Sven Gottschling
Universitätsklinikum des Saarlandes
Zentrum für Palliativmedizin und Kinderschmerztherapie
Grenzsituationen in der Entscheidungsfindung am Lebensende
Wie bewerten Sie folgende Situationen
•Beendigung einer Chemotherapie
•Beendigung der Gabe kreislauf-stabilisierender Medis
•Beendigung einer Flüssigkeitstherapie über die Vene
•Einstellung der Ernährung über PEG bei einem Dementen
•Abschalten einer Beatmungsmaschine
•Beendigung einer Dialyse
Wie bewerten Sie folgende Situationen
•Beendigung einer Chemotherapie (15,7%)
•Beendigung der Gabe kreislauf-stabilisierender Medis (18,8%)
•Beendigung einer Flüssigkeitstherapie über die Vene (37,4%)
•Einstellung der Ernährung über PEG bei einem Dementen (33,9%)
•Abschalten einer Beatmungsmaschine (36,1%)
•Beendigung einer Dialyse (nicht gefragt)
(%) als Tötung eingestuft durch Betreuungsrichter
van Oorschot B, Simon A. J Med Ethics. 2006;32:623-6.
Jean-Paul
9 Jahre
Enzymdefekt
Zunehmende Schluckstörung PEG
Progrediente Tetraspastik Zunehmende Ruheschmerzen
Immer wieder einschiessende Schmerzen Aktuell immer wieder massive Luftnotanfälle
8 kg
Baclofen 5 mg
Morphin retardiert 15 mg Metamizol mit 60 mg/kg Tag
Morphin unretardiert bei Bedarf 2 mg bis 6 x tgl.
Dronabinol 8 mg täglich Botoxinjektionen in die spastischen Extremitäten Muss zigfach täglich
abgesaugt werden
Eindosierung von 1,25 µg/kg nasalem Fentanyl bei akuter Luftnot
Tavor 1 mg expidet bei Panik 2 mg nasales Midazolam bei Krampfanfällen
Eltern waren nie zusammen (one-hit-wonder) Gemeinsames Sorgerecht
Überlebensprognose:
“Ihr Sohn wird seinen zweiten Geburtstag nicht erleben”
Kind lebt beim Vater, alle 14 Tage bei der Mutter Vater möchte volles Programm
Mutter möchte Therapiebegrenzung
Die medizinische Behandlung (auch die mögliche Therapiebegrenzung) erfordert die Einwilligung beider Eltern !!!
Jeder ärztliche Heileingriff, selbst die
Medikamentengabe ist ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit und bedarf der Indikation und der Einwilligung (bei Kindern beider Elternteile)
Jede therapeutische Maßnahme für die keine
Indikation oder keine Einwilligung vorliegt ist
strafbare Körperverletzung
Die Indikation
Die Indikation
•„Die Personensorge umfasst auch das Recht, in
eine medizinisch nicht erforderliche Beschneidung des nicht einsichts- und urteilsfähigen männlichen Kindes einzuwilligen, wenn diese nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt werden soll. (…) In den ersten sechs Monaten nach Geburt des
Kindes dürfen auch von einer Religionsgesellschaft dazu vorgesehene Personen Beschneidungen
durchführen, wenn sie dafür besonders ausgebildet sind und ohne Arzt zu sein für die Durchführung
der Beschneidung vergleichbar befähigt sind.“
Die Indikation
Medizinische Indikation
Fachliche Rechtfertigung einer geplanten Maßnahme Basis:
empirisches Wissen des behandelnden Arztes Evidenz-basierte Daten
Leitlinien, Richtlinien
Die Indikation
Ärztliche Indikation
Der behandelnde Arzt prüft, welche Maßnahme im Hinblick auf den Gesamtzustand und die Prognose des Patienten
indiziert ist.
