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Archiv "‚Soviel ambulant wie möglich' ist der beste Ansatzpunkt für wirksame Kostendämpfung" (11.06.1981)

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‚Soviel ambulant wie möglich' ist der beste Ansatzpunkt

für wirksame Kostendämpfung

Ansprache des Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz, Dr. Bernhard Vogel,

bei der Kundgebung zur Eröffnung des 84. Deutschen Ärztetages

Die Kundgebung zur Eröffnung des 84. Deutschen Ärztetages am Nachmittag des 19. Mai, in deren Verlauf Bundesärztekammerprä- sident Dr. Karsten Vilmar sein Grundsatzreferat zum Thema

„Gesundheitspolitik — patientenorientiert oder kostenzentriert"

(DEUTSCHES ÄRZTEBLATT, Heft 23/1981, Seiten 1135 ff.) gehal- ten und die Paracelsus-Medaille der deutschen Ärzteschaft verlie- hen hat (Seiten 1230 bis 1234 der vorliegenden Ausgabe), brachte auch eine stark beachtete Ansprache des Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz, Dr. Bernhard Vogel. Seine Ausführungen sind nachfolgend, geringfügig gekürzt, wiedergegeben.

Die Information:

Bericht und Meinung 84. DEUTSCHER ÄRZTETAG

In einer freiheitlichen Gesellschaft ist das Verhältnis zwischen Staat und Bürger für die Verwirklichung einer freiheitlich-demokratischen Ordnung von entscheidender Be- deutung. Dieses Verhältnis muß ausgewogen und dieses Verhält- nis muß abgewogen sein. Und weil das so ist, beobachten viele mit wachsender Sorge, daß staatli- ches Handeln in den letzten Jah- ren zunehmend in den gesell- schaftlichen Raum eingedrungen ist. Mit Sorge, weil, wenn der Staat zu vieler Aufgaben sich bemäch- tigt, er seine eigene Leistungsfä- higkeit überfordert und weil der allzuständige Staat bewirkt, daß das Anspruchsverhalten der Bür- ger zwangsläufig zunimmt und der Verlust an Eigeninitiative und an Selbständigkeit des einzelnen die zwangsweise Folge ist.

Wenn das eigene Risiko abnimmt, wenn Gleichmacherei zunimmt, dann führt das am Ende zum Ver- lust an Bereitschaft zur eigenen Leistung, zur eigenen Risikobe- reitschaft und dazu, was wir aus Erfahrung und nicht aus den Bü- chern wissen: Weniger Staat ist besser als zu viel Staat, wobei we- niger Staat nicht heißt: kraftloser

Staat — sondern nach meiner Überzeugung droht gerade einem allgegenwärtigen Staat die Kraft zu fehlen, dann zu handeln, wenn staatliches Handeln unabdingbar notwendig ist. Es sind die gegen- wärtig so viel diskutierten finanz- politischen Probleme — zu hohe staatliche Ausgaben, hohe Staats- verschuldung und zu viel Kapital- import durch die öffentliche Hand

— ja nur ein Teilbereich der Gefahr, daß auch zu viel staatliche Finan- zierungszuständigkeit zu viel Staat bedeuten kann. Einer sol- chen Politik müssen wir entgegen- wirken, weil das immer weitere Vordringen des Staates zu immer stärkerem Rückgang der Bereit- schaft zur Selbständigkeit und zur Eigenverantwortung führt. Das trifft auch zu für jenen gesell- schaftspolitischen und wirt- schaftspolitischen Bereich, den wir nach 1945 uns entschlossen hatten, nach den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft zu for- men. Soziale Marktwirtschaft setzt auf die freie Entfaltung des einzel- nen, und sie schafft dazu Grundla- ge und Möglichkeit und ist zu- gleich eine Absage an jene Form von Dirigismus, unter dem die schöpferischen Kräfte in einer Ge-

sellschaft zwangsläufig verküm- mern müßten. Soziale Marktwirt- schaft sagt, daß dem Tüchtigen Mut gemacht werden muß, tüchtig zu sein, damit dem Schwachen ge- holfen werden kann. Das Beispiel

— und das wird mir in einer Bi- schofsstadt niemand verübeln — des heiligen Martin lehrt jeder- mann, daß nur der den Mantel mit einem, der keinen hat, teilen kann, der zunächst dafür gesorgt hat, daß er im Besitz eines Mantels ist.

