

Für die 24jährige Jolana sind die neuen digitalen Medien selbstverständlicher Teil des Alltags. Doch auch ihr entgehen die Schattenseiten der unbegrenzten Möglichkeiten nicht.

O-Ton Jolana:

Ich merke bei mir auch, dass es schon extremes Suchtpotenzial hat, besonders je mehr Apps ich drauf habe und je mehr ich synchronisiere. Dann habe ich WhatsApp und Telegram, dann habe ich noch zwei bis drei Apps die ich interessant finde, Instagram, und dann hat man ja schon so viel Auswahl, man kann ja immer irgendwo dann wieder reingehen in irgendein Format auf dem Handy. Dass man sich über diese Schattenseiten, die es haben kann, auch für die eigene Entwicklung oder auch für die eigene Aufmerksamkeits- und Konzentrations- spannen, die dann nicht mehr so entstehen können, wenn man immer wieder abgelenkt aufs Handy schaut, dass da Bewusstwerdung noch mehr kommen müsste, ja, finde ich schon.

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Sprecherin:

Der Kulturphilosoph Byung-Chul Han kritisiert die Macht der Smartphones.

Zitator:

Die Dinge spähen uns nicht aus. Deshalb haben wir Vertrauen zu ihnen. Das Smartphone hingegen ist ein sehr effizienter Informant, der seinen Benutzer permanent überwacht. Nicht wir benutzen das Smartphone, sondern das Smartphone benutzt uns, hinter dessen Oberfläche uns unterschiedliche Akteure lenken und ablenken.

Sprecherin:

Der Neurowissenschaftler Lutz Jäncke möchte den einzelnen Menschen auf keinen Fall aus der Ver- antwortung nehmen. Der Mensch dürfe sich den digitalen Angeboten nicht unterwerfen.

O-Ton Lutz Jäncke:

Die Reize und die Informationen sind ein Teil des Problems. Meines Erachtens sind wiederum wir das Problem, an dem wir ansetzen sollten. Wir müssen Fähigkeiten entwickeln, damit wir die Zeit gewinnen, um uns mit dem Wesentlichen zu beschäftigen.

Autor:

Fast alle meine Freunde surfen begeistert auf der digitalen Welle. Sie können sich eine Welt ohne IPads und Internet genau so wenig vorstellen wie eine Welt ohne fließendes Wasser und Strom.

Morgens der erste Griff zum Handy, beim Frühstück Facebook und Twitter durchklicken, in der U- Bahn die News checken, abends Onlinebanking, Filme streamen, googlen oder bei Amazon einkau- fen.

Ich weiß, Menschen treffen auch weiterhin ganz analog Freunde und gehen am Wochenende wan- dern. Die analoge Welt wird schon nicht untergehen, aber vielleicht irgendwann zur Nische werden.

Ich schätze die Vorteile der digitalen Welt, nutze sie manchmal mehr als mir lieb ist. Und fühle mich gleichzeitig als Verteidiger des Analogen, freue mich, wenn Leute in der U-Bahn ein Buch oder eine Zeitung lesen.

Ich liebe es, auf einer langen ICE-Fahrt aus dem Fenster zu schauen, Landschaften, Städte und die Farbschattierungen der Wolken vorbei gleiten zu sehen.

Offline sein. Abends für eine lange Weile nur da sitzen, nichts tun, schlicht und einfach da sein und die Welt und mich für eine Weile vergessen.

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Sprecherin:

Byung-Chul Han schreibt über den Segen der gedehnten Zeit in seinem Buch „Undinge – Umbrüche der Lebenswelt“:

Zitator:

Vertrauen, Versprechen und Verantwortung sind zeitintensive Praktiken. Alles, was menschliches Leben stabilisiert, ist zeitintensiv. Treue, Bindung, Verbindlichkeit sind ebenfalls zeitintensive Prakti- ken. Die Wahrnehmung, die sich an Informationen haftet, hat keinen langen und langsamen Blick.

