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Academic year: 2022

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L e b e n s z e i c h e n

Von Kirsten Dietrich 01.01.2022

O-Ton Ramona Weyde:

Ne Begegnung tatsächlich, ein Treffen auf einem Spaziergang. Wo fang ich denn da an?

Sprecherin:

Ramona Weyde, Künstlerin, Kalligrafin.

O-Ton Ramona Weyde:

Ich wusste aus irgendeinem Grund vorher schon – also nicht an diesem Tag, sondern diffus vorher –, dass Jesus und ich – wir uns irgendwann begegnen würden. Ich war bis zu dem Zeitpunkt ohne Jesus unterwegs, ich war auch keine Christin, sondern war vom Glauben her eher bei den Yogis und Sikhs unterwegs, durch das Yoga – ich habe an Gott geglaubt, ich glaube auch immer noch an Gott, aber halt ohne Jesus. Ich wusste nicht, wozu ich den brau- che, wenn ich Gott habe – wozu brauch ich dann Jesus?

Sprecherin:

Heute steht auf Ramona Weydes Homepage in der Rubrik „Erfahrungsschatz“, zwischen verschie- denen Yoga-Ausbildungen und Kursen bei Sikh-Lehrenden: „Christusbegegnung im November 2018“.

O-Ton Ramona Weyde:

An dem Tag, an dem wir uns begegnet sind, war das so, dass ich schon am Vormittag so ei- ne innere Unruhe gespürt habe und gemerkt habe: Heute passiert etwas auf meiner spirituel- len Ebene, auf meiner Glaubensebene. Ich wusste aber nicht, was. Ich bin dann spazieren gegangen, das war im November 2018, und hab diese Botschaft gehört: Öffne dein Herz, mach dein Herz auf, bei diesem Spaziergang.

Sprecherin:

Es ging ihr zu der Zeit nicht besonders gut, erinnert sich Weyde. Sie steckte in einer persönlichen Krise, musste sich mit depressiven Stimmungen und Ängsten auseinandersetzen.

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O-Ton Ramona Weyde:

Und – ich geh grad so vor meinem inneren Auge diesen Weg ab – und bin dann um die Kurve gegangen, und da stand er plötzlich neben mir. Nicht zum Anfassen, sondern so als Vision – ich weiß gar nicht, wie man das beschreiben kann – also er stand neben mir und ich hab mich so an ihn rangelehnt, wir haben uns ineinander reingelehnt, und plötzlich hat mich das von oben bis unten komplett durchflutet, mit so – Einmal so durchgeliebt von oben bis unten, so dass mir sofort Tränen kamen und ich einmal so komplett eine Liebeserfahrung hatte, einmal komplett durch. Ich war total so: Whoa, was war das denn jetzt?

Sprecherin:

Ramona Weyde erzählt die Geschichte ihrer Begegnung mit Jesus in einer interessanten Mischung aus Staunen und Sicherheit: einerseits ungläubiges Staunen auch nach drei Jahren noch über das, was da auf einem Feldweg im Allgäu passierte – und andererseits absolute Sicherheit. Ja, natürlich sei das Jesus Christus gewesen, den sie da so intensiv erfahren habe – wer denn sonst?

O-Ton Ramona Weyde:

Das hat mich eine Freundin auch gefragt: Wieso wusstest du, dass das Jesus war und nicht Guru Ramdas oder wer auch immer – ich wusste das einfach. so ein tiefes Wissen: das isser.

Sprecherin:

Von außen betrachtet: eine unglaubliche Erfahrung. Einer leibhaftigen Vision Gottes zu begegnen, die körperlich spürbar ist. Wenn der Papst davon twittert, Jesus zu begegnen – und das tut er er- staunlich oft – dann fügt er meist ein paar Worte hinzu: „im anderen“ oder „im Nächsten“ zum Bei- spiel.

Zitator:

Lasst uns Jesus begegnen in den Armen, den Ausgegrenzten, den Flüchtlingen.

Sprecherin:

Auch für die meisten traditionellen Christinnen und Christen hierzulande ist diese Vorstellung wohl eher fremd. Jesus leibhaftig begegnen? Genau so soll das sein – heißt es dagegen in manchen Be- reichen des Christlichen.