Wir müssen unseren Mitbürgern klarmachen, daß die Leistungen des Wohlfahrtsstaates von denen, die sie empfangen wollen, finan- ziert werden müssen, und gele- gentlich habe ich den Verdacht, daß das allzu wenige beden- ken. Gerade die gegenwärtigen Schwierigkeiten — und deswegen spreche ich von ihnen nicht mit Ängstlichkeit, obwohl ich sie an- spreche — zwingen uns zum Nach- denken, und das ist ja eigentlich nichts Schlechtes. Und sie zwin- gen uns zur Wiedergewinnung größerer Selbstverantwortung ei- nes jeden. Nicht die Frage, was kann ich vom Staat noch fordern, sondern die Frage, was kann und muß ich tun, um diesem Staat, meinem Staat und unserer Gesell- schaft zum Erfolg zu verhelfen, be- stimmt das eigentliche Verhältnis zwischen Bürger und Staat.

An der Grenze der Belastbarkeit staatlicher Leistung

Für die Landesregierung, für die ich zu sprechen habe, ist eigenver- antwortliche Initiative privater und freigemeinnütziger Gruppen eine immer begrüßte, unterstützte und geförderte Grundposition. Wir sind stolz darauf, daß der Anteil freigemeinnütziger Träger in allen Bereichen des Sozial- und Ge- sundheitswesens so groß ist. Ich verweise darauf, daß mehr als 60 Prozent der Krankenhäuser in Rheinland-Pfalz sich in freige- meinnütziger Trägerschaft befin- den und daß beispielsweise dieser.

Tage eine kreisfreie Stadt sich ent- schlossen hat, die Trägerschaft ih- DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 24 vom 11. Juni 1981 1193

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Die Information:

Bericht und Meinung

Ministerpräsident Dr. Vogel: Ansprache

res Krankenhauses an einen frei- gemeinnützigen Träger abzuge- ben. Es muß nicht immer mehr kommunalisiert oder verstaatlicht werden. Es zeigt sich manchmal, daß sogar wirtschaftliche Wettbe- werbsfähigkeit besser gegeben ist, wenn der freigemeinnützige Träger eine solche Aufgabe über- nimmt. Wir brauchen auch in die- sem Bereich mehr Wettbewerb zwischen privaten und öffentli- chen Versorgungsträgern. Es ist dies eine der Voraussetzungen, daß das so viel beschworene Netz der sozialen Sicherheit den Bela- stungen der kommenden Jahre standhalten kann.

• Ich glaube, wir sind an der Gren- ze der Belastbarkeit staatlicher Leistung angekommen; aber ich sage damit nicht, daß wir an den Grenzen der Sozialpolitik ange- langt sind. Denn auch hier ist Nachdenken angebracht, ob wir nicht noch manchen helfen, die diese Hilfe gar nicht mehr brau- chen, aber manchen noch nicht, die diese Hilfe dringend notwen- dig haben. Ich füge hinzu, daß oh- ne die Veränderungen der wirt- schaftlichen Rahmenbedingun- gen wir auch an diese Grenzen gestoßen wären. Die Veränderung der wirtschaftlichen Ausgangssi- tuation hat diese Problematik nicht geschaffen, sondern hat sie nur verschärft — damit niemand meint, daß etwas Unvorhersehba- res eingetreten sei. Es hat sich be- schleunigt, aber die Ursachen lie- gen tiefer als nur darin, daß wir gegenwärtig mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hät- ten.

Zweifelsohne hat die sozial- und gesundheitspolitische Entwick- lung der letzten zehn, fünfzehn Jahre entscheidend zum Auflau- fen der Staatsverschuldung beige- tragen. Die Ursachen dieser Ver- schuldung liegen sicher nicht nur im Versäumnis, sich durch Rück- lagen auf ungünstige Entwicklun- gen vorbereitet zu haben, sondern auch im Ansatz vieler gesetzlicher Regelungen im Sozial- und Ge- sundheitsbereich. Ich verweise,

damit es nicht bei solchen allge- meinen Sätzen bleibt, beispiels- weise auf die Mißbrauchsmöglich- keiten des Arbeitsförderungsge- setzes und auf die nicht abge- stimmten Systeme von Arbeitsför- derung und Steuergesetzgebung;

es ist unerträglich, daß es Arbeit- nehmer gibt, die, wenn sie zwölf Monate im Jahr gearbeitet haben, am Ende des Jahres schlechter dastehen, als wenn sie nur acht Monate gearbeitet haben und — möglicherweise in Übereinstim- mung mit dem Arbeitgeber — die übrigen vier Monate nicht gearbei- tet haben —, wobei ich ausdrück- lich hinzufüge, daß dies nicht an- zuwenden ist auf die Millionenzahl von Arbeitslosen. Aber daß das möglich ist, ist unerträglich.

