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Archiv "Versuch einer Standortbestimmung: Arzt zwischen Tradition und Wertewandel" (23.10.1998)

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enerell hat der ärztliche Beruf in der Öffentlichkeit immer noch einen guten Ruf. Gleich- wohl hat das ärztliche Ansehen in den letzten Jahrzehnten im Vergleich zu früher deutlich abgenommen. Dies hat seine Ursache nur zum geringen Teil in der besseren Aufklärung der Bevölkerung über medizinische Sach- fragen und der Kritik am Gesund- heitssystem.

Hauptgrund des zunehmenden Prestigeverlustes des Arztes ist einer- seits die durch Massenausbildung von Ärzten fehlende Auslese der geeigne- ten und andererseits die zunehmende Entwicklung von Ärzten zu Heiltech- nikern und/oder zu Unternehmern und Kaufleuten im Rahmen der fort- schreitenden Technisierung und tota- len Vermarktung unseres Gesund- heitssystems. Angesichts einer sol- chen Entwicklung ist die Forderung mancher Politiker nur konsequent, das Medizinstudium auch ohne das Abitur zu ermöglichen. Die Ärzte sollten allerdings ihre tradierte Werte- ordnung nicht leichtfertig in Frage stellen, sondern sich auf das mit ihrer besonderen Berufsausübung verbun- dene Selbstverständnis besinnen.

Tradierte ärztliche Werte

Die ärztliche Kompetenz gründet sich auf folgende vier unverzichtbare und nicht austauschbare Elemente:

>Ärztliches Wissen: Das ärztliche Wissen wird im Studium und in der anschließenden Weiterbildung ver-

mittelt. Darüber hinaus sind Ärzte entsprechend ihrer Berufsordnung zu lebenslanger Fortbildung verpflichtet.

>Ärztliches Können:Obwohl die moderne Medizin auf der Naturwis- senschaft gründet und der Anwen- dung der Naturwissenschaften ihre größten Erfolge verdankt, ist die Heil- kunde weder eine rein naturwissen- schaftliche noch eine rein technische Disziplin, sondern eine auf naturwis- senschaftlicher Grundlage beruhende Erfahrungswissenschaft, die „den ganzen Menschen beschäftigt, weil sie sich mit dem ganzen Menschen be- schäftigt“ (Goethe, Dichtung und Wahrheit). Beim „Kundigen“ als schöpferische Persönlichkeit wird die Heilkunde zur „Heilkunst“, während der „Unkundige“ trotz eventuell gro- ßen Wissens nur zur „Heiltechnik“

fähig ist. Das ärztliche Können als sol- ches fordert deshalb folgende Eigen- schaften (1):

Wacher Verstand (Aufmerk- samkeit).

Sinnliche Wahrnehmung, das heißt Pflege der eigenen Sinne, Ver- trauen auf Augen, Hände, Ohren, Na- se. Gerade angesichts der zunehmen- den Technisierung der Diagnostik müssen die sorgfältige sinnliche Be- obachtung des Kranken, die Befra- gung, klinische Inspektion, Palpation, Auskultation sorgfältig gepflegt wer- den. Die „weichen Daten“ der klini- schen Untersuchung dürfen nicht durch Labor oder apparative Befunde ignoriert werden.

Klinischer Blick für das We- sentliche.

Intuitives Fühlen und Erken- nen. Diese Ebene der ganzheitlichen umfassenden Betrachtung des Kran- ken, von G. Benn als „Affekt geführ- tes Eintauchen des Denkens im Ge- genstand“ bezeichnet, ist als höchste Stufe unserer ärztlichen Kunst leider nur wenigen Ärzten zugänglich.

Sichere und rasche Entschluß- kraft im praktischen Vorgehen.

Mut zu beobachtendem Ab- warten und Zurückhalten in der Be- handlung.

Gekonnte Hierarchie und Konsequenz des therapeutischen Ein- greifens.

>Ärztliche Erfahrung:Zur Ver- breiterung und Vertiefung des ärztli- chen Wissens und Könnens gehört notwendig die ärztliche Erfahrung.