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O-Ton Tanja:

Ich heiße Tanja, ich bin 44 Jahre alt, ich bin seit zwölf Jahren mit Jesus unterwegs. Das heißt, ich habe vor 12 Jahren mein Leben Jesus übergeben.

O-Ton Peter Zimmerling:

Der Ausdruck „ich habe mein Leben Jesus übergeben“ –das ist, würde ich jetzt mal ganz sachlich sagen, auch ein Sprachspiel. Das in diesen pietistisch-evangelikal geprägten Kreisen verbreitet ist, um einfach zu signalisieren: Ich bin vom Glauben überzeugt – ich bin ein über- zeugter Christ. Das wird damit ausgedrückt.

Sprecherin:

Peter Zimmerling ist evangelischer Theologe an der Universität Leipzig und beschäftigt sich mit Mys- tik und Spiritualität, also: der praktischen, innerlichen, ganz persönlichen Seite des Glaubens. Be- sonders interessieren Zimmerling die Wurzeln dieses Verständnisses: im Mittelalter, in der Reforma- tionszeit, aber auch und vor allem im 18. und 19. Jahrhundert. Dort formten sich – parallel zur Rom- antik in der Literatur – gefühlsbetonte Ausprägungen vor allem des evangelischen Glaubens, der sogenannte Pietismus.

O-Ton Peter Zimmerling:

Da ist tatsächlich auch eine bestimmte Vorstellung mit verbunden: Jesus ist der mir nahe Freund, die Kategorie des Freundes spielt da sicher auch eine Rolle, die Kategorie des Le- bensbegleiters, so in dieser Richtung.

O-Ton Maren Freudenberg:

Das markiert deutlich den Evangelikalismus. Eine Form des Protestantismus, der sehr u.a.

auf die Imitatio Christi abzielt, auf das Orientieren am Leben Jesu, wie es biblisch überliefert wurde, gleichzeitig aber die Überlieferung in einen ganz modernen Kontext setzt.

Sprecherin:

Sagt die Religionssoziologin Maren Freudenberg von der Ruhruniversität Bochum. Sie hat unter- sucht, wie diese Form des innigen Glaubens, der engen Bindung an Jesus heute gelebt wird – vor allem in den USA, aber auch in Deutschland.

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O-Ton Maren Freudenberg:

Das ist ein absoluter Biographiebruch für gläubige evangelikale Menschen. Der Punkt, an dem man sich entscheidet, sein Leben Jesus zu übergeben, in die Hände Jesu zu legen, das markiert einen Wendepunkt in der Biographie, für viele hat weitreichende Konsequenzen:

dass man sein Verhalten anpasst, dass man es ändert, man versucht, sich Lastern zu entle- digen, aber vor allem auch diese neue Community, als Teil derer man sich fühlt, weil man da umarmt und da willkommen geheißen wird.

O-Ton Benny Zwick:

Kurz bevor ich 14 wurde, wurde ich beim Klauen erwischt, mit einem Freund war ich immer mal wieder klauen, ich bin an und für sich gut erzogen, wollte nie kriminell sein, auch nicht auffallen, ich wollte einfach mein Leben leben, Fußball spielen, und dann war ich mit meinem eigenen Leben konfrontiert.

Sprecherin:

Erinnert sich Benny Zwick an einen, vielleicht sogar: den entscheidenden Moment seines Glaubens- lebens. Denn vorher wuchs er zwar in einem frommen, freikirchlichen Elternhaus auf – aber der Glaube an Gott ließ ihn trotzdem ziemlich kalt.

O-Ton Benny Zwick:

Ich bin dann recht frustriert gewesen, war natürlich auch beschämt, weil ich das meinen El- tern erzählen musste, dann war ich in meinem Zimmer, da habe ich einfach über Gott nach- gedacht und gebetet und gesagt, Gott, wenn es dich wirklich gibt, dann sag mir, wer du bist, zeig es mir – und das ist jetzt schwierig zu erklären, aber das war der Moment, wo ich auf einmal gespürt habe, wie Gott zu mir spricht: Benny, ich hab dich lieb. Das war so ein Gefühl von Zuhause ankommen. Dann wars so, dass ich mein Leben auf Gott ausgerichtet habe.

Sprecherin:

Das hat Benny inzwischen vom rheinischen Troisdorf nach Berlin gebracht – wo er als Sozialarbeiter ein diakonisches und ein eher missionarisches Projekt für Jugendliche leitet.