Oder ich verweise auf das Schwer- behindertengesetz aus dem Jahre 1974, das nicht nur zunehmend unbezahlbar wird, sondern das — und das ist der eigentlich ernste Punkt — vielmehr in Gefahr gerät, seine eigentliche Zielsetzung nicht mehr zu erfüllen, weil es da- zu zu kommen droht, daß schwer Behinderte verdrängt werden und die ihnen zugedachte Hilfe deswe- gen nicht erhalten, weil den wirk- lich schwer Behinderten nicht ge- nügend geholfen und Aufmerk- samkeit geschenkt wird.

Ich verweise als drittes Beispiel auf Fehlentwicklungen in der Ge- sundheitspolitik, die intensive Dis- kussion und Mut des Gesetzge- bers erfordern: Ein System, das den Patienten über das Preis-Men- gen-Verhältnis der Inanspruch- nahme von Gütern und Diensten im dunkeln läßt, das den Eindruck vermittelt, mit dem Eintrittsgeld des Krankenversicherungsbeitra- ges sei jeder beliebige Aufwand selbstverständlich möglich und abgegolten, ist auf die Dauer zum Bankrott verurteilt.

Wenn ein Kollaps unseres Ge- sundheitswesens vermieden wer- den soll, dann ist zunächst die um- fassende Information über den Preis der Inanspruchnahme unver- zichtbar. Ein darüber hinausge-

hender Schritt wäre die Frage der Selbstbeteiligung, wobei sie durchaus differenziert einsetzen könnte; die Krankenhauskosten eines chronisch Kranken müssen natürlich anders bewertet werden als die zum Teil auch von Mode- trends nicht völlig freie Inan- spruchnahme von manchen Heil- und Hilfsmitteln. Gerade in diesem Zusammenhang möchte ich einen Appell an die Solidargemeinschaft der Bürger richten. Natürlich be- kennen wir uns zur Pflicht, dem Kranken zu helfen. Aber wir be- kennen uns auch zur Pflicht, sich selbst gesund zu halten.

Bei der Betrachtung der gesund- heitspolitischen Diskussion der letzten Jahre habe ich gelegent- lich Sorge, daß zu viele am Sym- ptom herumkurieren und -laborie- ren. Die Aufmerksamkeit muß sich den wirklich entscheidenden Fra- gen der Gesundheitspolitik zu- wenden. Dazu gehört die Gefähr- dung der Balance innerhalb des Gesundheitswesens. Auch in ei- nem typischen Flächenland wie Rheinland-Pfalz gehören mittler- weile mehr Ärzte zu denen, die im Krankenhaus tätig sind, als zu de- nen in niedergelassener Praxis. Si- cher, wir wissen, daß die Fort- schritte der Medizin an Speziali- sierung gebunden sind; Speziali- sierung ist notwendigerweise per- sonalintensiv. Wir verkennen auch nicht, daß die Krankenhäuser über ihre unmittelbaren Aufgaben der Patientenversorgung hinaus der großen Zahl junger Ärzte dienen, die sich im Krankenhaus auf ihre Tätigkeit vorbereiten. Dennoch unterstreiche ich: Die entstande- nen Ungleichgewichte dürfen sich nicht weiter verschärfen. Deshalb gilt für uns: Soviel ambulante Be- handlung wie möglich, und soviel stationäre Versorgung wie nötig.

Die Verwirklichung dieses Satzes ist mittel- und langfristig nicht zu- letzt auch der beste Ansatzpunkt für jede wirksame Kostendämp- fung im Gesundheitswesen.

Das ist der Grund, warum wir jeder weiteren Öffnung der Universitäts- kliniken und der Krankenhäuser 1194 Heft 24 vom 11. Juni 1981 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Die Information:

Bericht und Meinung

che Aufgabe sicherlich am besten wahrnehmen. In diesem Zusam- menhang ist für meinen Eindruck bei der Diskussion um die Selbst- verwaltung der Ärzteschaft, um ih- re Freiräume allzu einseitig die öf- fentliche, die gesellschaftliche Funktion der Ärzteschaft betont worden. Nur aus dieser einseitigen Gewichtung heraus war der Ruf nach einer stärkeren staatlichen Einflußnahme im Gesundheitswe- sen überhaupt begründbar.