Das kontemplative Verweilen bei den Dingen, das absichtslose Sehen, das eine Formel des Glücks wäre, weicht dem Jagen nach Information. Wir rennen Informationen nach ohne Wissen zu erlangen.

Wir nehmen Kenntnis von allem ohne zu einer Erkenntnis zu gelangen. Wir fahren überall hin, ohne eine Erfahrung zu machen. Wir kommunizieren ununterbrochen ohne an einer Gemeinschaft teilzu- nehmen. Wir akkumulieren Friends und Followers ohne einem anderen zu begegnen.

Autor:

Diese Ansichten sind sicher extrem zugespitzt und einseitig, aber sie dürfen auf keinen Fall unter den Tisch fallen. Der Kulturphilosoph legt mit Recht den Finger in die offene Wunde! Wer heute dem Rausch der digitalen Euphorie widerspricht, wird oft vorschnell als rückwärtsgewandter Kulturpessi- mist abgewertet.

O-Ton Lutz Jäncke:

Die Menschen werden zu Bildern oder Filmschnipseln. Das soll nicht bedeuten, dass ich der Meinung bin, dass diese modernen Geräte grundsätzlich schlecht sind, aber sie verleiten uns aus Bequemlichkeitsgründen dazu, kulturelle Eigenschaften einerseits zu verlieren, aber sie verleiten uns vor allen Dingen auch dazu, tiefe biologische Grundbedürfnisse nicht mehr an- gemessen zu befriedigen. Ich bin der festen Überzeugung, dass uns die Natur ausgestattet hat mit einem Bedürfnis, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, Bindungen aufzubauen und sagen wir mal auch nonverbale Reize miteinander auszutauschen.

Sprecherin:

Der Neurophysiologe Lutz Jäncke zeigt in seinem Buch „Von der Steinzeit ins Internet“, dass sich die menschliche Kommunikation in den letzten 70 bis 100.000 Jahren nur langsam entwickelt hat. Der

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Mensch zog in kleinen Gruppen über die Welt und musste in diesen Gruppen lernen, mit seinen Art- genossen zu kommunizieren.

O-Ton Lutz Jäncke:

Und in diesem Zusammenhang hat der Mensch eben Fähigkeiten entwickelt, über Gesichts- kontakt, die Gestik und Mimik und dergleichen Beziehungen aufzubauen. Und daraus ent- steht dann eben eine Fähigkeit, die wir perfekt beherrschen, dass wir im Gespräch mit ande- ren Menschen aus der Gestik, aus der Mimik und aus vielen anderen Signalen erschließen können, was der andere Mensch denkt und wie er sich vermutlich fühlt. Und dieses komplexe Interaktionsgeschehen wird gewissermaßen verstümmelt, wenn Sie beispielsweise WhatsApp austauschen, E-Mails austauschen und dergleichen. Sie sehen ja Ihr Gegenüber gar nicht mehr.

Sprecherin:

Die Sozialpsychologin Vera King verweist auf einen weiteren Gesichtspunkt, der positive soziale Be- ziehungen erschwert:

O-Ton Vera King:

Was ich ebenso wichtig finde, ist die Veränderung von Nähe und Distanz.

Dass scheinbar alles ganz nah ist, dass man den Eindruck hat, man kann es auf ganz einfa- che Weise zu sich heran holen, aber man sich auch durch einen einfachen Klick wieder tren- nen kann. Es ist einerseits etwas, was wir ja auch schätzen gelernt haben durch die digitalen Technologien, dass man sich nämlich ganz leicht verbinden kann aber auch ganz leicht wie- der abwenden. Aber die Kehrseite liegt wiederum in dem Risiko, dass man potenziell mit nichts richtig verbunden ist und von nichts richtig getrennt. Denn die Spannung zwischen An- und Abwesenheit, zwischen verbunden und getrennt sein ist ja etwas, das in der psychischen Entwicklung eine große Rolle spielt und in diesen Hinsichten entstehen eine ganz neue Welt oder auch eine neue Form der Sozialisation. Die Kommunikation mit den anderen über digita- le Medien hat zur Folge, dass wir oft nicht leiblich präsent sind, also leiblich anwesend mit anderen.