Auf der anderen Seite ist die persön- liche ärztliche Erfahrung häufig kei- ne zuverlässige Basis für ärztliche Handlungen. Jede persönliche ärztli- che Erfahrung ist subjektiv, gründet auf Traditionen, Lehrmeinungen, Autoritäten und persönlichen Erleb- nissen. Da sie nicht frei von Irrtü- mern und Vorurteilen ist, darf man sie nicht überbewerten. Die persönli- che ärztliche Erfahrung muß sich deshalb stets am aktuellen medizi- nisch-wissenschaftlichen Erkenntnis- stand orientieren („evidence based medicine“). Andererseits darf die

„evidence based medicine“ nur Leit- linie, aber nicht absolute Norm des ärztlichen Handelns sein. Jede medi- zinisch-wissenschaftliche Erkenntnis beruht auf statistisch erhobenen Da- ten und gilt nur für den Rahmen und

Im Interesse der Sicherung der ärztlichen Kompetenz ist es unverzichtbar, dem Irrtum

entgegenzutreten, daß ärztliche Fachkenntnisse allein und erfolgreich abgelegte Prüfungen allein schon die Qualität des ärztlichen Berufes garantieren. Ärztliche Kompetenz

gründet sich vielmehr auf unverzichtbare tradierte Werte.

Versuch einer Standortbestimmung

Arzt zwischen Tradition und Wertewandel

Hilko Schriewer

G

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die Bedingung, unter denen die Da- ten gewonnen wurden. Die Kunst des Arztes besteht darin, das für den ein- zelnen Patienten diagnostisch oder therapeutisch Erforderliche aus der Flut von Informationen kritisch aus- zuwählen und für den Einzelfall kri- tisch zu interpretieren.

> Ärztliches Verhalten: Richt- schnur des ärztlichen Verhaltens und der medizinischen Ethik muß das ärztliche Eintreten für das Wohl des Patienten (salus aegroti suprema lex) und der Wille sein, dem Kranken kei- nen Schaden zuzufügen (primum nil nocere). Der Kranke erwartet deshalb vom Arzt folgende Eigenschaften und folgendes Verhalten:

Humanität, das heißt Sensibi- lität, menschliche Zuwendung, Her- zensgüte, Aufgeschlossenheit, Höf- lichkeit, Freundlichkeit, Gesprächs- bereitschaft, Zuhörenkönnen.

Vertrauen auf der Basis von Gewissenhaftigkeit, Kompetenz und Verläßlichkeit, Einhaltung der Schweigepflicht.

Verantwortung für das Wohl des Kranken, aber auch für die Scho- nung und Erhaltung der Ressourcen, gepaart mit Fairneß, guter Absicht, Bewußtsein für Recht und Gerechtig- keit, Sozialempfinden.

An den Grenzen traditioneller Ethik

Durch den naturwissenschaftli- chen Fortschritt in der Medizin wer- den die Grenzen der traditionellen kodifizierten ärztlichen Ethik (Eid des Hippokrates) heute zunehmend überschritten. Die ärztliche ethische Verantwortung gerät in immer grö- ßere Konflikte zwischen Leidens- minderung und Lebensverlängerung, zwischen Patientenwohl und Patien- tenwille und zwischen dem medi- zinisch Notwendigen und dem medi- zinisch Möglichen. Beispiele sind Reanimation, Reproduktionsmedi- zin, genetische Prädispositionsdia- gnostik, Schwangerschaftsabbruch, Euthanasie, Transplantationsmedi- zin. Bei diesen Konflikten, vor allem aber bei alltäglich zu lösenden ärzt- lichen Problemen, könnten die fol- genden Prinzipien Orientierungshil- fe sein:

Ehrfurcht: vor Gott (initium sapientiae timor domini), vor der menschlichen Würde und dem menschlichen Leben; Respektierung der Selbstbestimmung des Patienten, der Natur und der Umwelt.

Redlichkeit.

Toleranz und Vorurteilslosig- keit.

Vernunft, Sinn für das rechte Maß, Mut.

Bereitschaft, Fehler zuzuge- ben und Fehler zu beseitigen.

Der einzelne Kranke – das Interesse der Gesellschaft

Laut ärztlicher Berufsordnung

„dient der Arzt der Gesundheit des einzelnen Menschen und des gesam- ten Volkes“ (2). Die ärztliche Auf- gabe ist also nicht auf den einzelnen Kranken beschränkt, sondern zum Aufgabengebiet des Arztes gehört außerdem die Mitwirkung am öffent- lichen Gesundheitswesen. Beide Auf- gaben sind nur dann konfliktfrei zu er- füllen, wenn die Freiheit des ärztli- chen Berufes garantiert und „der Arzt in erster Linie Anwalt des Kranken ist und nicht in den Dienst eines anderen tritt“ (3).