Einfühlungsvermögen und Gesprächsbereitschaft Demgegenüber möchte ich stär- ker auf die Aufgabe des Arztes hin- weisen, Lebenshilfe zu geben. Der zentrale Punkt dieser individuellen Aufgabe ist das Gespräch mit dem Patienten. Dabei ist nur am Rande zu erwähnen, daß dieser Teil der ärztlichen Tätigkeit besondere Qualifikationen für diesen Beruf voraussetzt — Qualifikationen, die nicht allein durch eine gute Abitur- note nachweisbar sind. Aber die- ser ethische Bezugspunkt ist be- sonders wichtig, denn wir wissen längst, daß Krankheit für den ein- zelnen auch ein psychologisches Problem ist und daß er deshalb sehr viel mehr noch als der gesun- de Mensch auf Einfühlungsvermö- gen, Gesprächsbereitschaft und eine partnerschaftliche, persönli- che Beziehung angewiesen ist. Es ist eben etwas anderes, ob der Arzt, der mich heute behandelt, mich auch morgen oder übermor- gen sieht oder ob morgen oder übermorgen ein anderer „Dienst hat". Und das liegt nicht an dem, der „Dienst hat", sondern es liegt an dieser persönlichen Bezie- hung.

Wir hören immer wieder Klagen darüber, daß Patienten sich immer stärker dem medizinisch-techni- schen Betrieb ausgeliefert fühlen und menschliche Zuwendung ver- missen. Die medizinische Versor- gung wird nicht selten gerade we- gen ihrer Mechanisierung und Technisierung, die gut und not- wendig ist, als eine Art Gesund- heitsbetrieb empfunden, in dem

Eröffnungsveranstaltung

Prof. Kreienberg:

Gruß an Teilnehmer und Gäste

„Wir sind dankbar, wenn viele Gäste aus dem In- und Ausland als sachverständige Zeugen un- seren Beratungen folgen und uns bestätigen können, daß wir um die ärztliche Problematik in der heutigen Zeit echt ringen und uns nichts schenken." So hatte Prof. Dr. med. Walter Krei- enberg, Präsident der gastge- benden Landesärztekammer Rheinland-Pfalz, Teilnehmer und Gäste des 84. Deutschen Ärztetages als erster Sprecher in der Eröffnungskundgebung begrüßt. Die Gästeliste war in der Tat recht umfangreich: Sie- ben Bundestagsabgeordnete, neben dem Ministerpräsiden- ten von Rheinland-Pfalz, Dr.

Bernhard Vogel und den Lan- desministern Gölter (Soziales und Gesundheit) und Wagner (Justiz), weiter Vertreter von Behörden und Verbänden, Ärz- ten aus 21 Ländern. Besonders herzlicher Beifall galt einem Gast aus Polen: Professor Zdzislaw Lewicki, dem Präsi- denten der Ärzteorganisation des Landes.

Die Themen der Ärztetage zeig- ten, sagte Professor Kreien- berg, daß sich die Ärzteschaft stets darum bemüht habe, Ga- rant einer optimalen ärztlichen Versorgung der Bevölkerung zu sein. Leider fänden Ärzte- tagsempfehlungen oft erst dann Beachtung — und damit zu spät —, wenn auch die Öffent- lichkeit ihre Verwirklichung for- dere. Kreienberg kritisierte fragwürdige Versprechungen:

„Nur Ahnungslose oder Ver- messene fordern ein Recht des einzelnen auf Gesundheit an- stelle einer Verpflichtung des einzelnen zur Gesundheit":