O-Ton Benny Zwick:

Für mich ist dieser Jesus vertraut, auch wenn ihn nicht sehen kann. Ich hab schon auch Wunder erlebt mit Jesus, wir machen jeden Mittwoch in einem Fastfoodrestaurant immer mal wieder spannende Sessions, mal war das Thema Zeichen und Wunder, am Ende habe ich

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gebetet, dass Gott die Menschen heilt, die Schmerzen haben, einer hatte einen verstauchten Finger, ich hab gebetet – und wie sieht‘s bei dir aus? Dann machte er die Hand auf und zu:

Die Schmerzen sind weg! Und dann nahm er die Faust und haute mit der Faust voll gegen die Fensterscheibe, und ich sagte so scherzhaft: und jetzt sind die Schmerzen wieder da, und er so: nein, die Schmerzen sind weg, Benny, was hast du gemacht? Das war ein cooler Mo- ment, wo ich sehen durfte, dass Gott eingegriffen hat.

O-Ton Maren Freudenberg:

Ich glaube, dass Jesus da auch so eine wichtige Rolle als Vorbild spielt, weil der evangelikale Glaube so unmittelbar relevant gemacht werden kann im Leben der Gläubigen. Jesus ist nicht nur Vorbild, sondern auch Identifikationsfigur.

Sprecherin:

Nämlich jemand, sagt die Religionssoziologin Maren Freudenberg, der die Brücke schlägt zwischen göttlicher Offenbarung und ganz persönlicher Erfahrung. Wahrer Mensch und wahrer Gott nannten das die Dogmatiker der Kirche im 5. Jahrhundert – wahrer Wundertäter und echter Freund, könnte man vielleicht fürs 21. übersetzen:

O-Ton Maren Freudenberg:

Der gewisse Werte vertritt, der einen gewissen Lebensstil, wie er biblisch überliefert ist, hatte, der heute Vorbild ist, der aber flexibel genug ist, sich einzufügen in moderne Formen evange- likalen Alltags.

Sprecherin:

Zu diesem Alltag gehört es, anderen davon zu erzählen, dass man jetzt mit Jesus unterwegs sei.

Manche klingeln dafür an Wohnungstüren, viel mehr nutzen dafür inzwischen das Internet. So wie Tanja:

O-Ton Tanja:

Unter Tränen bin ich auf die Knie gegangen und habe Jesus darum gebeten, dass er mein Leben ändert. Und ich hab Jesus die Pistole auf die Brust gesetzt und gesagt: Herr, ändere du mein Leben, sonst beende ich es.

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Sprecherin:

Predigerin Tanja, wie sie sich online nennt, berichtet auf Facebook: Sie fand in einer Krisensituation nicht nur zum Glauben, sondern zu dieser besonderen Nähe zu Jesus.

O-Ton Tanja:

Es ist so gewesen: Ich hab mich in einem Traum bei unserem Hauskreis befunden, wir haben ja in der Gemeinde so einen Hauskreis, es war blauer Himmel, die Sonne hat gescheint, aber etwas war ganz seltsam. Und zwar am Himmel oben, der hatte eine einzige Wolke, die eine Wolkensäule war. Und dann ist etwas passiert, liebe Geschwister: Aus der Wolkensäule her- aus, da sah ich eine Hand. Und diese Hand hatte hier ein Wundmal. Und ich gedacht: Wow, was sehe ich denn da. Und ich hab sofort gewusst, dass das die Hand von Jesus ist.

Sprecherin:

Nun könnte man einwenden: Jeder, der sich ein bisschen mit europäischer Kulturgeschichte aus- kennt, könnte das zumindest vermuten. Aber Tanja machte mehr als das: Sie änderte ihr Leben.

O-Ton Tanja:

Ich bin dann auf die Knie gegangen und hab gesagt: Jesus, was möchtest mir mit dieser Hand sagen? Und der Herr sprach zu mir in einer sehr liebevollen und sanften Stimme und sagte: Verkünde diese Botschaft, also vom Kreuz, verkünde sie in Facebook.

Sprecherin:

Das macht sie seitdem, stellt lange, sehr persönliche Videos ins Netz und erzählt von Jesus und wie er ihr Leben besser gemacht hat.