Das ärztliche Berufsbild und die Beziehung Arzt–Patient basiert auf unserer traditionell christlich-abend- ländisch geprägten personalen Auf- fassung vom Menschen. An diesem Menschenbild orientieren sich unse- re freiheitlich-demokratische Auffas- sung und die ärztliche Ethik. Die Auf- fassung von der Würde und Einzigar- tigkeit des Menschen hat jedoch seit dem Ende des letzten Jahrhunderts tiefe Erschütterungen erfahren. An- gesichts von zwei zurückliegenden un- menschlichen und sinnlosen Weltkrie- gen und unserer zunehmenden Be- drohung durch Massenvernichtungs- waffen und Umweltzerstörung erle- ben wir seit Jahrzehnten einen immer größer werdenden Verfall unserer tra- ditionellen Werte, Denk- und Glau- benssysteme. Statt unseres überliefer- ten christlich-religiösen abendländi- schen Weltbildes beeinflussen heute atheistische Weltanschauungen mit nationalistischen, sozialistischen, öko- systemischen und anderen Denkin- halten die öffentliche Meinung. In

diesen dem Zeitgeist huldigenden Weltvorstellungen steht nicht mehr der Mensch im Mittelpunkt, sondern weltfremde Ideologien und men- schenverachtende Machtinteressen.

Die unrühmliche Rolle der durch Rassenwahn und Naziideologie ver- blendeten Ärzte während der Zeit des nationalsozialistischen Unrechtsstaa- tes sollten ein abschreckendes Bei- spiel sein.

Ein weiteres weit aktuelleres Bei- spiel des Konfliktes zwischen unserer tradierten Humanitas und menschen- verachtenden Interessen ist die jüng- ste, unter dem Zwang schwindender finanzieller Ressourcen geführte Dis- kussion über die Rationalisierung und Rationierung im Gesundheitswesen.

Bei dieser stark von ökonomischer Ideologie geprägten Auseinanderset- zung ist es nicht auszuschließen, daß ärztliche Werte und das Wohl des Kranken ökonomischen Interessen geopfert werden.

Freier Beruf oder Gewerbe

Entsprechend seiner Berufsord- nung ist „der ärztliche Beruf kein Ge- werbe; er ist seiner Natur nach ein freier Beruf“ (2).

Im Zuge der zunehmenden Ver- marktung unseres Gesundheitswe- sens hat sich das ärztliche Berufsbild mehr und mehr vom Heilkundigen zum Gesundheitsunternehmer und Gesundheitsmanager gewandelt. Die Folge ist ein zunehmender Verfall der guten Sitten. (Weitere Einzelheiten siehe M. Krieg: Im Sog der Kom- merzialisierung. Deutsches Ärzteblatt 1997; 94: A-902–906 [Heft 14]).

Heilkunde – Heiltechnik

Die konsequente Entwicklung und Anwendung naturwissenschaftli- cher und technischer Methoden hat alle Bereiche der Medizin von Grund auf verändert und zu einer Entwick- lung geführt, die am Ende nicht ab- sehbar ist. Hinzu kommt die zuneh- mende Bedeutung von Informations- systemen in der Medizin. An diesen Entwicklungen ist zum Beispiel die Laboratoriumsmedizin, die Röntgen- diagnostik und die Nuklearmedizin A-2686 (34) Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 43, 23. Oktober 1998

(3)

besonders beteiligt. Der mit dieser Entwicklung verbundene Standard kann selbstverständlich nur aufrecht- erhalten werden, wenn entsprechend ausgebildete Fachleute in Naturwis- senschaft und Technik zur Verfügung stehen. Auch von Ärzten werden heu- te immer mehr Fähigkei-

ten und Kenntnisse auf allen Gebieten der Na- turwissenschaft, Technik und Informatik gefor- dert. Diese Entwicklung hat für das Verhältnis Arzt–Patient schwerwie- gende Folgen. Der Kranke sieht in den Ärz- ten mehr und mehr den

Heiltechniker und erwartet von Ärz- ten wie von seinem Automechaniker eine technische Diagnose seines Lei- dens und eine anschließende techni- sche Behebung seines Gesundheits- schadens. Da der Mensch mehr ist als eine lebende Maschine, können Ärzte diese Erwartungshaltung des Kran- ken leider nicht erfüllen. Es liegt an den Ärzten als Heilkundige, den ein- zelnen Kranken zu überzeugen, daß trotz Naturwissenschaft, Technik und Datenverarbeitung die menschliche Zuwendung durch den heilkundigen Arzt das Entscheidende zur Linde- rung seiner Leiden und zu seiner Ge- sundheit bleibt.