Ärztliche Ratschläge und Hilfe könnten nur denjenigen nütz- lich sein, die bereit seien, durch ihr Verhalten ihre Verpflichtung zur Gesundheit aktiv zu be- weisen. bt Ministerpräsident Dr. Vogel: Ansprache

im Sinne vorstationärer Diagno- stik und nachstationärer Therapie widersprechen möchten. Die in den Krankenhäusern tätigen Ärzte haben, wie sie selbst zu Recht im- mer wieder erklären, einen für die Erfüllung ihrer Aufgaben eher zu knapp bemessenen Stellenschlüs- sel. Es wäre also nicht nur unlo- gisch, sondern auch wirtschaftlich unsinnig, von den niedergelasse- nen Ärzten die Verwirklichung der Kostendämpfung des Gesund- heitswesens zu verlangen, diese Regelungen aber durch eine Aus- weitung der Ambulanzen auf der anderen Seite gleichzeitig selbst zu unterlaufen. Die Erhaltung des bewährten Systems der gesund- heitlichen Versorgung bedingt ei- ne Verbesserung der gegenseiti- gen Information, der Kooperation und der Koordination aller ärztli- chen Maßnahmen. Kooperation kann, Gott sei Dank, gesetzlich nicht erzwungen werden, sondern Kooperation ist eine Leistung aus der Freiheit des einzelnen verant- wortlich tätigen Arztes.

Es mag angesichts der großen fi- nanziellen Probleme, die wir seit einigen Jahren im Gesundheitswe- sen haben, verständlich sein, daß über Arzt und Gesundheit fast nur noch im Zusammenhang mit Ko- sten und Finanzen geredet wird.

Aber mit dieser Einseitigkeit, als ob es nur noch mit Kosten und Finanzen zusammenhinge, darf kein falsches Bild entstehen. Ich glaube, es ist an der Zeit, sich wie- der darauf zu besinnen und häufig darauf hinzuweisen, daß Medizin und Ärzteschaft innerhalb der Ge- sellschaft mehr als nur eine öko- nomische Aufgabenstellung ha- ben und einen ökonomischen Stellenwert.

Medizinische Versorgung ist trotz allem bisher Gesagten in allerer- ster Linie eine humanitäre Aufga- be. Sie ist in erster Linie darauf ausgerichtet, den Kranken wieder gesund zu machen, und das ist sehr viel mehr als nur die Wieder- herstellung seiner ökonomischen Leistungsfähigkeit. Der freiberufli- che Arzt kann diese sehr persönli-

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 24 vom 11. Juni 1981 1195

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Die Information:

Bericht und Meinung

Ministerpräsident Dr. Vogel: Ansprache

Menschlichkeit und persönliche Zuwendung zurückgehen. Daraus ergibt sich eine Aufgabe, die vom freiberuflichen Arzt wie vom Kran- kenhausarzt nur in seiner persön- lichen Verantwortung gelöst wer- den kann. Einfühlungsvermögen und Gesprächsbereitschaft lassen sich nicht durch Richtlinien ver- ordnen. Humanität kann der Arzt gegenüber dem Patienten nur praktizieren, wenn er nicht durch allzu pauschale Regelungen ein- geengt ist. Der Unterschied zwi- schen einer technisch und orga- nisatorisch optimalen medizini- schen Versorgung und der huma- nitären Aufgabe des Gesundheits- wesens liegt dort, wo die staatli- che Einflußnahme im Gesund- heitswesen Grenzen hat. Denn Hu- manität läßt sich nun mal nicht anordnen, sondern sie kann nur entstehen, wenn Eigenverantwor- tung ihren Freiraum hat.

Wirksame Krankenversorgung muß auf einer engeren Koopera- tion, insbesondere zwischen dem ambulanten und dem stationären Bereich beruhen. Nur so sind die Zwänge der Wirtschaftlichkeit in den kommenden Jahren zu bewäl- tigen. Das Notwendige bleibt dann durchführbar, wenn die Kranken- betreuung im Rahmen des Mögli- chen in der häuslichen Umgebung durchgeführt wird. Die Verantwor- tung für die Erhaltung und Wie- derherstellung der Gesundheit muß wieder stärker als bisher dort liegen, wo zuerst Hilfe gesucht wird: beim Hausarzt.

Wenn die häusliche Gemeinschaft durch die nötigen pflegerischen Maßnahmen überfordert wird, dann können beispielsweise So- zialstationen helfen und vermei- den, daß der Kranke auf seine ge- wohnte Umgebung verzichten muß. Das hat uns geleitet, als wir in diesem Land mit der Idee der Sozialstation begannen, und uns geleitet, als wir zu einer flächen- deckenden Versorgung mit So- zialstationen kamen.