O-Ton Peter Zimmerling:

Ich würde sagen: wenn eine solche Erfahrung echt ist, eine solche Hingabe des Lebens an Jesus, Christus, Gott, dass sie sich dann auswirken wird, sukzessive häufig, in der Durch- dringung und damit auch der Veränderung sehr vieler Lebensbereiche.

Sprecherin:

Früher ging, wer so etwas erlebte, ins Kloster, wurde Mönch oder Nonne, sagt Peter Zimmerling.

Hatte da regelmäßige Gebete, Vorbilder für die Andacht, traf andere mit ähnlichen Erfahrungen – und wurde so vielleicht eine Mystikerin wie Teresa von Ávila im 16. Jahrhundert:

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Zitatorin:

Als ich am Fest des heiligen Petrus im Gebet verweilte, sah ich, oder besser gesagt, spürte ich es neben mir, denn ich sah weder etwas mit den Augen des Leibes noch mit denen der Seele, sondern es war mir, als wäre Christus neben mir. Da ich völlig ahnungslos war, dass es eine derartige Vision geben konnte, überfiel mich anfangs eine große Furcht und ich tat nichts anderes als nur weinen;

sobald er allerdings nur ein einziges Wort zu mir sagte, um mich zu beruhigen, wurde ich wieder so ruhig wie vorher, von Wonne erfüllt und ohne jede Furcht.

Sprecherin:

Und heute? Heute entdeckt Peter Zimmerling in den Landeskirchen eher…

O-Ton Peter Zimmerling:

… eine gewisse Hilflosigkeit, mit der wir als evangelische Theologie und Kirche mit solchen besonderen Menschen umgehen, die eine besondere Gotteserfahrung gemacht haben. Oder Christuserfahrung.

Sprecherin:

Zimmerling erinnert sich an Geburtstagsbesuche in der Zeit, als er selber noch junger Pfarrer war:

O-Ton Peter Zimmerling:

Da haben mir viele Männer, die natürlich alle noch aktiv vor 37 Jahren den Krieg miterlebt hatten, erzählt, dass sie mystische Erfahrungen in dem Krieg gemacht haben – also das ha- ben sie natürlich nicht so genannt –, dass sie eine Lichterscheinung hatten, die ihnen gehol- fen hat, wenn sie sich zwischen den Fronten verirrt hatten, wieder zurückzukehren, oder dass sie sich auf den Waldboden geworfen hatten, und dann hätte eine Stimme gesprochen, sie sollen wieder aufstehen und dort und dort in die Richtung gehen – aber die hatten natürlich keine Möglichkeit, in einer normalen landeskirchlichen Gemeinde zu landen mit solchen Er- fahrungen.

Sprecherin:

Evangelikale Gemeinschaften heute verstecken die besondere Beziehung zu Jesus nicht, ganz im Gegenteil: sie hegen und pflegen sie und geben ihr eine Bühne. Das ist oft ganz wörtlich zu verste- hen. Fester Bestandteil gerade von besonderen Gottesdiensten ist die Aufforderung, vor die Ge- meinde zu treten und das eigene Leben Jesus zu übergeben. Wobei: manchmal spielen da doch

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auch noch andere Dinge mit, gerade wenn man 13 oder 14 ist und mitten in der Pubertät – erinnert sich Louise an den Moment, an dem sie offiziell Jesus ihr Leben übergab.

O-Ton Louise:

Da war einmal so ein Junge im Publikum, dann hieß es so: wer sein Leben Jesus geben will, der soll nach vorne kommen, und ich hab gedacht: das mach ich heute, dann sieht der mich – also der Junge – und dann meine Mutter, die war auch da, hat mich hinterher in den Arm ge- nommen und gesagt: das war berührend für sie, aber sie wusste natürlich nicht, dass es mir hauptsächlich drum ging, dass ich wollte, dass der Junge da mich sieht, das war schon so ein Bekehrungsmoment, aber für mich in dem Moment eher aus einer anderen Motivation.

Sprecherin:

Was Louise aber nicht als Respektlosigkeit missverstanden haben möchte. Denn eigentlich, sagt sie, war Jesus schon lange vor diesem demonstrativen Übergang Teil ihres Lebens.