Ein auf Fachwissen basierendes Werturteil
Berufsverband der Palliativmediziner Westfalen-Lippe 2012
Jede therapeutische Maßnahme, die zu einer
Verkürzung des Sterbeprozesses aber auch zu
einer Verlängerung führt bedarf der Indikation
durch den behandelnden Arzt
Die Einwilligung
Die Einwilligung
Freiheit heißt auch Freiheit zur Krankheit
Der Arzt hat kein durch seinen Beruf begründetes Recht auf Heilbehandlung
Die Einwilligung eines Patienten in eine Therapie
ersetzt nicht die Indikation
•62-jährige Patientin mit seit 6 Monaten
bestehender unklarer Motoneuronerkrankung
•Zunehmende Lähmungen (Tetraplegie)
•CPAP
•Zunehmende Ruhedyspnoe
•Immer wieder Verschlucken mit akuter Luftnot
•4 Monate nach letztem stationärem Aufenthalt kommt die Patientin doch zur PEG-Anlage in die Klinik
•7.11. komplikationslose PEG-Anlage
Spannungsfeld
Hocheffiziente Sterbeverhinderung (Ariel Sharon, Prinz Friso, Schumi ?)
Verfrühtes Ableben durch Therapie
Abbruch „lebenserhaltender“ Maßnahmen bedarf keiner Einwilligung wenn die Indikation für die
Maßnahme fehlt. Der Abbruch ist die gesetzlich vorgeschriebene Konsequenz
Ebenso muss eine Maßnahme abgebrochen werden, wenn eine Patientenverfügung auftaucht, die diese Maßnahme untersagt
Es ist dabei unerheblich, ob man eine Maßnahme gar nicht beginnt oder eine begonnene Maßnahme
beendet
Was machen wir, wenn wir keine Einwilligung bekommen?
Zeugen Jehovas Eltern uneinig
Eltern wünschen alternative
Krebsbehandlung für ihr Kind
Einfachste und am häufigsten gewählte Lösung:
Verlegung in andere Klinik
„Einen Patienten zu verlegen, um sich einer Entscheidung über die Konsequenzen eigenen
Tuns zu entziehen, stellt sowohl eine Verletzung der Fürsorgepflicht dar, als auch und
insbesondere eine Missachtung des Gebotes, die Würde des Patienten zu schützen und zu
bewahren“
Dr. jur. Peter Holtappels 1935-2014
Rechtsgüterkollision
Aussetzung des Sorgerechts in Bezug auf die medizinische Maßnahme
Übergesetzlicher Notstand und Übernahme der
Garantenschaft für das Kind
Fritz
9 Monate
Spinale Muskelatrophie zunehmende Atemstörung
mehrmals intubationspflichtig
nicht mehr von der Beatmungsmaschine zu bekommen Eltern werden über anstehende Tracheotomie und Heimbeatmung aufgeklärt
Eltern entscheiden sich dafür die Beatmung zu beenden
Fritz
“In unserer Klinik gibt es so etwas nicht”
“Verlegung in eine andere Klinik”
“Sorgerecht muss entzogen werden”
Fritz
Nach vielen Gesprächen Entscheidung zur Extubation unter medikamentöser Abschirmung im Beisein
Intensivoberärztin, Kinderkrankenschwester, Palliativmediziner
Fritz ist nach 26 Stunden ruhig und gut
symptomkontrolliert in den Armen der Eltern verstorben
Die Patientenverfügung
Ich möchte nicht an Schläuchen hängen Keine Maschinen
Keine künstliche Ernährung Keine parenterale Ernährung
Vorsicht vor Ankreuzformularen !!!!
Beispiel
88-jährige Patientin
Darm-Op mit Komplikationen
Dialyse, Beatmung, Katecholamine, Antibiotika bei Sepsis, Transfusionspflichtigkeit
Sohn wird gefragt: Patientenverfügung erfüllen
Zusammenfassung
Maßnahmen, die das Sterben verhindern sollten nicht als
Lebenserhaltung, sondern als Sterbeverhinderung bezeichnet werden Maßnahmen sind nur indiziert wenn der zu erwartende Nutzen den möglichen Schaden eindeutig übersteigt
Es gehört zu den grundsätzlichen Pflichten eines jeden Arztes seinen Patienten sterben zu lassen
Patientenverfügungen sind bindend, wenn sie brauchbar formuliert sind
Zusammenfassung
Reden, reden, immer wieder reden…..
Gewissensentscheidungen sind hochindividuelle Entscheidungen zwischen Betroffenen/Angehörigen und Behandlern
Bei Kindern übernehmen wir eine erhebliche Mitverantwortung für gravierende Entscheidungen
Eine gesunde Mischung aus Fachwissen, Demut, Bescheidenheit und
Selbstreflexion ist in meinen Augen unabdingbar, dazu gehört Erfahrung