Gesichertes Wissen – Unsicherheit

in der Medizin

Ein Merkmal unserer abendländi- schen Tradition ist unser Glaube an die grundsätzliche wissenschaftlich ratio- nale Erklärbarkeit der Natur (Nihil tam difficile est quin quaerendo inve- stigari possit). Die spektakulären Er- folge auf allen Gebieten der Naturwis- senschaft in den letzten 200 Jahren scheinen diese Auffassung auf den er- sten Blick zu belegen. Bei genauerer Beobachtung müssen wir jedoch fest- stellen, daß sich die großen Ziele Wahrheit und Klarheit nicht zusam- men erreichen lassen (4), das heißt, mit zunehmend genauerer Analyse wer- den die Begriffe immer unschärfer und verlieren an Klarheit.

Auch für die moderne Medizin müssen wir die scheinbar paradoxe

Feststellung akzeptieren, daß trotz der stetig wachsenden Zunahme von Wis- sen die Unsicherheit in der klinischen Praxis nicht ab-, sondern zunimmt und man sich meist in „Grauzonen“ be- wegt. („Clinical medicine seems to consist of a few things we know, a few

things we think we know [but probably don’t], and lots of things we don’t know at all“) (5). Im klinischen Alltag wird jedoch die Unsicherheit in der klini- schen Praxis meist ignoriert. Hauptur- sache dieser Verdrängung ist die Ex- trapolation und Simplifizierung wis- senschaftlicher Erkenntnisse und Er- fahrungen auf den einzelnen Men- schen als „Durchschnitts- oder Norm- patienten“ und das hierauf beruhende

„Schubladendenken“ des Arztes. Den

„Durchschnitts- und Normpatienten“

gibt es nur in der Statistik.

Das Leben, insbesondere das menschliche Leben, ist als komplexes System nicht wie eine Maschine bere- chenbar und unterliegt zahlreichen in- ternen und externen Einflüssen mit grundsätzlich unvorhersehbaren Aus- gängen. Klinische Entscheidungen sind komplex und werden nicht nur von rationalen objektivierbaren Ein- flüssen wie Faktenwissen, Daten, Al- gorithmen oder Wahrscheinlichkeits- analysen bestimmt, sondern auch von subjektiven Erwägungen, Intuitionen, ethischen Gesichtspunkten et cetera.

Diese Unsicherheit in der klini- schen Praxis hat weitreichende Aus- wirkungen auf Qualität und Kosten des Gesundheitssystems. Qualitäts- grundsätze und wirtschaftliche Grün- de zwingen heute dazu, Kosten und Risiken gegen möglichen Nutzen auf dem Hintergrund der grundsätzlichen Unsicherheit der klinisch-praktischen Medizin abzuwägen. Für die ärztliche Tätigkeit hat die Berücksichtigung der medizinischen Unsicherheit im Hin- blick auf Qualität und Wirtschaftlich- keit folgende Konsequenzen:

> Die Kategorien „pathologisch“

oder „normal“ in der klinischen Dia- gnostik, insbesondere der Labordia- gnostik, müssen durch Fragen nach möglichem Informationsgewinn eines Testes ergänzt werden (pretest proba- bility – posttest probability).

> Das ärztliche

„Schubladendenken“

muß durch komplexes Denken ersetzt werden.

Es muß das Verständnis verbessert werden, daß klinische Entscheidun- gen auch auf Subjekti- vität, wie Erfahrung, Um- welt, psychologische Fak- toren et cetera beruhen.

>„Verfeinerte Diagnostik“ schafft häufig nur scheinbare Sicherheit und dient nicht selten der Absicherung des Arztes bei Verschwendung kostbarer Ressourcen.

An der Unsicherheit der klini- schen Praxis leiden nicht nur Ärzte, sondern auch die Patienten. Das Ver- trauensverhältnis Arzt–Patient wird entscheidend von der Redlichkeit des Arztes geprägt, seine Unsicherheit auch dem Patienten gegenüber zu- zugeben und nicht zu verschweigen („persistent, masked, or denied uncer- tainty is often a greater cause of patient discomfort than having to cope with knowing the worst“) (6).