O-Ton Louise:

Und dann nach dem Abitur habe ich gesagt: ok Gott, und jetzt geht mein richtiges Leben mit Dir los, jetzt setz ich mich für das Gute in dieser Welt besser ein. Und ich saß damals – das weiß ich noch ganz genau – so da, ich war auf der Toilette, da war so Spiegel gegenüber, ich hab in den Spiegel geguckt und gesagt: ok Gott, was heißt das denn jetzt, dieses Leben mit dir? Ich kann mich dafür oder dagegen entscheiden. Dann war das für mich in dem Moment ganz einfach eine Gewinn- und Verlustrechnung. Ich hab gesagt: ok Gott, wenn ich mich ge- gen dich entscheide und dich gibt’s, verlier ich im Zweifel ein ewiges Leben, wenn ich mich für dich entscheide, hab ich im Zweifel viel auf der Habenseite, z.B. ewiges Leben und dich in meinem Leben, aber ich verlier ja nichts. Du nimmst mir nichts weg. Also mach ich das ein- fach mit dir, ist ja logisch – lacht – alles andere wäre ja dumm gewesen.

Sprecherin:

Das klingt nach einer rationalen Abwägung wie man sie erwarten kann von einer akademisch gebil- deten Frau um die 30, Mutter von zwei Kindern, in verantwortungsvoller Position Fundraiserin bei einer NGO, die gegen Gewalt und moderne Sklaverei kämpft. Louise hat ihre geistliche Heimat bei den Jesusfreaks gefunden, die eine innige Frömmigkeit mit einer bewusst lockeren, gegenwärtigen Sprache verbinden. Aber kann man das so einfach: sich für Gott entscheiden, und dann ist er da?

Louise erinnert sich auch an ganz andere Situationen.

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O-Ton Louise:

Aber das waren eher Momente, wenn ich mit Gott alleine war. Ich hatte auch einmal so einen Moment in der Küche, das war eine sehr schwere Zeit in meinem Leben, ich weiß noch, ich saß so, bin am Schrank in der Küche runtergerutscht und war so wie am Ende, ich hab nur Dunkelheit gesehen, obwohl ein Licht geschienen hat und ich die Augen offen hatte, also ich war nicht blind, aber hab wie in Dunkelheit gestarrt und eine riesengroße Beklemmung, was sich so um meine Brust gelegt hat und mein Herz, das war wie vor einer absoluten Dunkelheit zu stehen.

Sprecherin:

Selbst in der Erinnerung greift Louise an dieser Stelle ihrer Erzählung mit den Armen um ihren Ober- körper.

O-Ton Louise:

Und dann auf einmal war Jesus da, und war Licht da, und ich habe so sehr laute Gedanken oder – wie kann ich das gut beschreiben – manche sagen ja: Gottes Stimme hören. Und ich würde nicht sagen, dass ich sie so akustisch gehört hab, wie ich dich jetzt höre, aber dass sie so präsent war, dass Jesus gesagt hat: Ey Louise, ich bin da, und das geht hier weiter. In dem Moment hat mich das sehr aus der Situation gezogen und Hoffnung gegeben und mich weiterleben lassen.

Sprecherin:

Jesus auf diese Weise auch körperlich spüren – das sind intensive und sehr individuelle Erfahrun- gen. Und gleichzeitig stehen diese Erfahrungen in einer langen Tradition.

Zitatorin:

Denn alle Sinne genießen in so hohem Grad und mit solcher Zärtlichkeit, dass man es nicht ausdrü- cken kann. Einmal blieb der Herr in dieser Weise mehr als eine Stunde lang dabei, mir wunderbare Dinge zu zeigen, da er, glaube ich, nicht von meiner Seite wich.

Sprecherin:

So berichtete es die Mystikerin Teresa von Ávila im 16. Jahrhundert. Auch Louise nimmt Jesus mit dem ganzen Körper wahr, sagt sie.

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O-Ton Louise:

Auf jeden Fall mit dem Fühlen an sich – manchmal hab ich so einen Druck auf der Brust, in Situationen, wenn ich sehr gestresst bin, und dann zu sagen: ok, ich lehn mich mal zurück:

Heiliger Geist, komm du in die Situation und schenk mir Frieden, jetzt hier. Manchmal spreche ich mit Gott, manchmal mit Jesus. Mit Jesus bespreche ich mehr so alltägliche Herausforde- rungen, wo ich mich ein bisschen mehr auf sein Leben auf der Erde beziehe: Jesus, wie war das wohl für dich, so ne Scheiße?

