iedrige, schmale Häuschen aus Holz oder Beton drängen sich am Straßenrand. Hölzerne Zäune trennen die kleinen Vorgärten von der Fahrbahn. Am Straßenrand bietet ein fliegender Händler Süßigkeiten und Getränke feil; auf einem leeren, staubigen Platz zwischen dem Viertel und der Haupt- straße lassen Kinder ihre Drachen steigen.
Idyllisch scheint die Szenerie nur auf den ersten Blick. Beim zweiten Hinsehen bemerkt der Besucher Bretter und Sperrmüll in den Vorgär- ten, Lücken zwischen den Zaunlatten und undichte Stellen in einigen Dächern: Er befindet sich in der Armensiedlung „Villa los Heroes de la Concepción“, Anfang der 70er Jah- re durch eine illegale Landnahme im Norden Santiago de Chiles entstan- den. Hier arbeitet der deutsche Facharzt für Allgemeinmedizin und Master of Public Health, Dr. med.
Robert Hartog, als stellvertreten- der Direktor in einem Gesundheits-
zentrum der ökumenischen „Funda- ción Cristo Vive“ („Stiftung Christus lebt“).
Wer in „Villa los Heroes“ lebt, hat selten ein festes Einkommen. Die Jugendlichen schaffen es kaum, die Schule mit einer guten Ausbildung zu beenden, denn Platz und Ruhe zum Lernen gibt es nicht: Jede Familie lebt in winzigen Hütten auf wenigen Qua-
dratmetern zusammen. Die Mütter sind häufig alleinerziehend oder ha- ben Kinder von mehreren Vätern, vie- le Mädchen werden sehr jung schwan- ger. Der Konsum von Alkohol und Drogen ist hoch, Gewalt auch in der Familie ein Problem. Die Mitarbeiter des Zentrums leisten deshalb nicht nur medizinische Hilfe, sondern Le- benshilfe allgemein. Eine Sozialarbei- terin berät die Menschen und besucht
sie bei Bedarf zu Hause. Die Ärzte lei- sten „familienorientierte Therapie“:
Jeder Arzt versucht nach Möglichkeit, sämtliche Mitglieder einer Familie zu behandeln. Damit er dabei die so- zialen Verhältnisse seiner Patienten nicht aus dem Blick verliert, gibt es im Zentrum eine „soziale Akte“ zu jeder Familie. Ganz nach dem Grundsatz:
Jeder Patient ist keine unabhängige
Einzelperson, sondern immer im Zu- sammenhang mit seiner Familie zu se- hen. Das Gesundheitszentrum von
„Cristo Vive“ ist landesweit das einzi- ge, das nach diesem Modell arbeitet.
Rund 12 500 Menschen aus der 17 000-Einwohner-Siedlung und den angrenzenden Vierteln erhalten hier unentgeltlich primäre medizinische Versorgung. Monatlich kommen etwa 300 neue Patienten hinzu. 94 Perso- nen arbeiten hier, darunter 17 Ärzte, viele jedoch nur stundenweise oder in Teilzeit. Dem Gesundheitsministeri- um gegenüber hat sich das Zentrum per Vertrag verpflichtet, seinen Pati- enten bestimmte Leistungen anzubie- ten: Vorsorgeuntersuchungen, Imp- fungen, EKG, Beratungen zur Famili- enplanung und zur gesunden Er- nährung, Krankengymnastik für Pati- enten mit akuten Atemwegskrankhei- ten, Betreuung von akut und chro- nisch Kranken, die unentgeltliche Ausgabe bestimmter Medikamente sowie die zahnärztliche Behandlung von Schwangeren und Kindern unter sechs Jahren. Auf freiwilliger Basis bietet es außerdem Psychotherapie, soziale Beratung, Ultraschall sowie die Betreuung von Behinderten und Bettlägrigen; daneben ist es das einzi- ge Gesundheitszentrum Santiagos, das auch über natürliche Verhütungs- methoden informiert.
Robert Hartog kam vor knapp sechs Jahren im Auftrag des Frank- furter Centrums für internationale Migration und Entwicklung (CIM) nach Santiago, um das Gesundheits- zentrum mit aufzubauen. „Die Leute hier waren zu der Zeit medizinisch sehr schlecht versorgt. Das nächste Gesundheitszentrum war drei Kilo- A-1835 Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 30, 24. Juli 1998 (27)
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Als Arzt in einer chilenischen Armensiedlung
Das Gesundheitszentrum bietet mehr als nur Medizin
Der deutsche Allgemeinarzt Robert Hartog arbeitet seit sechs Jahren in einer Armensiedlung in Santiago de Chile.
Vormittags ist er Doktor für seine Patienten, nachmittags beschäftigt er sich mit Finanzplanung und Qualitätskontrolle.
N
Die Siedlung „Los Heroes de la Concepción“ in Santiago de Chile Fotos: Alexandra Endres
meter entfernt und vollkommen über- lastet“, sagt er. Zwar gab es damals schon eine Poliklinik, die ebenfalls von der Fundación Cristo Vive betrie- ben wurde, und diese Klinik hatte auch einen guten Ruf bei Nachbarn und Behörden. Doch sie war zu klein.
Das chilenische Gesundheitsministe- rium und die Verwaltung des Stadt- viertels, in dem die Siedlung liegt, un- terstützten deshalb den Neubau mit Geld und einem Grundstück.