Sprecherin:

Der 28jährige Timo befürchtet, dass sich neben den sozialen Beziehungen auch die Beziehung zu einem selbst ungut verändern könnte.

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O-Ton Timo:

Es ist auf jeden Fall eine Beschleunigung, es macht Dinge bequemer und erschwert es dann sozusagen auch, die Arbeit an sich selbst zu tun, in Kontakt zu treten und das Eins zu Eins zu suchen und das reale persönliche Miteinander, also soziale Medien im Speziellen zum Bei- spiel Instagram, Facebook, all das .

Und weil es so kurzweilig und schnelllebig ist, verliert es natürlich auch an Wert und ist aus- tauschbar. Dadurch entsteht eine immer größere Unverbindlichkeit dann eben auch in der re- alen Welt, in den realen Beziehungen und Freundschaften.

O-Ton Ingrid:

Ganz selten wird bei mir auch bei Freunden nachgefragt was meinst du eigentlich mit dem, was du da sagst? Sondern sie springen immer auf andere Dinge sofort über, die sie erlebt haben, aber nicht mehr so vom Inneren.

Ja ich glaube, das hat mit der Vielzahl der Angebote zu tun.

Sprecherin:

Auch wenn sich die digitale Welt immer stärker ausbreitet. Das Leben als solches ist in weiten Teilen immer noch analog – und wird es auch bleiben. Mütter werden weiterhin Kinder gebären, Menschen werden sich verlieben, einen Beruf ergreifen, im herbstlichen Blätterregen spazieren gehen, verzagt sein oder voller Hoffnung. Und irgendwann – wird der Mensch sterben.

O-Ton Lutz Jäncke:

Wir dürfen uns nicht in diese digitale Falle hinein saugen lassen, sondern wir müssen zuneh- mend unsere Fähigkeiten entwickeln, trainieren und verbessern, sich mit dem Wesentlichen auseinanderzusetzen. Und in diesem Zusammenhang ist es auch wichtig, dass wir auch die analoge Welt lernen, dass wir sie erfahren. Das heißt als Gegengewicht zur digitalen Welt müssen wir die analoge Welt leben. Ich empfehle als erstes beispielsweise den Kindern bei- zubringen, sich in der analogen Welt zu bewegen, Sport zu treiben, in den Wald zu gehen und Sachen zu machen, die man anfassen kann.

O-Ton Vera King:

Man kann sagen, es gibt eine starke Polarisierung: Auf der einen Seite eine pessimistische oder düstere Sicht auf die Welt, die sich teils auch zu wenig differenziert mit der Frage

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auseinandersetzt: Was bedeuten eigentlich diese Technologien im produktiven Sinne und was haben sie für Folgen? Und es gibt auf der anderen Seite dieses geradezu rauschhafte Bejahen der digitalen Technologien, zum Beispiel wenn die Menschen die Illusion hegen, dass sie die Welt ganz und gar in den Griff bekommen, dass wir alles erreichen können. Und das ist das potenziell Riskante oder Gefährliche daran.

Autor:

Vielleicht kann eine Weisheit aus dem Jahr 500 vor Christus den Menschen der Gegenwart auch heute noch den Weg weisen. Der chinesische Weise Laotse schrieb vor 2500 Jahren folgende Zei- len:

Zitator:

Die Welt erobern und behandeln wollen, ich habe erlebt, dass das misslingt.

Die Welt ist ein geistiges Ding, das man nicht behandeln darf.

Wer sie behandelt, verdirbt sie, wer sie festhalten will, verliert sie.

Darum meidet der Weise

das zu sehr, das zu viel und das zu groß.

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