Sprecherin:

Für Louise ist klar: Sie lebt ihr Leben in einer Beziehung mit Jesus. Für den Theologen Peter Zim- merling ist so eine Beziehung authentisch – aber zu eng, sagt er.

O-Ton Peter Zimmerling:

Teresa von Avila, die größte christliche Mystikerin überhaupt, spricht ganz klar Jesus immer mit „Ihre Majestät“ an. Sie spricht auch von Jesus als ihrer Majestät, in der dritten Person.

Und hat gleichzeitig ganz intensive erotisch gefärbte Unio-Erfahrungen mit Jesus. Diese gleichzeitige Wahrung einer Distanz, des Abstandsgefühls, ist für mich grad ein Beleg, dass auch die Erfahrung der Nähe stimmen könnte. Das wird mir manchmal in den genannten pie- tistisch-evangelikalen Zusammenhängen überspielt. Da wird suggeriert – was ja nicht der Fall ist – als ob Jesus so ein handsome Friend ist, der alle Zeit mir zur Verfügung stünde.

O-Ton Louise:

Ich fühl mich sicher mit Gott, ich führ mein Leben mit Jesus, Jesus ist als Gegenüber da, trägt mich, ich bin 100% überzeugt, dass das Leben, das ich jetzt führe, ohne Jesus und Gott nicht möglich wäre, weil zum einen weiß ich nicht, ob ich noch da wäre, zum anderen: ich könnte das, was ich leiste, die Arbeit und was ich sonst noch in Leben mache, das wäre ohne Gott so nicht drin.

Sprecherin:

Auch für die Kalligraphin Ramona Weyde ist die Vision des – wie sie es nennt – Durchliebtseins mit intensiven Gefühlen verbunden. Leider viel zu selten, sagt sie.

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O-Ton Ramona Weyde:

Es ist ja nicht so, dass das so ein Dauerzustand ist und ich jetzt komplett durch-jesust durch die Welt laufe. Es gibt immer mal wieder ganz kleine Sequenzen von „ich bin noch hier“ – die dann so ein ähnliches Durchrauschen haben, ich hatte das im Sommer wieder, auch auf ei- nem Spaziergang, so ein kurzes Lichtglühen von innen raus, nach dem Motto: ich zeig dir dein Licht, nicht: ich steh neben dir, sondern von innen heraus, so, dass ich plötzlich weinen musste, obwohl ich nicht im Gebet war noch irgendeinen Kontakt gesucht habe, und ich wusste: das ist wieder so ein Zeichen.

Sprecherin:

Auch wer sich mit Mystik nicht auskennt, kann diese Beschreibungen nachvollziehen. Viele dieser Begegnungen lesen sich fast wie Drehbücher eines Filmes. Und sie stellen damit die Frage: wie au- thentisch sind diese Erlebnisse eigentlich? Falsche Frage, sagt die Religionssoziologin Maren Freu- denberg: Echt oder nicht – wie soll man das bei einer religiösen Erfahrung zweifelsfrei feststellen?

Aber: natürlich könne man einüben, für solche Begegnungen empfänglich zu sein. Vor allem, wenn man nicht alleine glaube, sondern in einer Gemeinde.

O-Ton Maren Freudenberg:

Das ist wirklich so eine interessante Art und Weise, die Vorstellungskraft zu prägen und wirk- lich das als Praxis einzuüben, genau wie Gebete, wie Beten als Praxis eingeübt werden muss, das sind Praktiken, die Jesus umso realer erscheinen zu lassen. Bis hin zu einer – in Deutschland eher nicht so verbreiteten – Praxis des sich Vorstellens, dass Jesus eine reale Person ist, so weit, dass man sich vorstellt, ich mach jetzt ein Abendessen mit Jesus, weil der ist mein bester Freund, bei Frauen auch mit einer sexualisiert-romantisierten Konnotation, dann ist das die datenight with Jesus, dann wird ein zweiter Teller auf Tisch gestellt und sich vorgestellt, dass Jesus dabei ist, obwohl klar ist, Jesus ist nicht so dabei, wie wenn ich mei- nen besten Freund einlade. So weit geht die Vorstellung.