> Das ärztliche Handeln muß nicht nur darauf ausgerichtet sein, den Patienten nicht zu schaden und unnöti- ge Leiden zu ersparen, sondern auch unnötige Untersuchungen zu vermei- den und risikoreiche durch weniger ri- sikoreiche Maßnahmen zu ersetzen.

> Die Bedeutung der Unsicher- heit in der klinischen Praxis muß allen Ärzten bewußt werden, damit zukünf- tig eine bessere Zusammenarbeit von Gesundheitspolitikern und Ärzten im Hinblick auf den optimalen Einsatz der begrenzten Ressourcen ermöglicht wird.

Schlußfolgerungen

> Unverzichtbare Elemente des ärztlichen Berufes sind Wissen, Kön- nen, Erfahrung und ärztliches Verhal- ten.>Verantwortungsbewußtsein und Ehrfurcht müssen die wichtigste

In einer sich immer schneller wandelnden Welt besteht die Gefahr, daß die tradierte ärztliche Werteordnung vorschnell aufgegeben

und einem wirtschaftlich orientierten und primär naturwissenschaftlich-technisch

ausgerichteten Ärztebild weicht.

(4)

Grundlage des ärztlichen Berufes sein.

„Heiliger noch als das Leben muß uns die Würde des Menschen sein“ (Ernst Jünger).

> Die Autonomie des Patienten muß bei allen ärztlichen Entscheidun- gen und Handlungen im Vordergrund stehen.

> Im Hinblick auf Qualität und Wirtschaftlichkeit ihres Handelns müssen Ärzte sich stets der grundsätz- lichen Unsicherheit der klinisch-prak- tischen Medizin und ihrer eigenen Wis- senslücken bewußt sein.

> Bei allen diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen ist Unnötiges zu vermeiden und sind risi- koreiche durch weniger risikoreiche Handlungen zu ersetzen.

> Ärzte dürfen nicht alles, was sie können. Durch die Menschenwürde vorgegebene Tabugrenzen dürfen nicht überschritten werden.

> Ärzte müssen sich darauf be- schränken, das für den Kranken Not- wendige und das bei begrenzten Finan- zen und Ressourcen Mögliche optimal zu tun.

Literatur

1. Nager F: Der heilkundige Dichter – Goethe und die Medizin. Zürich, München: Arte- mis, 1990.

2. Berufsordnung für die deutschen Ärzte, ver- abschiedet vom Deutschen Ärztetag 1993.

3. Freund S: Gutachten über die elektrische Behandlung der Kriegsneurotiker, zitiert in T. Bastian: Furchtbare Ärzte – Medizinische Verbrechen im 3. Reich. Beck’sche Reihe, 1995.

4. Fischer EP: Analysen ohne Bedeutung:

Über die Unverträglichkeit von Präzision und Signifikanz. D. G. Klin. Chemie, Mittei- lungen, 1994; 25 (6): 253–264.

5. Naylor CD: Grey zones of clinical practice:

some limits to evidence based medicine.

Lancet 1995; 345: 840–842.

6. Logan RL, Scott PJ: Uncertainty in clinical practice: implications for quality and costs of health care. Lancet 1996; 347: 595–598.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 1998; 95: A-2685–2688 [Heft 43]

Anschrift des Verfassers

Prof. Dr. med. Hilko Schriewer Kreiskrankenhaus Lüdenscheid Zentrallabor

Paulmannshöher Straße 14 58515 Lüdenscheid-Hellersen

A-2688 (36) Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 43, 23. Oktober 1998

as Gesundheits-Reformgesetz von 1988 fordert qualitätssi- chernde Maßnahmen für alle Bereiche der Medizin – somit auch für die Fachpsychotherapie. Folgerichtig gab das Sozialgesetzbuch V (§§ 135 ff.) 1989 mit Einführung der Qualitätssi- cherung den Anstoß zu verstärkten Bemühungen zunächst im statio- nären, dann aber auch im ambu- lanten Bereich, schulenübergreifend vergleichbare Strukturen einer Psy- chotherapie-Dokumentation zu ent- wickeln. Qualitätssicherung soll vor allem dem konkreten Interesse der Patienten dienen, eine zeitgemäße, wirksame und auch wirtschaftliche Behandlung zu erhalten. Vor diesem Hintergrund haben die Vorstände und die Qualitätssicherungsbeauftragten der in der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) vertre- tenen psychotherapeutischen Fachge- sellschaften gemeinsam die Psy-BaDo als Kernmodul einer Basis- und Er-

gebnisdokumentation in der Qua- litätssicherung psychotherapeutischer Fachbehandlungen erarbeitet. Die Psy-BaDo ist

