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an kann dem Institut für Qua- lität und Wirtschaftlichkeit im Ge- sundheitswesen (IQWiG) nicht nachsagen, dass es Konflikten aus dem Weg geht. Schon die erste Stellung- nahme, die das Institut jetzt fertig ge- stellt hat, enthält genügend Reizpunkte, um die Fachwelt einige Zeit zu beschäf- tigen. Auf knapp 150 Seiten (www.IQWiG.de) bewertet das Institut den En- de letzten Jahres durch eine Anzeigen- kampagne des Pharmaunternehmens Pfizer öffentlich angeheizten Streit, ob es zwischen Atorvastatin und vier an- deren Statinen klinisch relevante Un- terschiede gibt. Die Antwort: „Die Überlegenheit von Atorvastatin ist nicht belegt“, sagt Prof. Dr. med. Peter Sawicki, Chef des Instituts, das im letzten Jahr als Beratungsinstanz des Gemeinsamen Bundesausschusses eta- bliert wurde.
Der Bericht sieht insgesamt sogar eher Vorteile für die Wirkstoffe Simva- statin und Pravastatin, die mittlerweile als relativ preiswerte Generika zu ha- ben sind. Auch die angeblich bessere Verträglichkeit von Atorvastatin wird vom IQWiG nicht bestätigt. Auch hier gebe es „keine Überlegenheit“, so Sa- wicki. Sawicki verbindet mit der Publi- kation eine Aufforderung an die Fach- welt, die Arbeit zu kommentieren. „Wir werden den Bericht aktualisieren, wenn es notwendig sein sollte“, sagt er. Dabei wird sicherlich auch die Vorgehenswei- se des IQWiG in die Diskussion geraten.
Das Institut hat sich international an- erkannte Regeln auferlegt, die die Ge- fahr von Fehlschlüssen verringern sol- len. Die Bewertung beginnt mit einer umfassenden Recherche der Literatur:
So wurden im letzten halben Jahr mehr als 400 wissenschaftliche Publikationen zum Thema Statine gesichtet. Der zwei-
te Schritt ist eine Bewertung aus der Sicht der Patienten: „Der Wert der Sta- tintherapie liegt nicht darin, Choleste- rin zu senken, sondern durch Vorbeu- gung von Herzinfarkten und Schlagan- fällen das Leben zu verlängern“, sagt Dr.
med. Stefan Lange (IQWiG). Deshalb ha- be man sich nur auf Studien konzentriert, die tatsächlich die Vorbeugung überprüft haben. Der dritte Schritt besteht dann darin, die Qualität jeder dieser Studien nach einem Katalog von Kriterien abzu- klopfen. So gefiltert blieben knapp 15 von 400 Publikationen übrig, auf die das IQWiG jetzt seine Bewertung stützt.
Diskrepanzen bei Auswertung der PROVE-IT-Studie entdeckt
Das überraschendste Ergebnis dabei ist, dass gerade jene Studie, die Pfizer als zentrales Argument benutzt, um den Vorteil von Atorvastatin zu belegen, durch das IQWiG-Sieb hindurchrasselte.
Im Rahmen von PROVE-IT hatten etwa 4 200 Patienten mit akutem Koronarsyn- drom entweder täglich 40 Milligramm Pravastatin oder 80 Milligramm Atorva- statin erhalten. Die Ergebnisse (NEJM 2004; 350: 1495 ff.), wonach hoch dosier- tes Atorvastatin das Risiko eines In- farkts stärker verringert als Pravastatin, hatten weltweit für Schlagzeilen gesorgt.
Das IQWiG hat bei seiner Überprü- fung jetzt aber Diskrepanzen entdeckt, die der Fachwelt bislang entgangen wa- ren. Dabei geht es um die Frage, wie vie- le Patienten die Forscher im Verlauf der zwei Jahre laufenden Studie aus den Augen verloren haben. Wenn zu viele Patienten aus einer Auswertung heraus- fallen, kann das die Ergebnisse un- brauchbar machen. Die Publikation enthält zudem widersprüchliche Zah-
lenangaben: Im Text heißt es, es seien nur acht Patienten herausgefallen, in einer Abbildung beschreiben die For- scher aber, dass sie bereits nach einem Jahr 1 035 Patienten aus der Auswer- tung genommen haben, sie liefern aber nur für 770 eine Begründung.
„Wir haben für das Fehlen der übri- gen etwa 260 Patienten keine Erklärung finden können“, sagt Dr. med. Thomas Kaiser. Schon eine Verschiebung der Zahlen um einige Dutzend Patienten könnte den Vorteil zugunsten Atorva- statins entscheidend zusammenschmel- zen lassen. Sawicki will jetzt offiziell bei den Autoren der Studie nachfragen, welche Erklärung es für die Diskrepanz gibt. Erstautor Prof. Dr. med. Christo- pher Cannon (Harvard Universität) gab auf Anfrage des DÄ nur eine aus- weichende Antwort: „Die Berechnun- gen unserer Statistiker wurden von zwei anderen Gruppen überprüft. Die Zah- len sind korrekt.“
Fest steht allerdings, dass man Pfizer keine Manipulation vorwerfen kann: Fi- nanziert wurde die Studie vom Prava- statin-Hersteller Bristol-Myers Squibb, der sich ein zumindest gleichwertiges Abschneiden des eigenen Präparats er- hofft hatte. Ein Sprecher des Unterneh- mens bestätigt die Diskrepanz, kann aber über Ursache und Auswirkungen nur spekulieren, weil nur die Autoren direkten Zugriff auf die Studiendaten haben: „Ich glaube nicht, dass es be- rechtigt ist, die Studie insgesamt infrage zu stellen“, sagt er.
Dr. med. Friedemann Schwegler, Me- dizinischer Direktor bei Pfizer, lehnt die Kritik des IQWiG völlig ab: „Offen- bar sollte das Haar in der Suppe gefun- den werden“, sagt er. Es gäbe weitere Studien, die die stärkere Wirksamkeit von Atorvastatin bestätigten: „Wir ha- ben keine Zweifel an der Richtigkeit.“
Für Pfizer könnte die Bewertung durch das IQWiG handfeste Folgen ha- ben. Das Unternehmen hatte im Febru- ar die Spitzenverbände der Kranken- kassen beim Berliner Sozialgericht ver- klagt, um den Festbetrag für Atorvasta- tin juristisch wieder auszuhebeln. Die erste mündliche Verhandlung soll es möglicherweise im November geben.
Durch das IQWiG-Gutachten sind die Chancen auf einen Sieg sicherlich nicht
gestiegen. Klaus Koch
M E D I Z I N R E P O R T
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A2444 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 102⏐⏐Heft 37⏐⏐16. September 2005