Zu den häufigsten Krankheiten von „Villa los Heroes“ gehören Atemwegserkrankungen wie Asthma und Bronchitis. Das liegt am Smog Santiagos, der den Leuten besonders im Winter zu schaffen macht – mehr als Regen und Kälte. „Wenn der Grad der Luftverschmutzung steigt, steigt automatisch auch die Zahl der Kran- ken“, sagt Hartog. Viele Bewohner der Siedlung leiden zudem an „typi- schen Armutskrankheiten“ wie Para- siten oder Durchfall. Solche „Armuts-
krankheiten“ treten vor allem im Sommer auf, denn das Trinkwasser in der Siedlung ist nicht besonders sau- ber, und Kühlschränke zur Aufbe- wahrung von Nahrungsmitteln fehlen.
„Ansonsten haben wir hier die- selben Krankheiten wie in Deutsch- land; Hepatitis A und Typhus kom- men noch dazu“, erklärt Hartog. „Der Unterschied ist, daß die Leute
meist erst hierher kommen, wenn sie schwerer krank sind.“ Im Gesundheitszen- trum von „Cristo Vive“ be- handeln die Ärzte auch Kran- ke, die in Deutschland an Fachkliniken überwiesen würden: Tuberkulosekranke zum Beispiel, Patienten mit neurologischen Krankheiten und Hauterkrankungen.
Hartog selbst ist nur vor- mittags für seine Patienten da, danach beschäftigt er sich mit Verwaltungsaufgaben: Er er- arbeitet Indikatoren zur Qua- litätskontrolle, kümmert sich um die Finanzen und ent- wickelt und evaluiert be- stimmte Projekte. Eines da- von ist ein kleines Faltblatt, das die Patienten des Gesund- heitszentrums regelmäßig über dessen Arbeit, über Krankheitsrisiken oder sozia- le Gesetze informieren soll, ein anderes ein Video zum Thema „Gewalt in der Sied- lung“, das vom Gesundheits- ministerium gefördert wurde.
„Diese Kombination aus Praxis, Pla- nungsaufgaben und Projekten in mei- ner Arbeit war für mich ein Grund hierherzukommen“, erklärt Hartog.
Für die vertraglich vereinbarten Leistungen bekommt das Gesund- heitszentrum Geld von der staat- lichen Krankenversicherung: Pau- schal 625 Pesos pro eingeschriebenen Patienten sind es, umgerechnet knapp drei Mark. Die tatsächlichen Kosten pro Patient liegen jedoch fast zweieinhalbmal so hoch. Be-
stimmte fachärztliche Betreuung, et- wa durch einen Ophthalmologen, ei- nen Kardiologen und eine Rheuma- tologin, kann das Zentrum nur bie- ten, weil die Fachärzte unentgeltlich arbeiten.
Normalerweise trägt auch die Verwaltung des Stadtteils, in dem das Zentrum liegt, einen Teil der Kosten.
Doch 1997 konnte der Zuschuß wegen finanzieller Schwierigkeiten nicht aus- gezahlt werden. Das Defizit bleibt al- so; daran kann auch die freiwillige Ko- stenbeteiligung der Patienten nichts ändern. Noch gleicht die Stiftung
„Cristo Vive“ das Minus aus. „Langfri- stig müssen wir aber einen kontinuier- lichen Zuschuß der Stadtteilverwal- tung erhalten, um überleben zu kön- nen“, sagt Hartog. Alexandra Endres A-1836 (28) Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 30, 24. Juli 1998
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Krankenversicherung in Chile
Die medizinische Erstversor- gung ist für alle Chilenen unter ei- ner bestimmten Einkommensgren- ze unentgeltlich, sofern sie sich als Patient bei einem staatlichen Ge- sundheitszentrum ihrer Wahl ein- tragen lassen und sich auch dort be- handeln lassen. Das garantiert die staatliche Krankenversicherung.
Eine Behandlung bei einem von der Versicherung anerkannten nie- dergelassenen Arzt muß der Kran- ke zum Teil selbst bezahlen; die Versicherungsbeiträge betragen sieben Prozent des Einkommens.
In der Apotheke des Gesundheitszentrums gibt es die Medi- kamente der primären Versorgung kostenlos.
Die Anfänge von „Cristo Vive“
Die Siedlung „La Villa los Heroes de la Concepción“ entstand Anfang der 70er Jahre durch eine illegale Landnahme. Karoline Mayer, eine deut- sche Nonne mit Ausbildung zur Krankenschwester, war wenige Jahre zuvor von den Steyler Missionaren nach Chile geschickt worden – eigentlich, um die Leitung eines Ordenskrankenhauses zu übernehmen. Sie sah aber ihre Berufung darin, mit den Armen zu leben, und zog kurz nach der Gründung von „Los Heroes de la Concepción“ in die Siedlung. In ihrer Hütte begann sie, Kranke zu behandeln – zunächst allein, dann mit Hilfe von einigen Ärz- ten. Aus diesen Anfängen entstand die Fundación Cristo Vive mit einer klei- nen Poliklinik, die später zum Gesundheitszentrum umgebaut wurde. Heute unterhält die Stiftung neben diesem Zentrum mehrere Kindergärten sowie Ausbildungszentren für Jugendliche und Erwachsene.