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it den Fluglinien der Vögel zieht die Angst durch Europa. Obwohl das Vogelgrippevirus H5N1 bis- lang nur für Tiere und für Menschen mit engem Kontakt zu infiziertem Geflügel gefährlich ist, ist der Neuraminidase- hemmer Oseltamivir (Tamiflu®) in den meisten Apotheken bereits ausver- kauft. Die Verunsicherung der Bevölke- rung ist groß. Selbst die Restaurants än- dern ihre Speisekarten – Gänsebraten wird es am Martinstag nur selten geben.Das zuvor nur in Asien grassierende Virus setzt seinen Zug gen Westen un- aufhaltsam fort. Nach dem europäi- schen Teil Russlands, der Türkei und Rumänien wurde H5N1 nun auch in
Kroatien nachgewiesen. Experten war- nen seit längerem vor einer neuen In- fluenzapandemie. H5N1, der aggressive Auslöser der Tierseuche, könnte theo- retisch eine solche Pandemie hervorru- fen – falls er mutiert und von Mensch zu Mensch übertragbar wird. Doch noch ist es nicht so weit. Die Bundesregie- rung mahnt deshalb zur Ruhe.
In der Tat handelt es sich bei der Vo- gelgrippe immer noch um eine Tierseu- che – allerdings mit einem gefährlichen Potenzial. Deshalb will die Regierung 20
Millionen Euro für die Entwicklung ei- nes humanen Impfstoffs bereitstellen.
Ein Prototyp soll Anfang nächsten Jahres getestet werden. Dass Zeit und Kapazi- tät ausreichen würden, um die Bevölke- rung im Pandemiefall durch die Impfung zu schützen, bezweifelt Prof. Dr. med.
Johannes Löwer, Präsident des Paul- Ehrlich-Instituts (PEI), nicht. Die beiden deutschen Impfstoffhersteller könnten innerhalb weniger Wochen ausreichend Impfdosen produzieren, erklärt er. Des- sen hätte man sich bereits im Vorfeld versichert. Momentan besteht allerdings ein Engpass an Impfstoff gegen die sai- sonale Influenza. Löwer empfiehlt des- halb gemeinsam mit dem Robert Koch- Institut (RKI), vorerst nur die besonders gefährdeten Perso- nengruppen zu impfen.
Die Angst vor der Vogelgrip- pe deckt indes als „Neben- effekt“ Defizite bei der Vorbe- reitung auf eine Influenza- pandemie auf. So haben die Länder lediglich für etwa zehn Prozent der Bevölkerung – statt wie empfohlen für 20 bis 25 Prozent – Neuraminidasehem- mer, wie Tamiflu und Zanamivir (Relenza®), bevorratet. Sowohl Bundesärztekammer als auch Kassenärztliche Bundesverei- nigung (KBV) kritisieren diese
„Sparmaßnahmen“. In einem Schreiben vom 28. Juni wies die KBV bereits auf einige Probleme hin. So geht der Natio- nale Pandemieplan des RKI zwar davon aus, dass Bevölkerungsgruppen wie me- dizinisches Personal und Personen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ord- nung antivirale Medikamente vorrangig beziehen können. Präzisiert werden die- se Angaben jedoch nicht. Nicht festge- legt ist ferner, in welcher Reihenfolge erkrankte Personen die wenigen vorhan- denen Neuraminidasehemmer erhalten
sollen. „Herrscht ein Mangel, ist es staatliche Aufgabe, den Mangel durch gesetzlich definierte Prioritäten zu ver- walten“, sagt Dr. med. Paul Rheinber- ger, KBV. In der Tat bieten weder das Leistungsrecht des SGB V noch das ärztliche Berufsrecht eine Rechtsgrund- lage, kranken Patienten die Verschrei- bung eines Medikaments zu verweigern.
In einem baldigen Pandemiefall stün- den Ärztinnen und Ärzte vor den großen ethischen Problemen einer Triage. „Auch in den Krankenhäusern könnten wir derzeit nur etwa ein Prozent der Grip- pepatienten versorgen, die meist unter pulmonalen Komplikationen leiden“, erklärt Prof. Dr. med. Dieter Köhler, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie. Dringend müssten sich die Kliniken mit Beatmungsgeräten, Masken sowie Antibiotika bevorraten.
Nicht nur an Tamiflu denken
Die Weltgesundheitsorganisation be- klagt die unzureichenden Maßnahmen gegen eine drohende Pandemie, bei der sie von weltweit 50 bis 150 Millionen Toten ausgeht. Auch die Europäische Kommission warnt: Für eine Influenza- pandemie in naher Zukunft sei Europa nicht ausreichend gewappnet. Es fehl- ten Gelder und Forschungskapazitäten zur zügigen Herstellung eines Serums sowie Medikamente.
Verlassen sollte man sich im Ernstfall aber auch nicht allein auf den Neurami- nidasehemmer Tamiflu, da bei breitem Einsatz Resistenzen auftreten können.
Ein erster Fall der Unwirksamkeit von Tamiflu gegenüber H5N1 ist beispiels- weise bereits bekannt: In der Online- Ausgabe des Wissenschaftsmagazins Nature vom 20. Oktober wird die Resi- stenz eines 14-jährigen an H5N1 er- krankten vietnamesischen Mädchens gegen Tamiflu beschrieben (Nature 437, 1108). Besonders bemerkenswert:
Bei dem Mädchen ist kein direkter Kontakt zu Geflügel bekannt. Sie pfleg- te jedoch ihren 21-jährigen Bruder, bei dem eine H5N1-Infektion nachgewie- sen worden war. Die Autoren schließen deshalb die Möglichkeit nicht aus, dass in diesem einen Fall das Virus bereits von Mensch zu Mensch übertragen wurde. Dr. med. Eva A. Richter-Kuhlmann P O L I T I K
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A2996 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 102⏐⏐Heft 44⏐⏐4. November 2005
Mögliche Influenzapandemie
Ungenügend vorbereitet
Die Ärzteschaft würde im Ernstfall vor dem ethischen Problem stehen, einigen Patienten die Therapie verweigern zu müssen.
Der Schweizer Konzern Roche kann mit der Produktion von Tamiflu nach Bestellungen aus 40 Ländern nicht nachkommen. Daher genehmigte er jetzt auf politi- schen Druck die Vergabe von Sublizenzen.
Foto:ddp