Œ therapieschulenübergreifend,

 (zeit-)ökonomisch,

Ž für den ambulanten und sta- tionären Versorgungssektor praktika- bel und

 gestuft einsetzbar – je nach Fortgang der Diagnostik und des The- rapieprozesses – konzipiert.

Sie erlaubt die Diskussion von Prozeß- und Ergebnisqualität. Struk- turqualität zu sichern ist dagegen Auf- gabe der Weiterbildungsordnung.

Erhebung der wesentlichen Daten

Grundsätzlich ist sowohl der par- tielle Einsatz (zum Beispiel nur die Erhebung der Patienten- oder Thera- peutenangaben zur Diagnostik) als auch die Verwendung der gesamten Basisdokumentation jederzeit für je- de Institution oder/und fachpsycho- therapeutische Praxis möglich (Gra- fik). Die 14 Items der Patienten- Selbstauskunft zu Beginn der Diagno- stik sind so ausgewählt und in ihren Antwortalternativen so formuliert, daß sie erfahrungsgemäß zu reliablen Antworten führen. Gegebenenfalls kann eine Arzthelferin/Sekretärin die Bögen bei Abgabe auf Plausibilität gegenlesen und eventuell Hilfestel- lung geben. Der mit dem Instrument vertraute Behandler wird für diesen

*Allgemeine Ärztliche Gesellschaft für Psy- chotherapie (AÄGP), Deutsche Ärztliche Ge- sellschaft für Verhaltenstherapie (DÄVT), Deutsche Gesellschaft für Medizinische Psy- chologie (DGMP), Deutsche Gesellschaft für Psychotherapeutische Medizin (DGPM), Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psycho- therapie und Nervenheilkunde (DGPPN), Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Rehabilitation (DGPR), Deutsche Gesell- schaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psy- chosomatik und Tiefenpsychologie (DGPT), Deutsches Kollegium für Psychosomatische Medizin (DKPM), Gesellschaft für Psychoso- matik, Psychotherapie, Medizinische Psycho- logie (GPPMP), Vereinigung der Leitenden Ärzte der psychosomatisch-psychotherapeuti- schen Krankenhäuser in Deutschland

Qualitätssicherung

Psy-BaDo –

Basisdokumentation in der Psychotherapie

Gemeinsam haben zehn psychotherapeutische Fachgesellschaften* ein

Instrument zur Qualitätssicherung erarbeitet.

Gereon Heuft und Wolfgang Senf

D

(5)

Teil der Psy-BaDo in der Regel nicht mehr als fünf Minuten brauchen. Da- mit sind jedoch die wesentlichen Da- ten bei jedem neu in die ambulante oder stationäre Behandlung eintre- tenden Patienten erhoben.

Spätestens zu Behandlungsbe- ginn wird der Beeinträchtigungs- Schwere-Score (BSS) eingeschätzt, und zwar der BSS für die letzten sie- ben Tage (Punktprävalenz) sowie das letzte Jahr (im Durchschnitt). Die Global Assessment of Functioning

Scale (GAF) bildet eher die „funktio- nale Kapazität“ des Patienten ab und ist im psychiatrischen Bereich weit verbreitet. Die GAF wird für die letz- ten sieben Tage und für die „beste“

Woche (maximaler GAF) innerhalb des letzten Jahres eingeschätzt.

In einer auf Praktikabilität er- probten modifizierten Methodik des Goal Attainment Scaling (GAS) wer- den nach Installierung des Arbeits- bündnisses von Patient und Thera- peut getrennt jeweils bis zu fünf The-

rapieziele dieser konkret geplanten Behandlung formuliert. Individuelle Therapieziele, die zu Beginn des the- rapeutischen Prozesses ausgehandelt werden, sind Teil der therapeutischen Interaktion und je nach therapeuti- scher Schule mehr oder weniger expli- zit. Sie können somit als grundlegen- der Bestandteil des psychotherapeuti- schen Arbeitsvertrages angesehen werden.