Noch eine Bemerkung zur Proble- matik des Allgemeinarztes: Ich

hoffe und wünsche Ihnen, daß die- ser Ärztetag in Trier dazu beitra- gen wird, mehr junge Ärzte für die Tätigkeit des Allgemeinarztes zu gewinnen. Ohne die notwendige Spezialisierung in der Medizin ir- gendwie gering zu achten, was ich mit Sicherheit nicht tue, warten wir doch auf eine Ärztegeneration, die sich wieder stärker für eine hausärztliche Tätigkeit begeistern kann. Es ist notwendig, daß be- reits die ärztliche Ausbildung. an unseren Universitätskliniken Ge- sichtspunkte der Allgemeinmedi- zin stärker als bisher berücksich- tigt. Dem sollte dann die kollegiale Weitergabe hausärztlicher Erfah- rungen durch niedergelassene Ärzte folgen: die Weiterbildung des Allgemeinarztes bliebe unvoll- ständig, wenn sie nur im Kranken- haus vollzogen wird. Ich weiß na- türlich, wie intensiv und kontro- vers die Frage des Allgemeinarz- tes in Ihren Reihen diskutiert wird.

Es ist nicht meine Aufgabe, der Diskussion und den Ergebnissen hier in Trier vorzugreifen. Es ist Ihre Sache, darüber zu reden.

Aber unsere Landesregierung, Dr.

Gölter und ich haben in der Dis- kussion der beiden zurückliegen- den Jahre uns mit Nachdruck für die Lösung ausgesprochen, die — wie ich glaube — als einzige kurz- fristig in Gang gebracht werden kann. Vor allem Dr. Gölters Mei- nung war es stets: eine Änderung der Zulassungsordnung, um eine zweijährige Vorbereitungszeit zur Zulassung als Kassenarzt zu ver- wirklichen.

Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein solcher Weg tatsächlich an Brüssel ernsthaft scheitern könn- te; wir wissen doch, daß innerhalb der Europäischen Gemeinschaft mehrere Länder vor der eigenver- antwortlichen Niederlassung als Arzt oder für den Zugang zu be- stimmten Systemen der gesund- heitlichen Versorgung weitere Zugangsvoraussetzungen vorse- hen. Es muß also auch für uns in Deutschland der skizzierte Weg möglich sein. Eine solche Über- gangsregelung gäbe uns Gelegen-

heit, die weitreichenden Fragen der Qualifikation des Arztes mit der gebotenen Sorgfalt zu disku- tieren; Sorgfalt darf allerdings nicht heißen, daß sich die Diskus- sion über Gebühr bis in die Hälfte der 80er Jahre hinaus hinziehen darf.

Ich füge hier auch eine Bemer- kung ein zu den Prüfungsfragen, die ja bis zu den Ministerpräsiden- ten in den letzten Wochen fast alle Politiker beschäftigt haben. Für mich ging es dabei nicht nur um den Ausgang der letzten Vorprü- fung — hier mußte eine Korrektur erfolgen. Sondern für mich geht es auch darum, daß wir doch noch einmal über Art und Weise, wie gegenwärtig Vorprüfungen und Hauptprüfungen abgehalten wer- den, miteinander in die Diskussion treten, und ob das wirklich der richtige Weg ist, wie gegenwärtig Prüfungen und Hauptprüfungen abgenommen werden.

Bei allen kritischen Bemerkungen, die zu machen waren aus diesem mir willkommenen Anlaß, meine ich, unser Gesundheitswesen ha- be sich alles in allem bewährt. Es ist — den guten Willen aller Betei- ligten vorausgesetzt — flexibel ge- nug, um auch den Anforderungen der kommenden Jahrzehnte ge- recht zu werden. Die Lösung der von mir angesprochenen und vie- ler anderer Probleme liegt nicht darin, daß wir ein neues System schaffen. Wir werden das System, das unserer Gesellschaft ein Höchstmaß an individueller Frei- heit, an sozialer Sicherheit und an Wohlstand ermöglicht hat, viel- mehr mit Entschiedenheit verteidi- gen — aber wir müssen auch be- reit sein, möglichen Fehlentwick- lungen entgegenzuwirken. Wer meint, daß dieses System sich im Grunde bewährt hat, der muß mit- helfen, seine Überlegenheit unter Beweis zu stellen, seinen Fehlent- wicklungen entgegenzuwirken, um nicht denen Argumente zu lie- fern, die nicht Fehler ausmerzen wollen, sondern die Fehler brau- chen, um die Unfähigkeit des Sy- stems nachzuweisen.

1196 Heft 24 vom 11. Juni 1981 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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