Zitator:

Versuche nicht, diese Zeit zu „spirituell“ zu gestalten. Überlege stattdessen, was dir die größte Freu- de bringt. Welche Erfahrung möchtest du mit jemandem teilen, den du inständig liebst? Ein Konzert?

Ein gutes Essen? Einen Spaziergang am Strand? Plane eine Zeit der Freude!

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O-Ton Maren Freudenberg:

Ich will damit nicht sagen, dass das leicht ist und immer klappt, aber die Hemmschwelle ist geringer, wenn das auch in einem sozialen Kreis ist, wo man sieht: für andere ist das auch möglich, zugänglich, diese Gotteserfahrung, warum nicht auch für mich? Da überschneidet sich individuelle Erfahrung mit Gemeinschaftserfahrung. Dass das von der Gruppe als wahr angesehen wird, bestärkt wird, und ich bekräftigt werde in meinem individuellen Glauben.

Sprecherin:

Die Gemeinde, die Jesus demonstrativ in die Mitte stellt, macht eine Beziehung zu diesem Jesus leichter. Notwendig ist sie nicht. Ramona Weyde zum Beispiel fremdelt immer noch damit, dass sie durch ihre Jesuserfahrung jetzt irgendwie ja auch Christin ist.

O-Ton Ramona Weyde:

Jetzt plötzlich ist der persönliche Gott da, die persönliche Komponente kommt plötzlich dazu, die ich vorher ja gar nicht vermisst hatte, die nicht gefehlt hat, ist das jetzt anderer Gott oder ist der gleiche, nur mit Add-on?

Sprecherin:

Weyde ist damit allerdings eher die Ausnahme, sagen alle religionssoziologischen Untersuchungen.

In der Regel wählen diese intensive, persönliche Form des Glaubens an Jesus eher diejenigen, die sowieso schon christlich sozialisiert sind. Aber auch Weyde ging in ihrer Jugend zur evangelischen Christenlehre, auch wenn die sie nicht überzeugte – es war also kein unbekannter Gott, den sie fühl- te und hörte, und völlig untrainiert waren ihre Ohren auch nicht.

O-Ton Ramona Weyde:

Es war eher so eine innere Stimme, so in Form von Gedanken. Aber nicht so Gedanken, die ich selber denke, vielleicht wie eine Eingebung? Das hab ich aber auch in Gebeten, und ich unterscheide dann schon, was sind meine eigenen Gedanken, was hab ich jetzt gehört, aus irgend einem Grund merk ich das, ob das jetzt mein eigener Kopf produziert hat, ich weiß auch nicht, woran.

Sprecherin:

Jesus – ferne Majestät oder bester Freund? Oder geht das doch irgendwie zusammen? Auch wenn Gläubige noch so offen über ihre Erfahrungen mit „diesem Jesus“ berichten – ein bisschen Geheim- nis bleibt. Jedenfalls für die, die diese Erfahrung nicht gemacht haben oder auch nicht machen wol-

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len. Bleibt zum Schluss nur eine Frage: Wie lebt man eigentlich weiter, wenn man einmal von Kopf bis Fuß ganz durchdrungen war von der Liebe Jesu?

O-Ton Ramona Weyde:

Dieses Durchgeliebtwerden, die bedingungslose Liebe, die da durchgekommen ist, die ist ge- blieben, auf jeden Fall. Und der Lebensbegleiter ist geblieben. Der ist ja nicht wieder wegge- gangen, und ich hab ihn auch nicht weggeschickt.

Ich hab mich dann im Januar aktiv für Jesus entschieden, hab mit ihm zusammen eine Le- bensübergabe gemacht, also nicht offiziell in der Kirche oder Gemeinde, sondern auf Spa- ziergang mit ihm, hab ich mich dann für ihn entschieden:

Es war Winter und wir waren auf einem Spaziergang, ich hab dann im Gebet, im Gespräch tatsächlich entschieden: ok, ich mach das jetzt und hab ein großes Ja in den Schnee gelau- fen. Das war das Ritual. Das war mein Ja.

Sprecherin:

Taufen allerdings, also das klassische Zeichen der Zugehörigkeit – Taufen hat sich Ramona bis jetzt noch nicht lassen. Vielleicht kommt dieses Ritual gegen so viel Nähe zu Jesus auch einfach nicht mehr an.

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