Die Ergebnisdokumentation er- folgt neben der Erfassung der Dia- gnosen bei Behandlungsende und einer erneuten Einschätzung des Be- einträchtigungs-Schwere-Score und der funktionalen Fähigkeiten des Pa- tienten über die zu Behandlungsbe- ginn von Patient und Therapeut ge- trennt formulierten individuellen Therapieziele (ErgeDoku A) (Tabel- le) und eine allgemeine Verände- rungsdokumentation von Befindens- störungen und Problembereichen des Patienten (ErgeDoku B1 und Erge- Doku B2) – auch jeweils aus Patien- ten- sowie Therapeutensicht. Der Therapie-Outcome, bezogen auf die Medikation, wird bei Behandlungsen- de ebenfalls dokumentiert. Nach rund zweijährigem Routineeinsatz in einer ganzen Reihe von Institutionen unter- schiedlicher Therapieschulen wurde deutlich, daß nach Einübung durch- schnittlich jeweils zehn Minuten für diesen Dokumentationsteil genügen.

Breite empirische Evaluation

Entgegen weitverbreiteter Vor- urteile sind die psychotherapeuti- schen Verfahren der Richtlinienpsy- chotherapie deutlich breiter empi- risch evaluiert als viele andere (kost- spielige) Interventionen in der Medi- zin. Im Unterschied zu Behandlungen in der hochtechnisierten Medizin lö- sen psychotherapeutische Behand- lungen vor allem „Personalkosten“ in einem gewissen „Zeitbedarf“ aus.

Aufgrund des gesundheitspolitischen Konsenses, daß mit psychotherapeuti- schen Verfahren behandelbare Stö- rungen, wie zum Beispiel Psycho- neurosen, funktionelle und psycho- somatische Störungen, somatoforme Störungen, psychogene Schmerzstö- rungen, Coping-Probleme, psychoge- Struktur der Psy-BaDo

Diagnostik Therapiebeginn Therapieende

Soziodemographische Daten 佥 Patienten-Selbstauskunft 佥 Therapeuten-Angaben

bei Diagnostik/Behand- lungsbeginn 佥

Diagnosen Beeinträchtigungs- Schwere des Patienten [BSS]

Global Assessment of Functioning Scale [GAF]

(5.) Diagnosen Therapieende Beeinträchtigungs-Schwere Therapieende[BSS]

Global Assessment of Functioning Scale Therapieende [GAF]

ErgeDoku A – Therapeut ErgeDoku A –

Patient Festlegung von Indi- viduellen Therapiezielen für diese Behandlung

ErgeDoku A – Therapeut ErgeDoku A –

Patient

Erreichen der Individuellen Therapieziele mit dieser Behandlung

ErgeDoku B2 Therapeut ErgeDoku B2

Patient Veränderungsmessung:

Problembereiche, Pharmakotherapie.

Arbeitsfähigkeit, Gesamtbeurteilung dieserBehandlung ErgeDoku B1

Therapeut ErgeDoku B1

Patient Definition der für diese Behandlung relevanten Problembereiche, Planung der Pharmakotherapie, Therapiemotivation des Patienten

Grafik

(6)

ne Eßstörungen oder Persönlichkeits- störungen, zu Lasten der Solidarge- meinschaft behandelt werden, besteht gegenüber dem einzelnen Patienten und den Kostenträgern die Verpflich- tung, die Behandlungsindikationen wirtschaftlich und sachgerecht zu er- stellen.

Berufsgruppengestützte Qualitätssicherung

Nachdem in der somatischen Me- dizin bei den Sonderentgelten und Fallpauschalen die Probleme der Da- tenqualität bei einer externen Qua- litätskontrolledurch die Kostenträger offensichtlich geworden sind, haben die oben genannten Fachgesellschaf- ten das Konzept einer berufsgruppen- gestützten Qualitätssicherung ent- wickelt. Die Sicherung der Prozeß- und Ergebnisqualität durch ein exter- nes, jedoch fachspezifisches Qua- litätsmanagement im Rahmen von Qualitätszirkeln niedergelassener Kolleginnen und Kollegen, Behand- lerteams bei speziellen Störungsbil- dern (etwa Patienten mit psychoge- nem Schmerz) oder Qualitätszirkeln von Leitern verschiedener Kliniken hat – übernimmt man die Erfahrun- gen aus der Industrie – eine wesentli- che höhere Motivationskraft im Hin- blick auf die selbstkritische, therapie-

schulenübergreifende Diskussion ge- rade schwieriger Behandlungsverläu- fe als Kontrollen. Kontrollen dienen nicht primär der Qualitätssicherung, sondern führen tendenziell zu einer Verschanzungsmentalität. Die Ak- zeptanz notwendiger Bemühungen um Qualitätssicherung wird nur dann hoch sein, wenn Interesse geweckt und einem möglichen Mißbrauch un- ter dem Label „Qualitätssicherung“

da, wo eigentlich Ressourcen-Alloka- tion gemeint ist, vorgebeugt wird.

Als Prozeßvariable wird die „Do- sis“ fachpsychotherapeutischer Inter- ventionen erhoben: im ambulanten Bereich über die Abrechnungsziffern, im stationären Bereich über eine Dokumentation entlang der Klassi- fikation therapeutischer Leistungen (KTL).

In der Diskussion mit den Ko- stenträgern wird allen Beteiligten zu- nehmend bewußter, daß unter dem

Gesichtspunkt einer qualitätsgesi- cherten Psychotherapie diese Dosis nicht beliebig herabgesetzt werden kann. Genauso wie es der definierten Dosis eines Antibiotikums oder eines Antidepressivums zur nachhaltigen Wirksamkeit bedarf, benötigt zum Beispiel ein Teil der Patienten eine stationäre Psychotherapie, die – stö- rungsspezifisch – jedoch ausreichend lang sein muß. Die „optimale“ Dosis ist durch die konsequente Zielorien- tierung, zu der Patient und Behandler befragt werden, jenseits aller Ideolo- gie, von welcher Seite auch immer, empirisch evaluierbar.**

Etablierung von Treuhänder-Systemen

Die erhobenen qualitativen Da- ten sind ausschließlich dann als valide einzustufen, wenn sie für die externe, jedoch berufsgruppengestützte Qua- litätssicherung, etwa im Rahmen von kollegialen Intervisionsgruppen, ge- nutzt werden. Dazu bedarf es der Eta- blierung von Treuhänder-Systemen durch die Fachgesellschaften. Beim Versuch, diese qualitativen Daten für eine externeQualitätskontrolle (etwa durch Kostenträger) mißbräuchlich zu nutzen, würde sich ein großer Vor- teil dieses sich selbst schützenden Qualitätssicherungssystems zeigen:

Unter externem Kontrolldruck gehen die Instrumente und damit die Daten- qualität „kaputt“. Daher werden auch in Zukunft die wissenschaftlichen Fachgesellschaften die Träger qua- litätssichernder Maßnahmen bleiben (müssen).

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 1998; 95: A-2685–2688 [Heft 43]

Literatur bei den Autoren

Anschrift der Verfasser

Priv.-Doz. Dr. med. Gereon Heuft Univ.-Prof. Dr. med. Wolfgang Senf Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik

Universitätsklinikum Essen Virchowstraße 174

45147 Essen A-2692 (40) Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 43, 23. Oktober 1998

Tabelle

ErgeDoku A – Evaluierung des Behandlungsergebnisses über Individuelle Therapieziele

Qualitative Erfolgsmessung – Therapieziele (Therapeut) Qualitative Erfolgsmessung – Therapieziele (Patient)

Bis zu maximal 5 Therapieziele, bezogen auf dieseBehandlung Therapieziel:

Bitte formulieren Sie 1–3 Kriterien (Beispiele), an denen Sie die Zielerreichung überprüfen möchten.

[5stufiges Rating nach Therapieende]

**Die Psy-BaDo wurde zwischenzeitlich allen Mitgliedern der genannten Fachgesellschaften unentgeltlich zur Verfügung gestellt. Im Juli 1998 liegt im Thieme-Verlag das von den Fach- gesellschaften autorisierte ausführliche Ma- nual einschließlich des Kategoriensystemes In- dividuelles Therapieziel (KITZ) vor, um mög- lichst vielen Kolleginnen und Kollegen den Aufbau einer eigenen Basisdokumentation zu erleichtern. Zusätzlich wird über die Fachge- sellschaften eine Diskettenversion der Erhe- bungsbögen zum Selbstkostenpreis sowie eine CD-Version mit Datenverwaltungsfunktionen zu beziehen sein.

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